Ägypten vor (mehr als) 100 Jahren
"Briefe aus Ägypten 19051908"
Teil 1 Nr. 10/83, pp. 2325 Vor 78 Jahren begann Pierre Teilhard de Chardin, der spätere große französische Philosoph und Naturwissenschaftler (18811955), seine dreijährige Tätigkeit als Lehrer der Jesuitenschule in Kairo. Seine an seine Eltern geschriebenen einfühlsamen Briefe geben uns ein spontanes, lebendiges Bild von Kairo und Umgebung in der damaligen Zeit. Im folgenden um einige familiäre Passagen gekürzten Brief schildert Teilhard seine Wanderungen in den nahen westlichen und östlichen Wüsteneien Kairos und Gisehs, wobei Flora und Fauna wegen seiner naturwissenschaftlichen Interessen breiten Raum einnehmen. Die deutsche Übersetzung der Briefe wurde 1965 im Verlag K.Alber, Freiburg/Brsg., veröffentlicht.
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Teil 2 Nr. 11/83, pp. 3133 Der zuvor (in Papyrus 10/83) abgedruckte Brief entstand nicht lang nach Teilhards Ankunft in Ägypten. Als er den (folgenden) Brief am 1. November 1906 schrieb, war er schon über ein Jahr als Physik-Lehrer am Jesuiten-Kolleg in Kairo.
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Teil 3 Nr. 4/85, pp. 3, 58 Nicht erst heute ist das Fayoum ein Anziehungspunkt. Auch frühere Ägyptenreisende unternahmen gerne einen Abstecher dorthin und ihre Beschreibungen sind auch für uns noch von Interesse.
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Ägypten um die Jahrhundertwende aus der Sicht von Zeitgenossen
Teil 1 Nr. 1112/97, pp. 1218
Der also schrieb war der 22jährige Schweizer Carl Bircher, der soeben mit seinem Vater Andreas Bircher, einem in Kairo lebenden Kaufmann, zum ersten Mal als Erwachsener nach Ägypten gekommen war, nachdem er, sowie seine Geschwister, ihre Jugend gesundheits- und studienhalber in ihrem nordschweizerischen Heimatstädtchen Aarau verbracht hatten. Kurz zuvor hatte Carl bei der Banque Pury & Co. eine Handelslehre absolviert. Seinem großen Wunsch, nach England zu gehen, hatte der Vater nicht entsprochen, sondern ihn gleich nach den in der Schweiz bei seiner Familie verbrachten Sommerferien in sein eigenes Geschäft aufgenommen. Den oben zitierten Briefzeilen geht eine begeisterte Reisebeschreibung voran. Von Aarau bis Mailand hatte die seit sieben Jahren eröffnete Gotthardbahn "nur" dreizehn Stunden gebraucht. Achtzehn Jahre früher hatte Carl dieselbe Strecke in umgekehrter Richtung zurückgelegt, und zwar mit seiner Mutter und dem an einer schweren Ophthalmie erkrankten Brüderchen. Es war mitten im Winter, und sie hatten die beschwerliche Fahrt mit der Postkutsche gemacht, der durch den Schweizer Maler Keller so eindrucksvoll verewigten "Gotthardpost". Die Briefe, von denen ich Auszüge gebe, stammen aus einem alten Kopierbuch. Wie durch ein Wunder sind die 350 Seiten im Laufe der Jahrzehnte nicht durch aufräumende Hände zerstört worden. Es ist ein Genuß, die musterhafte deutsche und lateinische Schrift des jungen Mannes zu lesen, sofern die Kopiertinte nicht entweder zu schwach und vergilbt oder allzu schwarz und klecksig ist, so daß das hauchdünne Papier den schwungvollen Buchstaben entlang zerfressen wurde und in ein verworrenes Spitzenwerk zerfiel. Einem anderen Freund schrieb Carl:
Bulaq, später ein Stadtviertel von Kairo, war damals noch ein Dorf und wichtiger Flußhafen, in welchem Nilbarken und Dampfschiffe mit ihren Waren aus Unter- und Oberägypten sowie aus dem Sudan anlegten. Zwischen Bulaq und dem Europäerviertel in der Gegend des Opernplatzes erstreckten sich noch teilweise Felder und Sümpfe.
Das Haus, das Andreas und Carl Bircher bewohnten, war ein alter Mamelucken-Palast aus dem 14. Jahrhundert. Es gehörte dem Waqf (einer islamischen religiösen Stiftung) und war infolgedessen unverkäuflich. Lange Zeit stand es unter Denkmalschutz, mußte aber leider mitsamt dem ganzen malerischen Stadtviertel in der Mitte des 20. Jahrhunderts einer neuen trostlosen Straßentrasse weichen. Es lag in der jetzt verschwundenen "Schareh Bein el-Surein" (die "Straße zwischen den beiden Mauern"). Selbst die Mauern des Hofes waren mit Stalaktiten-Ornamenten verziert und prachtvolle Arabesken bedeckten die Wände des Salamlik, d.h. der Männergemächer, die als Büroräume dienten. Die Erkergitter (Muschrabien) des Haramlik (Frauengemächer) bestanden aus feinster Drechslerarbeit, und der eingetiefte kleine Springbrunnen war mit anmutigen bunten Marmorfliesen verziert. Beim Anblick der breiten Fensterbänke dachte man an die zahllosen Haremsdamen, die sie während mehr als 600 Jahren als Ruhebett benutzt und, in Kissen gebettet, dem bunten Treiben der Straße zugeschaut hatten. Es schien als ob in diesem Hause in der engen Straße "zwischen den Mauern" die Zeit ein wenig stillgestanden wäre. Noch ein Vierteljahrhundert später, als der arme Carl schon längst nicht mehr unter den Lebenden weilte, fühlte es sich da an wie in einem orientalischen Märchen. Noch ritten stolze Beduinen auf ihren herrlichen Pferden oder auf schneeweißen Mehari-Kamelen vorbei und es gab noch Koranleser und Märchenerzähler mit riesigen Turbanen, vermummte tiefverschleierte Frauen, in schwarze Seide gekleidet und von Eunuchen begleitet, sowie ein Heer von Straßenverkäufern, die ihre Waren in melodischen Sprüchen anboten: Wasserverkäufer mit ihren prallen Ziegenschläuchen und der Mann mit dem dunkeln schäumenden Süßholz-Rosinen- oder Orangenblütensaft, der roten gestreiften Schürze und den fröhlich klingenden Messingtellerchen, die er mit der linken Hand unermüdlich gegeneinander schlug. ... Da waren auch die Wägelchen der Garküchen mit ihren bunten Glasscheiben und duftenden gebratenen Fischen oder Fleischklößen, Karren mit Kokos- und Erdnüssen, Linsen, Jujuben, süßen Kartoffeln, die Eselwagen mit violetten Eierfrüchten, rotem Pfeffer, rosigen Blutorangen, goldgelben Kichererbsen und grasgrünen Gurken. Jeder pries seine Ware, die Käufer feilschten, Peitschen knallten, die Kutscher riefen den Passanten zu, die Esel schrieen und stahlen einander den saftigen Klee, und in einer Ecke blähte ein Kamelhengst unter lautem Gurgeln seine riesige Zunge. Trat ein Augenblick der Stille ein, so hörte man das Klappern der Holzsohlen auf Dachterrassen und Treppen oder das Aufschlagen der Würfel des beliebten Tric-Trac-Spieles im nahen Café, dessen übrige Klienten in stiller Zufriedenheit ihre Wasserpfeifen rauchten. Manchmal drang, vom Winde getragen, die Stimme des Muezzins in die bunte Symphonie des Alltags. Und wenn dann die Kohl-umrandeten Augen der verborgenen Zuschauerin sich schlossen, vom Schauen müde, und über die warmen Mittagsstunden die Klänge verstummten, dann waren es nur noch Düfte, Dämpfe und Gerüche, die da hinaufstiegen von irgendwoher: Weihrauch, Rosenwasser, gefüllter Jasmin, Orangenblüten, heißes Hammelfett, Knoblauch, Melonen und Zwiebeln, Zibeth oder Gewürze, die jemand im Messingtiegel verrieb oder verstampfte. (Folgendes, als Teil 2, in gekürzter Form, auch in Nr. 11/86, pp. 4749; Anm. KFN)
Einem seiner Neuenburger Freunde schreibt Carl:
Die große Überschwemmung des Nils brachte damals eine uns unbekannte Welle von feuchter Hitze, bis dann beim Fallen der Gewässer ziemlich plötzlich der Winter hereinbrach. So schreibt Carl seinem Freund Sement:
Seinen Kollegen vom Handelsverein in Neuenburg (Neuchâtel) schreibt Carl Anfang Dezember:
Da "André" und "Charles" Bircher, wie sehr viele Schweizer, durch ihre Ausbildung zweisprachig waren, fühlten sie sich in einem französisch orientierten Milieu heimisch, das übrigens, wie wir noch merken werden, alles andere als englischfreundlich war.
Wie die meisten jungen Leute sah Carl die hohe künstlerische Leistung solcher Puppenvorführungen nicht. Am 17. Januar 1890 schreibt er einem anderen Freund:
Es ist interessant, Carls Bemerkung, daß es in Ägypten noch viele Sklaven gebe, mit folgendem Satz im kleinen illustrierten, 1892 anläßlich der Einweihung des neuen luxuriösen "Shepheard's Hotel" herausgegebenen Reiseführers zu vergleichen, der unter der Rubrik "Sklavenmarkt" folgendes aussagt: "Die noch viel verbreitete Meinung, daß in Ägypten offener Sklavenhandel betrieben wird, ist absolut falsch." Um so umfangreicher gestaltete sich wahrscheinlich der klandestine Handel.
Vertraulichere Briefe schreibt (manchmal in Geheimschrift) Carl seinem 19jährigen Bruder Alfred:
Wie sorgfältig wurde diese Korrespondenz geführt! Wie gepflegt und schwungvoll die Schrift, wie höflich und liebenswürdig der Text! Es war nicht leicht, neue Kunden zu finden, und die Werbung hatte noch jene menschliche Note, die uns im Zeitalter der Großbetriebe abhanden gekommen ist. Carl fährt weiter:
Die Photographie war Carls größte Leidenschaft, und die Versuche und Experimente, die er seinem Bruder mitteilte, würden wohl einen kleinen Beitrag zur Geschichte der Anfänge dieser Kunst liefern können. In einem Brief an die Diezsche Hofbuchdruckerei in Coburg fragt er an, ob diese Firma ihm die Vertretung der Spezialität von Visitenkarten mit Photographie anvertrauen würde. Eine Anzahl prachtvoller großformatiger ägyptischer und schweizerischer Landschaften und Straßenszenen sind von seinem kurzen Erdendasein übriggeblieben. Momentaufnahmen konnte man leider noch nicht machen, sonst hätte Carl gewiß auch damals die reichhaltige Vogelwelt des Niltals photographiert anstatt sie, wie wir sehen werden, nur zu erlegen. Zahlreiche Briefe beziehen sich auf das ebenfalls mit großem Eifer betriebene Briefmarkengeschäft. Carl scheint sich einer großen Kundschaft erfreut zu haben und besaß seinen eigenen Katalog. Mit seinem Bruder, der ein emsiger Sammler ist, steht er in lebhaftem Tauschverkehr. Sehr beliebt scheinen damals die sogenannten "Couvert-Ausschnitte" gewesen zu sein.
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Teil 2 Nr. 12/98, pp. 2633 (Folgendes, als Teil 3, in gekürzter Form, auch in Nr. 12/86, pp. 6365; Anm. KFN)
Folgende Beschreibung ist für Carls Freund Otto bestimmt:
Seinem Freund Mutz aus Neuenburg schrieb Carl am 25. November:
In den folgenden Zeilen beschreibt Carl einen "Zikr" (Übung) der sogenannten "tanzenden Derwische", die sich auf diese Weise in einen Erregungszustand bringen. Die Seele der Verzückten gilt dann als mehr oder weniger mit Gott vereint.
Ebenfalls vom November 1889 datiert folgende Beschreibung von einem anderen sehr wichtigen islamischen Fest: die Rückkehr der Mekkapilger und des heiligen Teppichs oder der heiligen Fahne (Kisueh). Die Kisueh war ein aus acht Stücken zusammengesetzter schwarzer Brokat mit aus Goldfäden gestickten heiligen Texten. Sie wurde in einem pyramidenförmigen Baldachin, dem Mahmal (ein Symbol königlicher Würde) nach Mekka gebracht. Auch das Zusammensetzen der verschiedenen Teile der Kisueh, sowie der Aufbruch der Pilgerkarawane im Beisein des Khediven waren Anlässe großer Festlichkeiten. Viele Reisende haben diese Feierlichkeiten beschrieben, doch hat jede Epoche ihre eigenen Varianten.
(Folgendes, als Teil 4, in gekürzter Form, auch in Nr. 1/87, pp. 5256; Anm. KFN)
Schon am 21. Oktober schrieb Carl einem Freund:
Näheres erfahren wir aus einem langen Brief vom 15. Februar 1890 an Carls Bruder Alfred.
Ob Carl wohl an die alten Ägypter dachte, für die das Fleisch dieser Tiere ein Leckerbissen war, die sich Hyänen als Haustiere hielten und sie sogar nudelten, wie es auf verschiedenen herrlichen Reliefs in der Mastaba des Mereruka in Sakkara dargestellt ist?
Keiner von den dreien, weder Andreas Bircher, noch der Schreiber des obigen Briefes, noch dessen Empfänger, der junge Alfred, ahnten damals, daß letzterer schon vier Jahre später diese Fabrik leiten würden. Und zwar so vorzüglich, daß er 1894 vom Khediven Abbas anläßlich einer Ausstellung ägyptischer Industrieprodukte in Alexandrien eine goldene Medaille für seine Backsteine empfing oder daß er im folgenden Jahrhundert in El-Uedy (das Areal wurde später dem Distrikt von Saff zugeteilt) eine berühmte Sammlung exotischer Bäume anlegen würde, deren Erzeugnisse ihm viele Auszeichnungen bringen sollten, sowie daß er schließlich, nach langen Jahren harter Arbeit und unzähliger Schwierigkeiten, das ganze Areal in einen einzigartigen, fast sieben Hektare umfassenden Garten verwandeln würde. (Anm. 3) Aber einstweilen besuchte Alfred noch das Gymnasium, wo er sich sein Vater hätte es nicht anders toleriert gute Noten holte. Noch standen ihm der Militärdienst (den er als Pontonnier absolvierte) und die obligate Banklehre bevor, denn auch für diesen zweiten, vielseitig begabten Sohn hatte Andreas Bircher kein Universitätsstudium vorgesehen.
Wer war dieser gebieterische, scheinbar unnahbare Mann, der jahraus, jahrein täglich seine 1015 Stunden am Stehpult verbrachte, hart für seine Mitarbeiter und unbarmherzig gegen sich selbst? Wann und wieso war er nach Ägypten gekommen? Seit wann lebte er in seinem alten Palast? Die Vorfahren des Andreas Bircher stammten aus dem Bauernstand einer anmutigen waldreichen Gegend am Fuße des Aargauer Juras in der Nordschweiz. Aber ihn und seinen Bruder zog es schon früh in die Ferne. Während letzterer sich in der "Goldecke" von Westaustralien niederließ, reiste Andreas im Jahre 1862 nach Ägypten, dem verheißungsvollen Lande, das seit mehr als einem halben Jahrhundert wieder in den Brennpunkt der Geschichte gerückt war. Vom "Kranken Mann am Bosporus" hatte es sich schon damals teilweise gelöst, und jetzt sorgten die Nachfolger von Mohammed Ali dafür, daß durch Gelehrte und Techniker (vorläufig meistens französische) das Land wiederum auf eine Entwicklungsstufe gebracht werde, die seiner wunderbaren, durch die Entzifferung der Hieroglyphen zu neuem Leben erwachten Vergangenheit würdig war. Ein prachtvolles Arbeitsfeld für einen unternehmungsfreudigen jungen Kaufmann, der zudem noch, wie Andreas Bircher, einen offenen Geist für alle Bereiche des Wissens besaß. Obwohl er mit leeren Taschen in Alexandrien angekommen war, hatte der junge Mann schon drei Jahre später, als 25jähriger, sein eigenes Export-Import-Geschäft gegründet. Leider sind keine brieflichen Mitteilungen aus jener Zeit mehr vorhanden. Auf einer großen, von einem armenischen Photographen ausgeführten Aufnahme die damals noch neue Kunst des Porträtphotographieren war in Kairo schon seit jeher in den Händen der Armenier sehen wir ihn auf einer mit prachtvollen Kletterkakteen bewachsenen Terrasse, seiner jungen, schönen Frau aus einem Buche vorlesend. Wir wissen nur, daß er schon früh aus seinem kaufmännischen Rahmen herausgewachsen und, wie wir sehen werden, eine nicht unwichtige Rolle in der Entwicklung der ausländischen und vor allem der schweizerischen Kolonien in Ägypten spielen sollte. Andererseits gehört die Zeitspanne, aus der Carls Briefe stammen, zum schwierigsten Teil der Laufbahn dieses eminenten und vielseitigen Geschäftsmannes. Darum erscheint uns das aus der Korrespondenz seines Sohnes hervorgehende Bild recht unvollständig. Nach des Tages Arbeit meldeten sich damals nicht oft Gäste, sondern all die Probleme, Bilanzen und Schreibereien, für die man tagsüber keine Zeit gefunden hatte; und auf die sauren Wochen folgten keine frohen Feste. Der Wegfall des Sudans als Handelspartner, die Schwierigkeiten mit dem Personal, die Gegenschläge in seiner Filiale in Port-Said und die Problematik von El-Uedy lasteten schwer auf den Schultern des Geschäftsinhabers. Es ist gut möglich, daß sich Andreas Bircher unter den 1.000 geladenen Gästen des Khediven Ismail befand, als der Kanal 1869 mit unbeschreiblichem Prunk eröffnet wurde. Der Monarch legte großes Gewicht darauf, sich mit allen hervorragenden Europäern zu umgeben, die damals in Ägypten weilten. Durch seine sich unermüdlich für alles Wissenswerte einsetzende Persönlichkeit, seine vielfältigen Interessen und sein florierendes Geschäft hatte sich Andreas Bircher schon damals einen Namen in den ausländischen Kreisen Kairos gemacht. Unter seinen Freunden befanden sich der deutsche Botaniker Sickenberger und der baltische Forscher Georg Schweinfurth, der schon 1868 erstmals nach Ägypten kam. Mit letzterem und einigen andern Persönlichkeiten zusammen gründete Andreas Bircher ein paar Jahre später die "Societé Khédiviale de Géographie", die schon sehr bald ein Treffpunkt aller sich in Ägypten befindenden Afrika-Forscher und -Kenner wurde und später mit einem der Initiative Schweinfurths zu verdankenden kleinen ethnographischen Museum versehen werden sollte. Schon im ersten Jahr seines Bestehens befanden sich mehrere Schweizer unter den Mitgliedern, worunter verschiedene Kaufleute. Zu Stanley hatte Andreas Bircher eine persönliche Beziehung, und er hat wahrscheinlich auch Emin, Baker, Gordon und Gessi gekannt. Abgesehen von den verschiedenen schweizerischen Paläontologen wie Meyer-Eymar, de Loriol, Theophil Studer und P.S. de la Harpe, die im letzten Jahrhundert Ägypten besuchten, verkehrte in seinem Haus vor allem der außerordentlich vielseitige und unermüdliche Schweizer Pionier Werner Munzinger, dessen Portrait eine Gabe von Andreas Bircher jetzt in einem der Säle der Geographischen Gesellschaft hängt. Nachdem Munzinger in Kairo seine linguistischen Studien vervollständigt hatte, leitete er für eine Handelsfirma in Alexandrien eine Expedition nach Djedda und Massaua, wo er sich später für Forschungszwecke niederließ. 1871 ernannte ihn Ismail zum Gouverneur von Ost-Sudan, wo er sich als hervorragender Administrator auswies. Sein erster Schritt galt der Befreiung zahlreicher Gefangener, die ohne bekannten Grund schon jahrelang in den Gefängnissen saßen. Später arbeitete er eine neue Gesetzgebung für das Steuerwesen aus und erschuf eine ertragreiche Landwirtschaft, indem er der Baumwollkultur in der Gegend von Tokat seine ganze Aufmerksamkeit schenkte und zugleich auch energisch gegen den Sklavenhandel ankämpfte. Er wurde, erst 45jährig , von einem abessinischen Krieger getötet, und mit ihm ging leider auch sein zivilisatorisches Werk, für das er sich mit außerordentlichem Können und größter Selbstlosigkeit eingesetzt hatte, wieder zugrunde. Ein weiterer, sich gänzlich für die Abschaffung des Sklaventums einsetzender Schweizer jener Zeit war Gottfried Roth. Um in den Sudan zu gelangen, wird er vorerst Französischlehrer an der amerikanischen Missionsschule von Assiut. Als er eines Tages eine große Karawane mit Elfenbein, Gummi arabicum, Straußenfedern und Sklaven antrifft, zögert er nicht, sofort nach Kairo zu reisen, um dem Khediven den von Ismail unterschriebenen Vertrag ins Gedächtnis zurückzurufen. Mit einer Truppe von 200 ägyptischen Soldaten werden die Händler gefangen genommen und es gelingt Roth, die Sklaven zu befreien. Von dieser Zeit an ist er unermüdlich auf den Spuren der Sklavenjäger. In Darfur trifft er mit Slatin Pascha zusammen und stirbt dann im ersten Jahr des Mahdi Aufstandes mit 29 Jahren am Fieber. Ein Mitglied der "Societé Khédiviale de Géographie" und Freund von Andreas Bircher war auch Alfred Kayser, den wir 1884 im alten vizeköniglichen Laboratorium finden. Er veröffentlichte damals ornithologische, botanische und zoologische Beobachtungen, wie z. B. Berichte über die Zugvögel des Niltals, sammelte Fossilien für die Paläontologen Meyer-Eymar in Zürich und Frauscher in Marburg, begleitete verschiedenen Zoologen in die Wüste und organisierte seine erste Sinai-Expedition, der bereits 1890 eine zweite folgte, während welcher seine Frau an Cholera starb. Er verbrachte mehrere Jahre in Tor im Süd-Sinai, wo er eine wissenschaftliche Station gründen wollte, und stellte ethnographische und botanische Sammlungen zusammen. Auch nach Erythräa organisierte Alfred Kayser Expeditionen und bereiste Kamerun und Südafrika. Nachdem er während des ersten Weltkrieges den Posten eines schweizerischen Handelsagenten in Alexandrien bekleidet hatte, unternahm er mit seiner zweiten Frau eine letzte Reise in den Sinai, wo er sich 1½ Jahre unter den Beduinen aufhielt. Leider starb er, bevor er sein Lebenswerk, eine in 10 Manuskript-Heften niedergeschriebene Monographie über die sinaitische Wüste, veröffentlichen konnte. Andreas Bircher war zeitlebens und besonders in seiner zweiten Lebenshälfte ein großer Kenner und eifriger Sammler von altägyptischen, römischen und nebenbei auch von koptischen und altarabischen Antiquitäten. Schließlich wurde nach der Jahrhundertwende seine Sammlung, die unter Kennern Weltruf bekam, so umfangreich, daß das an sein Haus angebaute, dem koptischen Patriarchat gehörende Gebäude gemietet und ein Durchgang geschaffen wurde. Es ist sehr wahrscheinlich, daß sein Interesse an Altertümern von seinen Freunden aus Archäologenkreisen stark gefördert wurde, vor allem von den berühmten Franzosen Maspero und Mariette und von den Schweizern Edouard Naville und van Berchem. Naville arbeitete für den "Egyptian Exploration Fund" und grub in der Metropolis von Theben die zwei hervorragendsten Bauten aus der 18. Dynastie aus: den großen Tempel der Königin Hatschepsut und den Tempel ihres Gatten und Ko-Regenten Thutmosis III. mit seinem berühmten, der Göttin Hathor geweihtem Heiligtum. Zwölf Jahre lang dauerten die Grabungen und wurden durch ein prachtvolles illustriertes Werk in sechs Folio-Bänden gekrönt. Eine der früheren großen Veröffentlichungen Navilles war dem ägyptischen Totenbuch gewidmet, dessen thebanische Rezension er in Hieroglyphenschrift herausgab. Ein Zeitgenosse von Naville war der Genfer van Berchem, ein weltberühmter Orientalist, dessen Hauptwerk es sein sollte, die systematische Abschrift und Erläuterung der arabischen Inschriften als Basis für eine Erforschung der historischen Entwicklung islamischer Völker zu unternehmen. Er und seine Mitarbeiter setzten sich die Aufgabe, alle Monumente von Marokko bis nach Arabien, Persien und dem Turkestan zu photographieren und zu beschreiben, seien es Paläste, Moscheen, Schulen oder Brunnen. Das Studium dieser Inschriften erlauben uns (in den von J.R. Fiechter zitierten Worten van Berchems) zu begreifen, wie diese von den arabischen Eroberern gegründeten theokratischen Staaten organisiert waren, denn sozusagen alle Inschriften beziehen sich ausschließlich auf die zwei großen, allumfassenden Begriffe des islamischen Geistes: die göttliche Macht und die absolute Herrschaft des Khalifen als Delegierter von Allah durch göttliches Recht, sowie der zeitlichen Herrscher als Delegierte des Khalifen. Diese Potentaten sind die einzigen Handhaber des politischen, administrativen und militärischen Räderwerks, sie allein beherrschen Religion und Justiz, die Sitten und die Gedanken bis in die Privatsphäre hinein. Dieser Gemeinschaftsgeist des Islam ist allen privaten oder öffentlichen Verbänden abhold. Darum findet man in islamischen Ländern weder die ausgeprägten sozialen Klassen noch die Gemeinden, Kooperationen, Syndikate und anderen Körperschaften, die in unseren Ländern schon früh kleine Widerstandszentren zwischen dem Souverän und seinen Untertanen darstellten und die Folgen einer zu absoluten Herrschaft dämpften, indem sie unter den Massen des Volkes das Bedürfnis nach Freiheit aufrecht erhielten. Ein solcher Mangel an persönlicher Initiative bewirkte, daß der Moslem alles von Allah erwartet, und spiegelt sich in den Inschriften mehr als irgendwo anders. Van Berchem kannte und liebte das alte Kairo wie kaum ein anderer und hatte sich durch seinen Takt und sein Verständnis in allen Kreisen der Stadt Freundschaften gesichert. Dies waren einige der bedeutenden Männer, mit denen Andreas Bircher in jenen frühen Jahren zusammenkam, insofern seine langen und harten Arbeitstage es ihm erlaubten.
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Teil 3 Nr. 34/1998, pp. 3039
Es waren wichtige Jahre für die Entwicklung Ägyptens. Schon unter Mohamed Alis Sohn Said wurden die meisten großen Bahnlinien gebaut und, als 1863 Ismail (der Sohn von Mohamed Alis Adoptivsohn Ibrahim) die Regierung übernahm, war trotz des Widerstands Englands, das für seine Einflußsphäre im Orient fürchtete der Bau des Suezkanals durch den französischen Ingenieur Ferdinand de Lesseps, mit teilweise französischem Kapital, bereits bewilligt worden. Ismail bot zwangsweise 25.000 dürftigst bezahlte Arbeiter auf, die sich alle drei Monate ablösen sollten. 1867 hatte sich Ismail von der Pforte den Titel "Khedive" (Vizekönig) zubilligen lassen, sowie eine auf dem Erstgeburtsrecht beruhende neue Thronfolgeordnung und andere wichtige Prärogativen, die ihm unter beträchtlichen Geldopfern zugestanden wurden. Aber schon damals schrak Ismail vor keiner noch so erdrückenden Schuldenlast zurück. Das Vierteljahrhundert seit dem Ende der sechziger Jahre war so reich an für die Zukunft Afrikas entscheidenden Ereignissen und an außerordentlichen Persönlichkeiten wie kaum je eine andere Periode der Weltgeschichte. Das Innere eines unermeßlichen Kontinents wurde in diesem kurzen Zeitabschnitt der Welt bekannt gemacht und zwar durch den unglaublichen Wagemut und den eisernen Willen einiger genialer Männer. Ihnen allen gemeinsam war der Wunsch, die Quellen des Nils zu entdecken, des stolzesten Flusses der Erde, jenes märchenhafte Mondgebirge und jenen großen geheimnisvollen See im Herzen Afrikas, den mittelalterliche Reisende bereits erwähnen. Auch hofften sie irgendwie eine Lösung zu finden, um den grausamen Sklavenhandel einzudämmen und schließlich gänzlich abzuschaffen. In seiner meisterhaften Schilderung dieser Entdeckungsreisen, "The White Nile", dem später "The Blue Nile" folgen sollte, schildert Alan Moorehead (Anm. 4) nicht nur die politischen Aspekte jener Zeit, sondern gibt uns auch ein mit tiefer Einfühlung gezeichnetes Charakterbild der außergewöhnlichen Persönlichkeiten der großen Forscher und der oft fast unüberwindbaren Schwierigkeiten, gegen die sie anzukämpfen hatten. Und auch er stellt sich die Frage: Wie wären die Fußreisen von jenen frühen Pionieren, von Burton, Grant, Speke und auch von Livingstone, Baker und Stanley überhaupt möglich gewesen ohne die Mithilfe gerade der oft allmächtigen einheimischen oder arabischen Sklavenhändler? Sie allein kannten die Pfade durch Steppe und Urwald, die Flüsse und Stromschnellen, die Negerstämme und die Dialekte, die Existenzmöglichkeiten in einer wilden, unbekannten Welt mit tausend Gefahren. Und doch ist es diesen Forschern zu verdanken, daß trotz aller Widerstände am Ende des Jahrhunderts die letzten Sklavenschiffe verschwunden waren. Der wichtigste erste Schritt war der Vertrag, den Kirk (der englische Generalkonsul von Sansibar) 1875 von König Barghasch unterschreiben ließ. Barghasch hatte nämlich sozusagen das Monopol für den Verkauf und den Abtransport der Sklaven. Ihm gehörte jener riesige Sklavenmarkt von Sansibar, auf dem schon seit Jahrhunderten die im Innern wie Tiere erjagten Schwarzen unter namenlosen Leiden und Demütigungen zusammengepfercht auf ihre Käufer warten mußten. Unter der Bedingung, daß diese Stätte des Elends für immer geschlossen würde, garantierten die Engländer die Integrität des kleinen Königreiches. Und da Barghasch diese Garantie nötig hatte, gab es für ihn keine andere Wahl, als den Kontrakt zu unterschreiben. Zwar ging der Handel mit Sklaven klandestin noch jahrelang weiter, so wie auch der Schmuggel über den Indischen Ozean, und im Innern Afrikas dauerte die Sklavenjagd noch Jahrzehnte (oft gehörten Elfenbein- und Sklavenjäger zu derselben Karawane), aber es darf nicht vergessen werden, daß damals die mächtige Pranke des Britischen Löwen gefürchtet war und daß es in England noch eine kräftige öffentliche Meinung gab. Wenn man Ende der achtziger Jahre in Kairo noch viele Sklaven sah, so war deren Zahl doch ständig im Abnehmen, obschon es den vermöglicheren Türken und Ägyptern schwer fallen mußte, keinen Nachschub für die vielen Bedienten zu finden, die man sich früher so billig und einfach erstehen konnte, ganz abgesehen von den zahllosen Konkubinen. Empfindlich traf es den Khediven Ismail, in den siebziger Jahren auf diese wichtigen Quellen des Einkommens aus dem Sudan zu verzichten, aber ohne die Gunst der Westmächte, denen gegenüber er sich immer tiefer verschuldete, gab es für ihn kein Weiterbestehen. Der Suezkanal war für seine Aktionäre ein glänzendes Geschäft. Als sich aber der ruhmgierige, unersättlich pracht- und prunkliebende Herrscher am Ende seiner Mittel sah er hatte sich inzwischen ein Fünftel alles bebaubaren Landes für seinen Privatbedarf angeeignet, einen vortrefflich funktionierenden Post- und Telegraphendienst einrichten und neue Bahnen bauen lassen, ein neues Justizwesen eingeführt, Industrien gegründet und danach getrachtet, die Grenzen des Sudans mit der Hilfe von Baker und später von Gordon bis nach Buganda zu erweitern verkaufte er seine eigenen 4.000.000 Kanal-Aktien dem englischen Staat, so daß Ägypten fortan nur noch wenig Gelder aus dieser Quelle zuflossen. Ende 1875 belief sich die ägyptische Staatsschuld auf 100.000.000 Pfund - eine hoffnungslose Lage. Dazu kamen die unerfreulichen Zustände im Sudan, der seit seiner Eroberung durch Mohamed Ali riesige Summen verschlungen hatte. Im Süden war der ganze, seinerzeit von Baker aufgestellte Regierungsapparat zusammengebrochen. 1874 ersuchte der Khedive Ismail Gordon, sich nach Äquatoria zu begeben. Gordon erklärte sich bereit, diesen exponierten Posten anzutreten und händigte der englischen Armee, in der er bis dahin gedient hatte, seine Demission ein. Er setzte die geldgierige Beamtenschaft Kairos in Erstaunen, indem er anstatt der ihm angebotenen, dem Jahresgehalt von Baker entsprechenden 10.000 Pfund, deren nur 2.000 für seine persönliche Besoldung annahm. Unter großen Gefahren und Entbehrungen wurde der ganze obere Nillauf kartiert und in Äquatoria den Raubzügen ein Ende gemacht. Als sich Gordon nach zweieinhalb Jahren erschöpft nach England zurückzog, wurde ihm nur eine kurze Ruhepause gegönnt. Ismail rief ihn zurück. In Äquatoria war zwar Ordnung eingetreten, aber in den nördlichen Provinzen Sudans waren die Zustände unhaltbar geworden. Überall herrschte Korruption, Bestechung und Chaos und allein von den Provinzen Bahr-el-Ghazal, Kordofan und Darfur wurden, nach Gessi, zwischen 1860 und 1876 durch 5.000 Sklavenhändler hunderttausende von Frauen und Kindern nach Ägypten und der Türkei verkauft. Auch diesmal ließ Gordon sich von Ismail für eine fast übermenschliche Aufgabe gewinnen und wiederum wies er einen beträchtlichen Teil des angebotenen Gehaltes zurück. Er wurde mit allen Vollmachten eines Generalgouverneurs für den ganzen Sudan eingesetzt, und er schaffte Wunder. Die Bauern wurden von vielen erdrückenden Steuern befreit, so daß sich die Landwirtschaft erholen konnte. Dann beseitigte Gordon die ärgsten Machtmißbräuche, indem er viele ägyptische Offiziere und Beamte nach Kairo zurücksandte. Der Handel blühte auf und bald bekam Khartum das Gepräge einer florierenden Stadt. Gordon war unermüdlich. Am Arbeitstisch in seinem Palast verbrachte er verhältnismäßig wenig Zeit. Während Wochen und Monaten ritt er auf seinen Kamelen durch das riesige, von wasserlosen Wüsten eingesäumte Land. Er war nicht nur für seine Disziplin und Strenge, sondern auch für seine absolute Gerechtigkeit und Herzensgüte bekannt. Jeder durchreisende Fremde durfte auf seine Hilfe zählen. Unter ihm wurde der Italiener Gessi Gouverneur von Bahr-el-Ghazal, während der Österreicher Rudolf von Slatin und der deutsche Arzt Eduard Schnitzer (Emin Pascha) die Gouverneur-Posten von Äquatoria und Darfur übernahmen. Obwohl der Khedive Ismail auf das Drängen der Mächte seine enormen Ländereien dem Staat zurückgegeben hatte und schließlich einen englischen (Wilson) und einen französischen Berater (Blignières) in sein Kabinett hatte aufnehmen müssen, stand es sehr schlimm mit der Staatsschuld von Ägypten. Ein Komitee war eingesetzt worden, um Mittel und Wege zu finden, den Gläubigern die fälligen 7% Zinsen zu beschaffen. Zu diesem Gremium gehörten Sir Evelyn Baring (später Lord Cromer), der mächtige englische Generalkonsul, sowie Ferdinand de Lesseps, und der Khedive bat seinen Freund Gordon, auf dessen Prestige und Loyalität er zählen konnte, das Präsidium zu übernehmen. Es war klar, daß man den gänzlich verelendeten und unter ihren Steuerlasten erdrückten Fellachen keine neuen Taxen auferlegen konnte. In Gordon's Sicht wäre die einzige Lösung ein befristeter Verzicht auf die Zinsen der nächsten Monate gewesen. Aber die Gläubiger bestanden auf ihren Rechten. Hierauf entließ Ismail alle seine europäischen Berater und regierte einige Monate in einsamer Pracht allein. Als kein anderer Weg mehr offen stand, richteten sich Baring und die Gläubiger direkt an die Pforte. Ismail wurde nach Konstantinopel zurückgerufen und mußte zu Gunsten seines Sohnes Taufiq abdanken. Noch im selben Jahr (1879) reichte Gordon seine Demission ein. Dies war das Zeitgeschehen kurz vor den großen und tragischen Ereignissen der achtziger Jahre. Inzwischen nahm der Bedarf an Rohstoffen im industrialisierten Europa von Jahr zu Jahr zu und der Handel mit dem Sudan gewann immer mehr an Wichtigkeit. (Folgendes, als Teil 5, in gekürzter Form, auch in Nr. 2/87, pp. 6973; Anm. KFN)
Die von Andreas Bircher exportierten Produkte aus dem Sudan waren im Welthandel hoch kodiert. Gummi arabicum eine harte weißliche bis rötliche Ausscheidung aus der Rinde verschiedener Akazien war nebst Elfenbein einer der wichtigsten Ausfuhrartikel aus dem oberen Sudan. In einem 1892 erschienenen Buch schildert Sir Francis Wingate (Anm. 5), nach Pater Ohrwalder die sorgfältig bebauten Akazien-Gärten von Kordofan. Noch mehr als zum Zukleben der Hunderttausende von Briefumschlägen, welche die täglich beförderten Postsäcke Europas füllten, brauchte man Gummi arabicum zum Appretieren, glänzend Machen und Walken von Stoffen, und ebenfalls für die Herstellung der so gefälligen Tarbusche vergangener Zeiten. Die Gummiperlen wurden auch für Hustenmittel und andere Medikamente, sowie für Tinten und Wichsen verwendet. Senes Thee die kleinen, zugespitzten Blätter und flachen Schötchen einer Leguminosen-Art, Cassia acutifolia war im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein beliebtes Abführmittel. Zahlreiche Arbeiterinnen waren in den Werkstätten von Andreas Bircher mit dem Sortieren und Verpacken dieses geschätzten Sudan-Produktes beschäftigt. Auch die Zibeth- oder Schleichkatze kommt aus Afrika (es gibt auch eine indische Art, die aber kleiner ist). Zibeth ist die fettige Substanz, die von einer über dem Darmausgang liegenden Drüse des Tieres ausgeschieden wird und wegen seines ungemein durchdringenden und haftenden Geruchs in der Parfümerie gebraucht wurde, indem es, wie Moschus, als Basis für die Herstellung besonders im Orient beliebter Riechstoffe diente. Die afrikanische Schleichkatze hat ein graues Fell mit schwarzen Streifen und ist etwa so groß wie ein Fuchs. Nach dem Erlegen der Tiere wurden die Drüsensäcke an Ort und Stelle herausgeschnitten, verpackt und nach Kairo transportiert. Die Mengen von Wachs, die noch im letzten und zu Anfang des jetzigen Jahrhunderts in Europa verarbeitet wurden, waren enorm, und die eigene Produktion absolut unzulänglich. Brutto-Wachs aus dem Sudan und vor allem auch aus Abessinien war deshalb begehrt. Man bedenke nur, wie belangreich damals noch das bescheidene Kerzenlicht war, sowie die unzähligen Salben, Pflaster, Appreturen, an die Schuhwichsen und verschiedenen Bodenwichsen für den Unterhalt der schönen honigfarbenen Treppen und Parkette europäischer Heimwesen. Der Bedarf an Elfenbein kostete jährlich unzähligen afrikanischen Elephanten das Leben. Zu Zehntausenden wurden diese stolzen Tiere in Kordofan und Bahr el-Ghazal abgeschlachtet. Auch Rhinozerosse und Nilpferde lieferten Elfenbein: die Zähne der letzteren wurden insbesondere für Zahnprothesen verwendet. Aus Elephanten-Elfenbein aber machte man weißverkleidete Klaviertasten und Billardkugeln, auf die man in Europa nicht hätte verzichten wollen. Etwas weniger grausam wirkte sich die Mode der Straußenfedern aus. Die Nachfrage nach diesem Zierat war sehr groß. Wie zart und anmutig schmiegten sich doch die seidenglänzenden Federn an den feinen Filz breitrandiger Damenhüte oder wogten in kühnen Federbüschen auf den Helmen hoher Offiziere und auf den Zweispitzen der Gesandten! Ob Andreas Bircher unter dem Namen Wolle auch die feine leichte Kamelschurwolle exportierte, von der der Sudan so große Quantitäten aus den zahlreichen Kamelzüchtereien produzierte? Es ist auch wahrscheinlich, daß er zeitweise Sesam und Erdnüsse zwei weitere wichtige Sudan-Produkte exportierte, während sein Kaffee nicht nur aus Abessinien, sondern auch über das Rote Meer von Sana'a aus Arabien kam. Wir wissen, daß er (wahrscheinlich in den neunziger Jahren) eine Reise nach Aden machte, um Ersatzprodukte für die im Sudan blockierten Güter zu finden. Nach oft wochenlangem Transport auf den schweren, unendlich genügsamen Lastkamelen wurden die Waren in große Holzbarken verschifft, um dann, je nach Windverhältnissen mit vollen oder gerafften Segeln unter mehrmaligem Umsteigen Tausende von Kilometern den breiten Strom hinabzugleiten. Endlich wurden sie dann im Hafen von Bulaq ausgeladen und in die verschiedenen Magazine verteilt, gewogen, verlesen, gereinigt, gesiebt und schließlich sachgemäß seefestverpackt und mit der Firmenmarke versehen. Fast täglich ritt oder fuhr Andreas Bircher zu seinen Warenlagern, Magazinen und Werkstätten, entweder hoch zu Roß oder in seiner zweispännigen Kutsche auf dem gelben Lederpolster zurücklehnend, eine hochgewachsene, gebieterische Erscheinung, die überall ehrfurchtsvoll begrüßt wurde. Bald fand er sich dann mitten im Hafenbetrieb, wo sich Lastenträger, Esel, Kamele und Waren aller Gattungen vor den Schiffen in unentwirrbaren Knäueln zusammenballten und sich der weiche sudanesische und oberägyptische Akzent mit der harten unterägyptischen Aussprache vermischte und die kraftvollen, bildreichen Ausdrücke der Schiffsleute, Kameltreiber und Wagenführer ohrenbetäubend durcheinander tönten, indem ein jeder versuchte, nicht nur die Stimmstärke seines Gesprächspartners, sondern auch noch den allgemeinen Spektakel zu überbieten.
An den Eröffnungsfeierlichkeiten des Suezkanals nahm auch eine kleine Delegation aus der Schweiz teil. Sie bestand aus Persönlichkeiten aus Industrie- und Handelskreisen (worunter zwei Nationalräte), die die Eidgenossenschaft auch an einem internationalen Handelskongreß vertreten sollten. In "Cent ans de Vie Suisse au Caire" - einem Buch (Anm. 6), dem wir viele in diesem Kapitel erwähnte Einzelheiten verdanken, erzählt der Autor, wie diese erste offizielle eidgenössische Kommission den Umweg über Konstantinopel machte und von Sultan Abdel Asis freundlichst empfangen wurde. Der österreichische Kapitän erlaubte ihr sogar auf seinem Schiff neben der österreichischen auch die schweizer Flagge zu hissen, und bei der Einfahrt ins Goldene Horn flogen auch noch die Fahnen von Genf und Zürich. Für die übrige Reise mietete die Delegation ein englisches Küstenschiff, und bei der Einfahrt in den Hafen von Alexandrien hing das Schweizer Banner am Hauptmast und darunter die Wimpel der 22 Kantone, während eine Salve von 22 Schüssen von den beiden kleinen Bordkanonen abgegeben wurde! Die Herren wurden bereits im Hafen als Gäste des Vizekönigs empfangen. Zum Andenken schenkten sie dann der Schweizer Kolonie von Kairo 500 Franken als Grundkapital für eine Hilfskasse. Die Zinsen dieses Betrages sollten für den Beistand notleidender Schweizer gebraucht werden, wobei allerdings vorgesehen war, daß in gewissen Fällen kleine Beiträge an bedürftige Landsleute ausgeliehen werden könnten, sofern die Garantie bestünde, daß sie die betreffende Summe mit Zinsen zurückbezahlen würden. Hierauf wurde der schweizerische Hilfsverein gegründet, der für das spätere Gedeihen der Kolonie eine so wichtige Rolle spielen sollte und dessen erster Präsident Andreas Bircher war. Es schrieb auch die Statuten, die dann in seiner Vaterstadt Aarau gedruckt wurden. 1881 war das Kapital bereits auf 12.000 Franken gestiegen und es wurde beschlossen, mit den protestantischen Mitgliedern der deutschen, amerikanischen und englischen Kolonien zusammen ein Spital zu errichten, dessen Leitung die Diakonissinnen von Kaiserswerth übernehmen sollten. Ein Komitee mit zwei Mitgliedern aus jeder der vier Kolonien wurde gegründet und ein Betrag von 10.000 Franken vom Hilfsverein genehmigt. Der Khedive schenkte das Land, auf dem das (schon längst nationalisierte) Krankenhaus noch heute steht. Schon im ersten Jahr nach seiner Eröffnung wurden in der Polyklinik des neuen "Viktoria-Spitals", dem auch eine Polyklinik für Augenkranke angegliedert war, über 2.000 Bedürftige gepflegt, eine Zahl, die sich bald auf einen Jahresdurchschnitt von 70.000 steigern sollte. Die spätere Gründung eines schweizerischen Friedhofes, auf dem durch eine seltsame Wendung des Schicksals Andreas Bircher 1925 als Erster seine Ruhestätte fand, sowie einer viele Jahrzehnte lang florierenden Schweizer Schule, entsprangen ebenfalls der Initiative des Hilfsvereins. Noch in drei anderen Richtungen betätigte sich der Unermüdliche für das Wohl seiner Landsleute. 1867, als diese sich aus etwa 30 Personen zusammensetzte, wurde der erste Schweizer Verein gegründet. Sein erster Präsident war J.A.Kienast, ein Kaufmann, dessen Firma auch die Rolle einer Handelsbank übernommen hatte, zu einer Zeit, als das Bankwesen in unserem modernen Sinn in Ägypten noch unbekannt war und sämtliche Geldtransaktionen von den verschiedenen kaufmännischen Unternehmen durchgeführt wurden. Andreas Bircher war der erste Sekretär des neuen Vereins, in dessen bescheidenem Lokal in der Muski 1869 die eben erwähnte erste Schweizer Delegation von ihren Landsleuten empfangen und der Hilfsverein gegründet worden war. Für den jungen Verein stifteten die Schweizer Frauen ein schönes Banner, das damals bei gemeinsamen Sonntagsausflügen fröhlich an der Spitze der Eselskarawane flatterte, welche die Mitglieder in die Wüste hinaustrug. Als der Verein 1879 aus unbekannten Gründen zu bestehen aufhörte, verwahrte Andreas Bircher das kostbare Wahrzeichen jahrelang in seinem Hause. Erst 1894 wurde auf seine Anregung eine vorbereitende Kommission für die Gründung eines neuen Schweizer Vereins ins Leben gerufen. Aktien im Werte von einem Pfund wurden für den Ankauf von Möbeln herausgegeben, Statuten aufgestellt und schweizerische Zeitungen bestellt. Mit wieviel Begeisterung hätte da der junge Carl mitgemacht! Andreas Bircher blieb elf Jahre lang Präsident, und als er sich 1905 zurückzog, wurde er unter großem Beifall zum Honorarpräsidenten ernannt. Es war eine wohlverdiente Ehrung. Als 1900 ein neues Lokal gefunden werden mußte, fusionierte der Verein mit dem schweizerisch-internationalen Kegelklub, der ein schmuckes Chalet an der späteren Shareh Malika Nazli (heute Ramsis) besaß. Fünf Jahre später verlangte aber das Ministerium für öffentliche Arbeiten das Land zurück. Was tun? Andreas Bircher und Ernest Cramer, der zwischen 1883 und 1911 ununterbrochen dem Hilfsverein präsidierte, gelang es, die ägyptischen Autoritäten soweit umzustimmen, daß dem Schweizer Verein ein schönes neues Grundstück neben dem alten angeboten wurde. Auch erklärte sich das Ministerium großzügigerweise bereit, die neue Umfriedung sowie alle durch den Umzug verursachten Unkosten zu bezahlen, und zwar in Verbindung mit einer zwanzigjährigen Konzession! Andreas Bircher war seit 1869 auch ein Mitglied des Komitees der Internationalen Handelskammer. Dank seiner großen Kompetenz wurde er Jahr für Jahr als Richter am Handelsgericht ernannt. Als dann später (1875) der Khedive Ismail die sogenannten Reform- oder Gemischten Gerichte gründete und dabei, wie er sagte, eine neue Ära in der Entwicklungsgeschichte seines Landes hereinbrach, übernahm Andreas Bircher die Pflichten eines beisitzenden Richters am großen Gemischten Gericht in Ataba-el-Khadra. Dreißig Jahre lang versah er diesen Posten, dessen Arbeiten ihn besonders interessierten, konnte er doch dabei seinen eigenen Landsleuten von großem Nutzen sein. Leider zwang ihn im Alter eine progressive Schwerhörigkeit, sich von dieser schönen Aufgabe zu trennen, aber sein Haus stand weiterhin jedem Ratsuchenden offen. Wie aber verhielt es sich mit diesen Gemischten Gerichten, deren größter Förderer Ismails Außenminister Nubar gewesen war? Bis zu deren Gründung hatten im Ägyptischen Gerichtswesen chaotische Zustände geherrscht. Aus diesem Grunde ließen sich die vier Kapitularmächte (Anm. 7) England, Deutschland, die Vereinigten Staaten und Frankreich von der Pforte einen besondere Erlaß zur Erleichterung ihrer Handelsbeziehungen geben. Diesem Status zufolge wurde ihnen das Privileg eingeräumt, ihre Staatsbürger nicht nach ägyptischem Gesetz richten lassen zu müssen, sondern ausschließlich nach dem vom betreffenden Konsulargericht vertretenem eigenen Recht. Die Angehörigen dieser Nationen waren also einzig und allein den Gesetzen ihres Heimatlandes unterstellt, sofern dieses ein eigenes Konsulat in Ägypten besaß. Während aber bis 1875 alle Uneinigkeiten und Konflikte unter Ausländern durch die Konsulargerichte geschlichtet wurden, übernahm nun das Gemischte Gericht sämtliche Streitigkeiten zwischen Fremden und Ägyptern, indem nur noch strafrechtliche Fragen, sowie Zivil- und Familienangelegenheiten unter der Kompetenz der Konsulate verblieben. Mehrere hervorragende schweizerische Richter spielten auf dem Gemischten Gericht eine wichtige Rolle, obwohl nach den internationalen Verträgen die Schweiz nicht verpflichtet gewesen wäre, daselbst vertreten zu sein. Nun besaß aber die Schweiz zur Zeit des Khediven Ismail und noch für viele weitere Jahre kein eigenes Konsulat, obschon bereits 1864 und dann wieder 1869 die Mitglieder der Kolonie der Eidgenossenschaft Petitionen vorgelegt hatten, um eine offizielle Vertretung ihrer nationalen Interessen genehmigt zu bekommen. Die Schweiz und Rumänien waren die einzigen Länder, deren Bürger in Ägypten sich dem Schutz anderer Konsulate unterstellen mußten. Die meisten Schweizer ließen ihre Interessen durch das französische Konsulat wahren, so daß sie also im Falle von Delikten, etc., nicht nach schweizer Recht, sondern nach dem französischen Gesetz richtbar waren, was immerhin eine gewisse Demütigung bedeutete. Indessen schien das größte Hindernis in der Errichtung einer eigenen diplomatischen Vertretung nicht die Gewährung der nötigen Kredite gewesen zu sein, sondern die Schwierigkeiten in den Verhandlungen mit der Pforte, von der Ägypten immer noch bis zu einem gewissen Grade abhängig war. 1907 unterzeichneten Andreas Bircher sowie weitere in Ägypten etablierte Schweizer Kaufleute wiederum ein Schreiben an die eidgenössischen Behörden, worin sie diese baten, einen Berufskonsul mit diplomatischen Vollmachten nach Kairo und eine konsulare Vertretung nach Alexandrien zu senden. Aber die Verhandlungen zogen sich bis nach dem ersten Weltkrieg hinaus. Indessen erreichte Ägypten die volle Unabhängigkeit, sowohl von der Pforte (1914) wie auch von England (1922). Der junge Staat, in dem nun ein ganzes Netz von eigenen Gerichten aufgebaut wurde, empfand die weitere Gegenwart von fremden Richtern im Gemischten Gericht immer mehr als Erniedrigung. Obschon 1926 das 50. Jubiläum des Gemischten Gerichts festlich begangen wurde und die Anzahl der behandelten Fälle von Jahr zu Jahr zugenommen hatte, wurde bereits 1937 von den in Montreux vereinigten Vertretern der Kapitularmächte dessen Todesurteil unterschrieben. Die Anzahl der fremden Richter wurde schrittweise abgebaut und die Kapitulationen 1949 endgültig aufgehoben. Nach langwierigen Verhandlungen, bei denen die Schweizer darauf bestehen mußten, nichts von ihren früheren Prärogativen einzubüßen, konnten sie endlich 1935 ihren ersten Geschäftsträger in Ägypten begrüßen, und zwar unter der Voraussetzung, daß die schweizerischen Staatsangehörigen bis auf weiteres dem Schutze der Kapitularmächte unterstellt bleiben würden. Indessen war Andreas Bircher bereits neun Jahre zuvor, 85jährig, an einer doppelten Lungenentzündung gestorben. Seinen letzten Verfügungen entsprechend sollte seine prachtvolle archäologische Sammlung veräußert werden. Während der 10 Jahre des Ausverkaufs wurde sie völlig zersplittert und schließlich teilweise versteigert. Da an ihrer Authentizität kein Zweifel bestehen konnte, wurden viele kostbare Stücke von verschiedenen großen Museen erworben, unter denen sich nebst dem ägyptischen Museum und mit dessen Genehmigung das Metropolitan Museum in New York, das Museum von Turin, das "Musée du Cinquantenaire" in Brüssel und das "Museum van Altheidskunde" von Leyden befanden. Auch unter den privaten Käufern waren viele berühmte Namen. (Hier endet der gekürzte Teil 5 in Nr. 2/87, pp. 6973, Anm. KFN)
Jahreswechsel
Etwas später schreibt er:
Seiner Mutter schreibt Carl:
Und seinem Bruder:
Die Zeiten haben sich verändert! Aber es steht fest, daß damals ein gutes Zeugnis von André Bircher ebenso wertvoll (wenn nicht wertvoller) war als heute das Diplom einer Handelsschule.
Manche Anspielungen in den folgenden Briefen werden besser verständlich, wenn man versucht, sich ein Bild von der Geschichte der vorhergehenden Jahre zu machen. Schulden einzugehen ist eine gefährliche Politik. Je mehr die Schuld anwächst, um so kleiner wird die Freiheit, vor allem wenn, wie dies gegenüber Ägypten der Fall war, die Gläubiger mächtig sind. Diese bittere Erfahrung machte der Khedive Ismail, als die Europäer ihn absetzen ließen. Auch die Handlungsfreiheit seines Nachfolgers Taufiq war von den Westmächten sehr eingeschränkt. Kaum hatte das Land begonnen, sich langsam zu erholen, als ein Offizier namens Arabi 1882 einen Militäraufstand inszenierte und sich schließlich, ohne bei Taufiq auf Widerstand zu stoßen, zum Diktator erhob. Sein Ziel war, dem Einfluß der europäischen Mächte ein Ende zu machen. Man bespie und bedrohte die Angehörigen westlicher Nationen im ganzen Land. Etwa 20.000 Europäer, darunter auch Andreas Bircher, verließen das Land auf 25 Kriegsschiffen. Wie oft in der Geschichte versagte die Diplomatie und man griff zur Gewalt. In Alexandrien brachen Unruhen aus und etwa 50 Europäer verloren das Leben. Die englische Flotte bombardierte die Stadt und einige Wochen später erstürmten die britischen Truppen Arabis Lager in Tell-el-Kebir. Bald darauf marschierten sie in Kairo ein. Arabi wurde nach Ceylon verbannt. 1883 wird Sir Evelyn Baring Generalkonsul und reorganisiert die verschiedenen Ministerien. Das System der Fronarbeiten wird abgeschafft, und neue Kanäle und Pumpwerke ermöglichen eine bessere Bewässerung sowie eine Vergrößerung der bebaubaren Flächen. Im Sudan waren nach dem Abgang von Gordon die frühere Korruption und das Elend wieder eingekehrt, so daß der Haß gegen die ägyptische Beamtenschaft sich von Jahr zu Jahr steigerte. 1882 gelang es dem Häuptling eines arabischen Stammes, sich als "Mahdi" (d.h. Messias) zu proklamieren, indem er sich vorerst auf frühere Sklavenjäger stützte und dann in kürzester Zeit Zehntausende von fanatisierten und bewaffneten Gläubigen um sich scharte. Im Januar des folgenden Jahres rissen diese wilden, mordenden, plündernden und brandstiftenden Horden den Kordofan, die reichste Provinz des Sudan, an sich. Die Belagerung der Hauptstadt El Obeid dauerte viele Monate und löste eine entsetzliche Hungersnot aus, wobei die in den Häusern zum Verkauf eingelagerten Reserven an Gummi arabicum oft das einzige Nahrungsmittel waren. Inzwischen wurde ein in aller Hast nach dem Sudan entsandtes ägyptisches Heer unter Hicks Pascha völlig aufgerieben und fast bis auf den letzten Mann niedergemetzelt, nachdem die Soldaten die furchtbarsten Leiden an Durst, Hunger und Seuchen durchgemacht hatten. Pater Ohrwalder berichtet aus jener Zeit, wie er mit den Mitgliedern seiner kleinen Mission - von denen schließlich nur vier ihr Leben retten konnten - Versklavung, Krankheit und die ärgsten Demütigungen erleiden mußte. In seiner Not wandte sich das "Foreign Office" wiederum an Gordon, der gerade die letzten Vorbereitungen treffen sollte, um mit Stanley im Dienste König Leopolds von Belgien nach dem Kongo zu fahren. Gordon ließ sich überreden, in Khartum die schwierige und gefährliche Aufgabe zu übernehmen, eine neue landeseigene Regierung ins Leben zu rufen. Die ägyptischen Garnisonen sollten zurückgezogen und der Sudan den Sudanesen anvertraut werden. Wer aber war der starke Mann, der diesen Posten ausfüllen wollte und konnte? Die Wahl fiel auf den mächtigen und berüchtigten Sklavenhändler Sobeir, den Ismail seinerzeit auf Gordons Antrag kaltgestellt hatte. Aber die Verhandlungen scheiterten an der englischen öffentlichen Meinung. Indessen waren die siegreichen Scharen des "Mahdi" zu Hunderttausenden angewachsen: jedem, der in diesem von ihm als heiligen Krieg proklamierten Kampf umkam, war das Paradies versprochen, ja der "Mahdi" wurde sogar von vielen als größer als der Prophet angesehen. Alles, was er berührte, wurde als heilig erklärt und das Wasser, in dem er sich wusch, von seinen Anhängern als wunderwirkend aufbewahrt und getrunken. Bald sah sich Gordon nicht nur im Süden, sondern auch im Norden von der Welt abgeschnitten. Mit einem dringenden Brief an Baring sandte er seinen Adjutanten Steward, dem sich der französische und der englische Konsul beigesellten, den Nil hinunter. Aber der Dampfer lief auf Felsen und die Europäer wurden in eine Falle gelockt und ermordet. Indessen hatten die Heere des "Mahdi" auch die Provinz Darfur erobert und Slatin Pascha gefangen genommen. In jenem Jahr (1885) konnte Gordon nur noch selten durch Läufer mit Ägypten in Verbindung treten, denn indessen hatte sich der "Mahdi" in Omdurman festgesetzt. Als man sich in Kairo entschloß, ein Heer zur Rettung der Belagerten den Nil hinaufzuschicken, war es zu spät. Zehn Monate harrte Gordon in der ausgehungerten Stadt aus. Täglich und fast stündlich spähte er von seinem Dach aus nach Norden, in der Hoffnung, daß doch noch Rettung aus Ägypten kommen würde, während die Zahl der Überläufer in das Lager des "Mahdi" von Tag zu Tag zunahm. Dann kam die dunkle mondlose Nacht des Überfalls, das scheußliche Gemetzel, der Tod Gordons. Zwei Tage später traf ein Schiff mit den Vorboten von Wolseleys Armee in Khartum ein; sie fanden eine verwüstete Stadt mit Tausenden von Toten. Vor der Übermacht des Feindes kehrten die Truppen nach Kairo zurück. Der "Mahdi" starb im folgenden Jahr. Khalifa Abdullah, der von ihm ernannte Nachfolger, nahm seine Stelle ein. Auf sein Geheiß wurde Khartum völlig zerstört. 1889 herrschte in Omdurman eine grauenhafte Hungersnot. Nachdem fast alle Kamele abgeschlachtet worden waren, lebten die Einwohner noch von Stroh, Palmfasern, Gummi arabicum und alten Häuten, die sie von den Dächern herunterholten und auskochten. Kleine Kinder wurden auf Straßen entführt und geschlachtet. Zehntausende starben an Hunger. Die Schreckensherrschaft Abdullahs dauerte bis 1898, als es Kitcheners Truppen endlich gelang, den Sudan zurückzuerobern. Bis dahin sollte das Land von der Außenwelt abgeschlossen bleiben.
Zum Seitenbeginn
Teil 4 Nr. 0506/98, pp. 3646
Anfang 1890 schreibt Carl seinem Bruder:
Eigentlich wußte man in Ägypten sehr wenig von den furchtbaren Zuständen im Sudan, von den immer wieder verwüsteten Feldern, von den zerstörten Palmenhainen, den dezimierten Viehherden, von der entsetzlichen Unterdrückung und dem namenlosen Terror. Aus dem von F.Wingate, dem späteren Gouverneur des Sudans, 1892 geschriebenen Vorwort zu Pater Ohrwalders Buch ist ersichtlich, daß dieses den ersten Bericht darstellt, der über die Ereignisse der letzten sieben Jahre an die Öffentlichkeit gelangte, und daß der österreichische Geistliche und die beiden Nonnen, die sich ihm angeschlossen hatten, die ersten Europäer waren, denen die Flucht gelang. Diese stellte ja auch fast eine übernatürliche Leistung für Mensch und Tier dar: in knapp sieben Tagen und Nächten legten die Flüchtlinge auf ihren Kamelen unter steter Gefahr die enorme Distanz von 750 km zwischen Khartum und dem ägyptischen Grenzposten von Murat zurück! Erst vier Tage später konnte Slatin auf demselben Weg dem Khalifa entfliehen. Und als 1896 auch seine Memoiren erschienen, regte sich in England der Drang, dem Mahdismus endlich ein Ende zu machen. Einer gewaltigen englisch-ägyptischen mit modernsten Waffen ausgerüsteten Armee sollte es gelingen, innerhalb von zwei Jahren die Heerscharen des Khalifa zu dezimieren. Seinem Freund Otto schreibt Carl weiter (von den Engländern sprechend):
Es ist interessant, in Pater Ohrwalders Buch nachzulesen, wieso gerade zu jener Zeit (Anfang 1890) wieder kleine Quantitäten von Gummi arabicum den Nil hinabtransportiert wurden. Khalif Abdullah hatte damals einen äußerst klugen und aufgeklärten Schatzmeister, Uad Adlan, der einsah, daß sich das Land ohne Außenhandel niemals erholen würde. Anstatt, wie Abdullah es vorgesehen hatte, eine Art chinesischer Mauer zwischen Ägypten und dem Sudan aufzurichten, brachte Uad Adlan den Khalifa dazu, Elfenbein und Gummi als Staatsmonopole zu erklären. Gummi wurde sogar anstatt Geld für Bezahlungen angenommen. Den Händlern wurde erlaubt, an den Grenzen Waren auszutauschen, das Schatzamt machte große Gewinne, und das Volk war weniger unterdrückt als zuvor. Aber die wachsende Popularität Uad Adlans erweckte die Eifersucht des Despoten und seiner Stammesangehörigen, und es dauerte nicht lange, bis auch er zum Tode verurteilt wurde und am Galgen hing. In seinem "White Nile" schreibt Alan Moorehead: "Man kann das Jahr 1889 als die Umkehr der Gezeiten gegen den Khalifa betrachten. ... Das Land entvölkerte sich, und etwas später schätzte Slatin, daß etwa 75% der ursprünglichen ungefähr 9 Millionen Bewohner während der Regierung des Khalifen umkamen. Der fortwährende Krieg und der Sklavenhandel kosteten jedes Jahr Tausende von Menschenleben."
Im Januar 1890 wurde Stanley mit den Ehren, die seinem außerordentlichen Mut, seinen fast übermenschlichen Leistungen, seinen sensationellen Entdeckungen und seinem hervorragenden schriftstellerischen Talent gebührten, in Kairo empfangen. Es war mitten in der Fremdensaison, und, wie Carl schreibt, waren alle Hotels bis zum letzten Zimmer mit Touristen gefüllt. Auf einer alten, damals in einer Tageszeitung erschienenen Zeichnung sehen wir, wie Stanley auf der Treppe des Continental Hotels vom bekannten Schweizer Hotelier Charles Baehler ehrerbietig begrüßt wird. Carl schreibt seinem Bruder:
Und zwei Monate später:
Stanley kam von der letzten seiner großen Afrika-Expeditionen zurück. Diese wurde 1886 ins Leben gerufen, nachdem die Mahdisten schon den ganzen Sudan mit Ausnahme von Äquatoria besetzt hielten und Khartum seit mehr als einem Jahr gefallen war. Es handelte sich darum, Emin Pascha und seine ägyptische Garnison zu befreien, nachdem dieser geniale Arzt, Naturforscher, Ethnologe und Administrator schon zwölf Jahre am oberen Nil ausgeharrt hatte. Es war ihm gelungen, eine Bevölkerung von mehr als 10.000 Menschen (worunter viele Frauen und Kinder), die entweder ägyptische Besatzungsmitglieder oder Flüchtlinge aus den nördlicheren Sudan-Provinzen waren, jahrelang aus eigenen Kräften am Leben zu erhalten. Emin besaß eine kleine Flotte von Dampfschiffen, baute Baumwolle und Gemüse an und kaufte bei Gelegenheit mit Kaurimuscheln (die er am Strand des Indischen Ozeans hatte sammeln lassen) große Vorräte an Elfenbein als Tauschware. Da Stanley seine Dienste nicht nur der im Entstehen begriffenen "British East Africa Company", sondern auch König Leopold von Belgien angeboten hatte, faßte er den kühnen Entschluß, das Kap der guten Hoffnung zu umfahren, um dann per Schiff, von der Kongomündung aus, 1.500 km flußaufwärs zu reisen! In den dunklen pfadlosen Itury-Wäldern, wo die Pygmäen vergiftete Pfeile in den Boden gesteckt hatten, verlor Stanley die Hälfte seiner Begleiter. Erstaunlicherweise gelang das Zusammentreffen mit Emin, doch war dieser nicht gewillt, seine Schutzbefohlenen zu verlassen. Stanleys Vorschlag, Äquatoria für König Leopold zu verwalten, schlug er ab, und auch für den Gedanken, an der Nord-Ost-Ecke des Viktoriasees die "British East Africa Company" zu vertreten, konnte sich Emin nicht ohne weiteres entschließen. Um ihm Zeit zu geben, kehrte Stanley an den Aruwimi-Fluß (einem Zufluß des Kongo) zurück, wo ihn aber neue, furchtbare Unglücke trafen. Von den fünf weißen Expeditionsteilnehmern war nur noch einer am Leben und mehrere hundert von seinen Schwarzen waren den Strapazen erlegen. Unterdessen war es auch Emin schlecht gegangen. In Dufile hatten seine Soldaten gemeutert und ihn und seine beiden europäischen Gefährten in Ketten geworfen. Als aber die Boten des Khalifa die Grenze von Äquatoria überschritten, wurden sie von Emins Leuten niedergemetzeit. Emin und seine Begleiter wurden befreit und flohen nach Lado, wo Stanley sie vorfand. Da Emin nur noch auf die Hälfte seiner Garnison zählen konnte, faßte er den schweren Entschluß, Stanley an die Ostküste zu folgen. Auf dieser mühevollen Reise, die nur dank der eisernen Disziplin des Expeditionsleiters Stanley ausgeführt werden konnte, verschlechterten sich die Beziehungen zwischen den beiden Männern immer mehr. Emins Stolz widerstrebte es zutiefst "gerettet" werden zu müssen, und für Stanley waren die Sammelwut und die wissenschaftlichen Spitzfindigkeiten des Gelehrten eine stete Geduldsprobe. Auch litten beide an schweren Malaria-Anfällen, die sie zwangen, die Reise zu unterbrechen. Doch war es ihnen vergönnt, erstmals die herrliche Ruwenzori-Kette, das "Mondgebirge" der Alten, mit eigenen Augen zu schauen, ein unvergesslicher Anblick! Als sie endlich in Bagamoyo ankamen, war die Stadt zu ihrem Empfang beflaggt, und englische und deutsche Kriegsschiffe erwarteten die beiden Forscher. Ein persönliches Telegramm vom deutschen Kaiser und ein Riesenbankett taten das ihrige, um Emin vor Freude fast zu überwältigen. Als er sich aber nach zwei Ansprachen zurückzog, machte er, seiner schlechten Augen wegen, einen Fehltritt, stürzte 5 Meter in die Tiefe und erlitt einen Schädelbruch, von dem er sich erst nach Monaten erholen sollte. Stanley entschloß sich nach einiger Zeit zur Abreise nach Ägypten, denn (in den Worten von Moorehead) "die Welt wollte Stanley, den Erretter, und nicht Emin, den Erretteten feiern". In Kairo erwarteten ihn Telegramme von Königin Victoria, Leopold von Belgien, dem Khediven Taufiq, dem deutschen Kaiser und dem Präsidenten der Vereinigten Staaten. Man wollte ihn in London prachtvoll empfangen. Aber Stanley zog es vor, einige Wochen ruhig in einem kleinen Hotel von Kairo zu verbringen und seine Reisenotizen zu verarbeiten. So entstanden in genau fünfzig Tagen seine beiden Bände "Im dunkelsten Afrika". Das Buch zeitigte einen großen Erfolg und wurde in sechs verschiedenen Sprachen veröffentlicht. (Folgendes, als Teil 6, in gekürztet Form, auch in Nr. 3/87, pp. 5658; Anm. KFN)
Der Reichtum an Wasservögeln scheint damals außerordentlich gewesen zu sein und erinnert an die Relief-Skulpturen und Fresken des alten Pharaonenreiches. Anfang 1890 schreibt Carl seinem Bruder:
Allerdings stellt er ein Jahr später fest, daß Enten und Gänse wegen der viel häufigeren Dampfschiffe bedeutend seltener geworden sind.
Im Februar 1890 bekommt Carl einen Brief von Dr. Alfred Staehelin, Präsident
der Mittelschweizerischen Geographisch-Commerziellen Gesellschaft in Aarau, der
ihn zum korrespondierenden Mitglied ernennt.
Noch immer trachtet Carl danach, bei verschiedenen Firmen Vertretungen von photographischem Material und Apparaten zu erhalten. Besonders die sogenannten "geheimen" Apparate, wie der französische "photographe" scheinen ihn zu interessieren. Auch mit photographischen Platten, besonders den damals beliebten "Glimmerplatten", Chemikalien und Papier (hauptsächlich dem sogenannten "Pergamentpapier") möchte er Handel treiben, nachdem es ihm gelungen war, mehrere von den ganz neuen Photoautomaten in Ägypten abzusetzen. Ganz neu waren auch die "Elfenbein-Filme", und es bedeutete ein Ereignis in seinem Leben, als ihm die ersten Bilder auf diesem schönen Material gelangen. Ihm schwebte auch vor, in Ägypten einen Photographen-Verband zu gründen. Seinem Freund Pfaff schreibt er im Mai 1890:
Aus dem in "Armant" 15 erschienenen Nachdruck von Adolf Ebelings Aufsatz "Das Wüstenbad Heluan bei Kairo" (vom Jahre 1875) vernehmen wir, wie ein deutscher Arzt unter dem Khediven Ismail die damals vor kurzer Zeit wieder entdeckten Heilquellen von Heluan mit einer luxuriösen Badeanlage versehen ließ, nachdem sie seit fast tausend Jahren in Vergessenheit geraten waren. Zwar hatten die alten Ägypter sie schon gekannt, und im 7. Jahrhundert errichtete ein arabischer Herrscher, Abdel-Asis, eine florierende Residenzstadt mit Palmen- und Olivenhainen, in welcher die Heilquellen wahrscheinlich in den Palast des Khalifen geleitet wurden. Über alle diese Pracht hatte sich aber im Laufe der Jahrhunderte der Wüstensand wieder ausgebreitet. Die neue Stadt, von der Carl spricht, war das Werk des Khediven Taufiq.
Auf einer Photographie aus dieser Zeit sehen wir Carl im Hofe des väterlichen Hauses neben einem schönen altägyptischen Sarkophag stehend. Ein Lehrer aus Pfatten (Südtirol) schreibt, um ihn zu bitten, ihm die Hand einer Mumie zu schicken. Daraus ist zu entnehmen, daß Vater und Sohn bereits begonnen hatten, Antiquitäten zu sammeln. Das damals neue, bei den Pyramiden gegründete Hotel ist das spätere "Mena House". Es war ursprünglich als kleines Rasthaus für die Kaiserin Eugénie an der Straße errichtet worden, die anläßlich der Eröffnung des Suezkanals unter dem Khediven Ismail gebaut worden war. Mr. Head, der neue englische Besitzer, kaufte es im Jahre 1890, baute ihm ein Stockwerk auf und vergrößerte es beträchtlich. 1906 wurde das Hotel unter dem Namen "Mena House" der von C.Baehler präsidierten Kette der "Grands Hotels d'Égypte" angegliedert. An seine Schwester Alice gehen folgende Zeilen:
(Folgendes, als Teil 7, in gekürzter Form, auch in Nr. 4/87, pp. 6265; Anm. KFN)
Obschon seit den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts und wahrscheinlich schon früher Uhren nach Ägypten importiert wurden, ist die Nachfrage immer sehr groß gewesen. Es waren aber nicht Schweizeruhren, die begehrt und gut bezahlt wurden, sondern die englischen Marken "Prior" und "Markwich". Ja die schweizerischen Fabrikate sollen damals sogar als "Schundware" verschrien worden sein! Obschon gewisse Genfer Uhrenmacher sich erlaubten, ihre Ware mit englischen Marken zu versehen, hielten sie es nicht für notwendig, deren Qualität zu verbessern. Aber schon vor der Mitte des Jahrhunderts hatte sich alles verändert. Mehrere Schweizer brachten Pendeluhren und Sackuhren nach Ägypten. Carl hatte Freunde in der Neuenburger Uhrenindustrie und fragte einen von ihnen, ob er vielleicht silberne Sackuhren mit türkischem Ziffernblatt liefern könnte, und zwar
In einem von Pfingsten 1890 datierten Brief schreibt Carl seinem Bruder:
Trotz dieses enormen Verlustes durfte Carl in jenem Sommer für zwei Monate mit seinem Vater in die Schweiz reisen. Es war aber nach der großen Hitze auf dem Meer so kalt, daß er mit einer Lungenentzündung in Aarau ankam. Dies verhinderte ihn, an der Jahresfeier seines geliebten Handelsvereins in Neuenburg teilzunehmen. Andernteils sorgten die beiden Väter dafür, daß er auch Marthe nicht treffen konnte. Trotzdem nimmt er mit viel Mut und Zuversicht bei vermehrter Verantwortung seine vielseitigen Tätigkeiten in Ägypten wieder auf. Im November 1890 schreibt Carl an seinen Bruder:
Seinem Freund Ernest schreibt Carl..
Immer wieder ist in Carls Briefen von den schweren Zeiten die Rede, von langen Arbeitsstunden mit wenig Gewinn. Wenn Andreas Bircher seinem Sohn kaum einen freien Sonntag Nachmittag gönnte, so erlaubte er auch sich selbst kaum eine Zerstreuung. Die Verluste in Port-Said waren für ihn eine schwere Demütigung. Carls Briefe aus jenen Monaten spiegeln diese Stimmung wider:
Folgender Brief an Marthe ist rührend und tragisch zugleich, denn es schwebt darin mehr als nur die Furcht vor dem unbeugsamen Willen des Vaters, etwas wie ein Vorgefühl, daß seinem Leben ein frühes Ende beschieden sein sollte.
Daß ein Handelslehrling zu jener Zeit weder auf Entlohnung noch auf erstklassige Behandlung ein Anrecht hatte und froh sein mußte, wenn er bei einer guten Firma arbeiten und lernen durfte, haben wir schon gesehen. Folgender, im Januar 1891 an einen Neuenburger Kollegen gerichteten Brief ist in dieser Hinsicht auch interessant.
Im Mai 1891 schreibt Carl seinem Bruder:
(Folgendes, als Teil 8, in gekürzter Form, auch in Nr. 56/87, pp. 6668; Anm. KFN)
In jenem Sommer (1891) mußte Carl in Kairo ausharren, während der Vater seine alljährlichen Sommerferien in Aarau bei den Seinen verbrachte. Carl genießt nun ein wenig Selbständigkeit und freut sich, anläßlich seiner Mahlzeiten in der Pension "Kettuna" andere junge Geschäftsleute zu treffen. So zum Beispiel Heinrich Meyer, den Schweizer, dem seine Landsleute ihr jetziges Klubhaus und die Bewohner von Kairo ihre Abwasser-Kanalisation verdanken (nicht gerade schmeichelhaft wurde er schon damals von seinen Altersgenossen familiär als "Dreckmeyer" bezeichnet). Damals, als die beiden jungen Leute sich kennenlernten, war Meyer ein kleiner Angestellter der "Cairo Sewage Co.". Er arbeitete sich aber rasch hinauf, wurde 1898 Direktor der Gesellschaft und übernahm 1909 auch die Leitung der "Manure Co.". Darum gediehen die Orangen der Umgebung von Cairo so gut. Die Schweizer sind ihm viel Dank schuldig, denn er war es, der den schweizerischen Schiesstand gründete und finanzierte und somit seinen Landsleuten in Ägypten erlaubte, sich in ihrem traditionellen Lieblingssport zu üben. Später vermachte er ihnen auch testamentarisch seine schöne Villa mit dem großen Garten in Embaba. Seine Verbundenheit mit der Schweizer Kolonie, sein Gemeinschaftsgefühl, sein hervorragendes Geschäftstalent und sein unermüdlicher Fleiß fanden bei Carl tiefes Verständnis und Sympathie. Am 15. Juli schreibt Carl seiner Mutter:
Seinem Bruder erklärt er:
Und seinem Vater, der soeben in die Schweiz abgereist ist:
Begeistert schreibt Carl im folgenden Brief:
Man stand damals den verheerenden Seuchen machtlos gegenüber.
Auf Seite 350 bricht das Manuskript ab. Ursprünglich enthielt es wahrscheinlich 500 Blätter, und es ist bedauernswert, daß die letzten 150 Seiten fehlen. Carl hatte damals, im September 1891, noch etwas mehr als 15 Monate zu leben. Er erkrankte im Januar 1892 an schwerem Typhus, der ihn am 6. Februar dahinraffte. Der letzte Brief des Kopierbuches ist an Marthe gerichtet, dem Mädchen aus Neuenburg, mit dem er, wie er schreibt, auf der glitzernden Eisbahn des "Mail" schlittschuhfahrend die schönsten Stunden seines Lebens verbracht hatte. Anmerkungen:
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Zum 2. Teil von "Ägypten vor (mehr als) 100 Jahren":
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