Ägypten vor (mehr als) 100 Jahren
    Inhalt:
    Briefe aus Ägypten 1905—1908
    Zwei Schweizer Kaufleute in Ägypten
    Kairo vor mehr als 100 Jahren
    Alexandria in alten Reisebeschreibungen 1761—1911
    Eine Orientreise vom Jahre 1881

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"Briefe aus Ägypten 1905—1908"
von Pierre Teilhard de Chardin

zusammengestellt von Helmut Piegeler und Elisabeth Claus
in 3 Teilen

Teil 1 Papyrus-Logo Nr. 10/83, pp. 23—25

Vor 78 Jahren begann Pierre Teilhard de Chardin, der spätere große französische Philosoph und Naturwissenschaftler (1881—1955), seine dreijährige Tätigkeit als Lehrer der Jesuitenschule in Kairo. Seine an seine Eltern geschriebenen einfühlsamen Briefe geben uns ein spontanes, lebendiges Bild von Kairo und Umgebung in der damaligen Zeit.

Im folgenden – um einige familiäre Passagen gekürzten – Brief schildert Teilhard seine Wanderungen in den nahen westlichen und östlichen Wüsteneien Kairos und Gisehs, wobei Flora und Fauna wegen seiner naturwissenschaftlichen Interessen breiten Raum einnehmen.

Die deutsche Übersetzung der Briefe wurde 1965 im Verlag K.Alber, Freiburg/Brsg., veröffentlicht.

Kairo, den 1. Okt. 1905
Liebe Eltern!
(...)
In den letzten vierzehn Tagen habe ich noch zwei schöne Ausflüge in die Wüste gemacht, die mir immer besser gefällt, genau wie P.Bovier-Lapierre und P.Garraud, dem von uns untrennbaren Führer. Zunächst haben wir, ausgehend von Mataria, eine Entdeckungsreise in die Roten Berge (östl. von Abbasiya –Red.) gemacht. Um zu ihnen zu gelangen, überquert man eine Sandfläche, in der da und dort blühende Salzpflanzen hervorkommen. Das Gebirge selbst ist nicht hoch, besteht aus einem wirklich dunkelroten Sedimentgestein oder Sandstein (der sich ausschließlich aus Quarzkörnern und einem Agglomerat von Silexfragmenten zusammensetzt) und ist recht eigenartig. Es sind große Haufen zertrümmerter Fragmente, die mich an die Stelle der ehemaligen Steinbrüche in Volvic erinnert haben, nur daß die Haufen höher sind. Ab und zu tritt kompakteres Gestein zutage, und das Ganze ist stark zerklüftet und wird recht eifrig ausgebeutet für die Steinbrüche.

Von dort sind wir quer über die Ausläufer des Mokattam nach Kairo zurückgekehrt, so daß wir wieder auf dieses Juwel des Kalifenfriedhofs stießen. Die Gegend ist vollkommen öde und verlassen, von Gräbern und von Strombetten zerfurcht. An manchen Stellen besteht der Fels ausschließlich aus Scheren fossiler Krustentiere, die zumindest so groß wie Hummer gewesen sein müssen. Dort bin ich zwei Agamen begegnet, eine war größer als die Hand, die andere so lang wie ein Finger. Die letztere ziehe ich gerade auf. Wie Sie sehen, ist das ein Tier zwischen Eidechse und Chamäleon, das aussieht wie ein Frosch mit Schwanz. Es ist gelbgrau mit dunkelbraunen Flecken und heller Brust und ziemlich flach. Im Sand ist es nicht auszunehmen, und beim Laufen hebt es den Schwanz hoch.

Vergangenen Donnerstag habe ich eine kleine [Eule] in der Libyschen Wüste gesehen. (Objekt fehlt im PAPYRUS –Anm. KFN.) Das war damals eine richtige Exkursion. Zunächst zogen wir zu den Pyramiden von Giseh, und dies auf einem sehr hübschen Weg. Um etwas südlich der Insel Rhoda eine Fähre zu nehmen, überquerten wir ein sehr malerisches Stück des alten Kairo mit seinen engen Gassen und den großen Lebeckien rechts und links (es sind weniger Akazien als vielmehr Mimosen: sie haben dicke kugelförmige Blüten). Es war noch früh am Morgen, und der Nil war bezaubernd: bedeckt mit Booten, am gegenüberliegenden Ufer mit einem Vorhang leicht nebelverhüllter Palmen eingesäumt. Die Fähre setzte uns in Giseh ab, und von dort brachte uns eine Straßenbahn zu den Pyramiden. Die Pyramiden liegen knapp am Rand der Wüste, und die Wüste selbst endet unvermittelt in einer Steilküste aus Sand, die oft fast senkrecht aus dem Niltal emporsteigt. Das Wort Steilküste ist um so richtiger, als wir uns mitten in der Periode der Überschwemmung befinden, so daß man zu beiden Seiten der Straße, die von Giseh schnurgerade zu den Pyramiden führt, weit und breit nur Wasser sieht. Die Straße ist natürlich auf einem Damm angelegt und wird von den unvermeidlichen Lebeckien überschattet, die für die Kaiserin Eugénie gepflanzt wurden. Das Wasser ist seicht, denn es läßt die Spitze mancher Baumwollsetzlinge herausragen, die noch nicht ausgerissen wurden; es dürfte kaum mehr als einen Meter tief sein, aber es breitet sich aus, so weit das Auge reicht. Wo Straße und Straßenbahn aufhören, steht am Fuß der Steilküste der Wüste ein englisches Hotel (Mena House Hotel –Red.) und dort findet man auch die sagenhafte Legion von Eseltreibern, Kameltreibern, Führern aller Art, die den Touristen erwarten. Wir sind ihnen leicht entwischt, aber sie sind wirklich komisch anzusehen, wie sie alles zusammenraffen, was sie finden, um es gegen ein Bakschisch feilzubieten, wie sie von den "einund"vierzig Jahrhunderten sprechen, und das noch dazu in schlechtem Französisch.

An dieser Stelle erheben sich drei Pyramiden: die gigantische Cheopspyramide, eine zweite, fast gleich große und eine dritte, viel kleinere. Sie sind aus einem Kalkstein erbaut, der in Turah (bei Heluan) gewonnen wird, den man also vom anderen Ufer des Nils auf Dammstraßen herbeischaffte, deren Überreste noch zu sehen sind. Die Verkleidung, die sie einst hatten, ist verschwunden (außer auf einem Teil der zweiten), so daß sie nicht glatt sind, sondern aus übereinandergetürmten Stufen bestehen. Ich habe die Besteigung nicht versucht, die eher mühsam als schwierig sein muß.

Etwas südlich der Pyramiden ist die Sphinx, die direkt in den Fels gehauen ist und die in regelmäßigen Abständen gesäubert werden muß. Sie liegt einigermaßen tiefer als die Pyramiden, weil sie aus der Felsschicht gehauen ist, die die Pyramiden trägt, und verliert durch deren Nähe scheinbar an Größe, obwohl die Figur gut etwa vier Meter hoch ist. Sand und Wind haben ihr erheblich zugesetzt, aber von weitem hat sie noch immer Ausdruck. Der Tempel der Sphinx daneben besteht aus sehr schönem Granit von Syene (griechisch für Assuan –Red.) und ist unterirdisch, zumindest war er unterirdisch, denn jetzt ist er freigelegt, und man sieht ihn von oben.

Es gibt dort wirklich gewaltige Dinge, aber abgesehen von der Physiognomie der Sphinx (und auch sie ist nicht mehr vollkommen) nichts Ästhetisches, höchstens den Gedanken, daß die Pharaonen das geschaffen haben. Ich gestehe Ihnen, daß ich den Rest des Ausflugs unendlich genossen habe, der den Tag zum Großteil ausfüllte.

Sobald man auf das Plateau und direkt an den Fuß der Pyramiden kommt, gerät man plötzlich in die Wüste, aber ich habe sie noch eindrucksvoller erlebt, als ich eine weite Schleife in der Libyschen Wüste machte. Der Eindruck ist überwältigender als im Mokattam: an Stelle der von felsigen Gräbern zerfurchten Hochflächen hat man ein unabsehbares Gewoge von Sandhügeln vor sich, die allmählich ansteigen bis zu einer gebirgigen Schranke, die im Westen den Abschluß bildet. In der Gegend, wo wir waren, tragen diese vom Wind glattgefegten Anhöhen auf ihrem Gipfel große, oft in der Hitze gesprungene Geröllsteine, und nur sie sind zurückgeblieben, während der Sand fortgetragen wurde. Diese Kiesel sind sehr charakteristisch, sie bestehen aus konzentrischen, glänzend nußfarbenen Schichten. Unter ihnen befinden sich einige Achatsteine und in Hülle und Fülle Splitter versteinerten Holzes. Ebenso wie in der Arabischen Wüste sind hier viele Flußbette, die deutlich gekennzeichnet sind durch eine Reihe seltener fetter Pflanzen, deren Blüten wir in ein paar Monaten sehen werden. Die Täler sind breit, haben geringes Gefälle, und an manchen Stellen sind sie ganz weiß von fossilen Austernschalen, die zusammen mit Seeigeln die Felsbänke dieses Gebietes füllen. – Weiter nördlich scheinen die Hügel vor allem sandig zu werden, wenn man aus ihrer Weiße schließen darf. Ich gedenke wohl, meine Ausflüge bei nächster Gelegenheit in dieser Richtung auszudehnen.

An Lebewesen haben wir nur gesehen: Eidechsen, die wir nicht erwischen konnten – eine kleine Eule von der Größe eines Käuzchens – einen Skorpion, den wir getötet haben – ein kleines Kerbtier, das genau wie ein Skorpion aussah, jedoch keinen Schwanz hatte – schließlich mehrere Exemplare eines merkwürdigen Käfers, der in Form und Größe einem Schwimmkäfer gleicht, mit rasender Geschwindigkeit läuft und merkwürdigerweise mit ganz feinen, altrosa Flaumhaaren bedeckt ist, die ihn vollkommen dem Sand anpassen. Bei den Pyramiden habe ich außerdem einen großen "Totenkäfer" mit stachelbesetzten Flügeldecken gefangen, dessen Abbildung ich gewiß im Brehm oder im Acloque gesehen habe. – Es scheint, in diesen Wüsten fehlt es nicht an Gazellen und Schakalen. – Es muß auch Hornvipern geben. Was die Uräusschlange (Haje) betrifft, so glaube ich, daß sie in der Umgebung von Kairo eher selten vorkommt; außerdem hat sie ja auch gerne ein wenig Feuchtigkeit.

Zur Abwechslung mit der Wüste habe ich gestern zwischen Mataria und dem Nil einen ausgedehnten Spaziergang durch die Pflanzungen gemacht, die jetzt hoch stehen. Nach dieser Seite hat die Überschwemmung einen durchaus anderen Charakter als bei Giseh: das Wasser zirkuliert überall nur in den Kanälen und verwandelt schlimmstenfalls ein Feld in einen Sumpf. Man bewegt sich auf Pfaden zwischen Feldern mit Baumwolle, Mais und auch Zuckerrohr, das ich nun schon während seines Wachstums nicht mehr mit Mais verwechsle. Das Zuckerrohr hat eine charakteristische blaugrüne Färbung. Hie und da wachsen große Mimosen; man trifft Fellachen mit ihrem Esel und ihrem Wasserbüffel, der manchmal erschrocken die Ohren senkt. Mir scheint, es ist eine gute Zeit, um in den Feldern herumzustreifen, die erfreulich nach Fruchtbarkeit aussehen. Nach den Dünen der Wüste staunt man über dieses üppige Grün.
(...)
Als ich gestern dem Erddamm folgte, der den Kanal von Ismailia säumt, habe ich mit der "Pharaonsratte" oder dem Ichneumon Bekanntschaft gemacht. Die ich gesehen habe, war so groß wie eine große Katze, nur langgestreckter, ihr Schwanz war spitz wie der einer Ratte, aber behaarter. Abgesehen von diesem Schwanz würde man vielleicht an einen Dachs denken. Sie ist ziemlich lange vor uns hergetrottet, schien vor dem Wasser eines Grabens Angst zu haben, den sie, übrigens sehr elegant, nur widerwillig übersprang. – Hier hält man sie manchmal wie eine Katze.

Ich habe noch zwei von den "Bienenfressern" gesehen, von denen ich Ihnen im letzten Brief erzählte. – Zu meinem Trost erfuhr ich, daß der hiesige Milan nicht der Königsmilan ist, denn er erfüllt die Aufgabe des ordinärsten Geiers. Anscheinend taucht er in der Umgebung der englischen Kasernen auf und holt sich Knochen aus der Hand der Soldaten. Sein Schrei ist eintönig wie das Knarren eines Handwagens, und er hat nicht die wilde Schönheit des Schreis eines Mäusefalken oder Bussards, den ich, wie ich mich erinnere, im Wald von Les Valettes gehört habe, und auch nicht des Geiers, dem ich mehr als einmal in der Umgebung von Aix lauschte.
(...)
Leben Sie wohl, liebe Eltern, ich umarme Sie sowie Toto, Biel und Joseph. Sie wissen, wie sehr ich Sie liebe und für Sie bete.
PIERRE

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Teil 2 Papyrus-Logo Nr. 11/83, pp. 31—33

Der zuvor (in Papyrus 10/83) abgedruckte Brief entstand nicht lang nach Teilhards Ankunft in Ägypten. Als er den (folgenden) Brief am 1. November 1906 schrieb, war er schon über ein Jahr als Physik-Lehrer am Jesuiten-Kolleg in Kairo.

Liebe Eltern!
(...)
Hier hatte das Leben der letzten vierzehn Tage, so weit man auch blickt, die fruchtbare Eintönigkeit des "gewöhnlichen Reglements", das für die Schüler die richtige Zeit zum Arbeiten ist. Jetzt ist das Jahr gut angelaufen, und man hat sich an die unwahrscheinliche Kompliziertheit des Stundenplans gewöhnt, die in der Mannigfaltigkeit der Lehrgegenstände wurzelt: Arabisch, Französisch, Englisch, Naturwissenschaften usw. Vor allem das Arabische greift in beklagenswerter Weise um sich; auf Grund des Lehrplans müssen die Schüler die Hälfte ihrer geistigen Kräfte ausgeben, um eine literarische, ganz in Formeln erstarrte Sprache zu lernen, wobei eine gewisse Analogie zum Studium der chinesischen Schriftzeichen besteht. Das bedeutet einen Zeitverlust, der durch den Gewinn an Nationalbewußtsein kaum wettgemacht wird.

Das gewöhnliche Reglement wurde gleichwohl gestern unterbrochen, um nach altem Brauch der Einkehr der Schüler Platz zu machen, die morgen abgeschlossen wird. Denn trotz der Überschrift meines Briefes schreibe ich Ihnen am 31. Das bedeutet natürlich drei Tage Ferien für die Mohammedaner und die Israeliten. Da diese die beste Kundschaft der Omnibusse darstellen, fahre ich recht kläglich mit einem halb leeren Wagen durch die Straßen Kairos spazieren. Übrigens kann man im Augenblick nur schwer durch diese Straßen kommen: überall wird gepflastert oder sogar geteert, denn die Verwaltung hat für ihre Arbeiten glücklich genau den Zeitpunkt gewählt, wo das Leben in Kairo durch die Ankunft der ersten Touristen wieder zunimmt. Die Hotelterrassen beginnen sich zu bevölkern, und jeden Abend betrachten die Kinder, die ich nach Hause bringe, glückselig die Gitarrespieler, die mechanischen Klaviere oder auch die arabischen Akrobaten, die die Kaffeehäuser belagern.

Vor acht Tagen haben wir im Anschluß an eine erträglich heiße Periode ziemlich heftige Gewitter gehabt. Viele Blitze, aber das Rollen des Donners war äußerst schwach, ich weiß nicht recht warum; – vor allem reichlicher Regen. Da ich mich an jenem Tag auf einem Spaziergang durch die Wüste befand, konnte ich die schönen Lichtreflexe auf den großen Wolken betrachten, die über den Himmel dahineilten; meiner Treu, gerade als der Regenguß einsetzte und eingehüllt in aufgewirbelten Staub habe ich eine kleine Station der Eisenbahn nach Mataria erreicht; der Zug selbst bot keinen sicheren Schutz; das Wasser drang durch die Ritzen in den Dächern der Waggons ein, und die Abteile waren überschwemmt.

An jenem Tag bin ich durch das weite Gelände der "Oasis"-Baustelle gekommen. So heißen die beiden Mastersiedlungen, die ein großer belgischer Finanzmann mitten in der Wüste vor den Toren Kairos, auf halbem Weg nach Mataria, errichten läßt. Jede der kleinen Siedlungen wird von jedem anderen Wohnviertel isoliert sein; die Häuser, aus denen sie bestehen wird, müssen alle einen Garten haben und gewisse sanitäre und ästhetische Voraussetzungen erfüllen. Eine elektrische Eisenbahn (der Gesellschaft der Métropolitain) wird die Verbindung mit Kairo herstellen. Der Plan ist schön, und im Augenblick ist eine "Oasis" im Umriß abgesteckt. Was in erster Linie gebaut wird, ist ein gigantisches Hotel. Etwas ganz Vortreffliches: mitten im Zentrum, sehr gut gelegen, wird sich eine katholische Kirche erheben, und dies auf Wunsch des Gründers des Unternehmens. Es ist nun noch die Frage, ob diese Idee auch einschlagen wird: und das wäre die wesentliche Voraussetzung zum Erfolg. Anscheinend wurde bereits fürchterlich spekuliert, wie man derzeit überall in Kairo auf die Baugründe spekuliert. – Man arbeitet bereits geraume Zeit daran; aber mir kommt vor, ich habe Ihnen davon noch nicht erzählt.
(...)
Derzeit sind wir mitten im Ramadan: man sieht es schon an den Lampenketten hoch auf den Minaretten und an den kleinen Laternen, die die Kinder auf der Straße tragen. Zufällig bin ich gerade in dem Augenblick durch ein Eingeborenenviertel gekommen, als die Kanone der Zitadelle das Ende des Fastens ankündigte (bei Sonnenuntergang). Die Straßen waren gedrängt voll mit kleinen Händlern, die im Freien Delikatessen und Gebratenes feilboten; aber es schien mir, als wäre das erste Bedürfnis der Araber nicht zu essen, sondern ein gutes Nargileh zu rauchen. Dieses Fasten scheint ihnen am schwersten zu fallen.

Man hat mich auf dem Nil auf ein Motorboot aufmerksam gemacht. O Memphis! – letztes Jahr gab es noch keines, aber dieser Sport ist offenbar im Zunehmen.

Leben Sie wohl, liebe Eltern; (...). Ich umarme Sie.
PIERRE

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Teil 3 Papyrus-Logo Nr. 4/85, pp. 3,  5—8

Nicht erst heute ist das Fayoum ein Anziehungspunkt. Auch frühere Ägyptenreisende unternahmen gerne einen Abstecher dorthin und ihre Beschreibungen sind auch für uns noch von Interesse.

Kairo, den 9. April 1907
Liebe Eltern!
Soeben bin ich aus dem Faijum zurückgekehrt, was Ihnen zeigt, wie lange mein Aufenthalt dort war: acht Tage.
(...)
Ostermontag. – Abfahrt halb 9 Uhr; Ankunft in Medinet el-Faijum gegen halb 12 Uhr. Sie sehen, die Reise ist nicht lang; (...) nach etwa zwanzig Minuten steigt man in der Oase aus.

Es ist Ihnen bekannt, daß das Faijum einstmals (ganz am Anfang unserer Geschichte) eine vollständig mit Wasser bedeckte Senke war; jetzt ist alles trocken, nur der 80 Kilometer lange und durchschnittlich 10 Kilometer breite Karun-See ist noch vorhanden; naturgemäß ist das ganze freigegebene Land äußerst fruchtbar, aber in den mittleren Gebieten ist das Land ziemlich trostlos; verhältnismäßig wenig Palmen und unabsehbare Getreidefelder; der Kranz der Berge ist von Medinet el-Faijum aus kaum sichtbar. Zum Glück bin ich nicht immer dort geblieben.

Während wir ziemlich ratlos waren, wie wir uns in einem rein arabischen Gebiet, wo die Hotels selten, schlecht und übermäßig teuer sind, durchschlagen sollten, haben wir einen ehemaligen Schüler des Kollegs kennengelernt, einen reichen Kopten des Landes, der uns eine Woche lang durch das ganze Faijum gelotst hat, von dem er übrigens ebenfalls viele Winkel nicht kannte.

Am ersten Nachmittag haben wir uns die Ruinen von Arsinoë (Krokodilopolis) angeschaut, die an Medinet grenzen; sie sehen aus wie alle alten Ruinen Ägyptens: eine weite Fläche schwärzlicher Erde, die mehrere Hügel (Kôms) bildet und buchstäblich übersät ist mit Tonscherben. Die Eingeborenen benützen diese Erde als Dünger, und die Aufsicht der Dienststelle zum Schutz der Altertümer ist leider ungenügend und weit davon entfernt, die Hand auf alles zu legen, was ausgegraben wird. In Arsinoë befinden sich sehr ausgedehnte Ruinen, und da die Stadt noch zur Zeit der Griechen in Blüte stand, sind noch viele Hausmauern vorhanden, die man langsam freilegt; diese Häuser müssen niedrig und jedenfalls sehr dicht gedrängt gewesen sein; alle sind aus ungebrannten Ziegeln errichtet, die aus Nilschlamm hergestellt wurden. So baut man noch heute. Im allgemeinen sind die alten Orte des Faijum nur für die Gelehrten interessant, man findet dort viele ägyptische, griechische und koptische Papyri. Aber es sind dort keine großartigen Ruinen wie zum Beispiel in Luxor.

Im Laufe dieses ersten Tages haben wir manche Besuche gemacht, insbesondere einen beim koptisch-orthodoxen, d.h. schismatischen Bischof, einem ehrwürdigen Greis (der leider sehr ungebildet ist! Da die Kopten keine verheirateten Bischöfe wollen und ihre Priester alle verheiratet sind, beziehen sie ihre Bischöfe aus der Abgeschiedenheit der Klöster), der uns auf einen Diwan gekauert und eine 1 Meter 50 lange Pfeife (Tschibuk) rauchend, empfing.

In den letzten Tagen habe ich, glaube ich, im Durchschnitt täglich mindestens zehn Tassen Kaffee getrunken; man muß sagen, daß die Tassen klein sind und daß der Kaffee ausgezeichnet schmeckt; er duftet herrlich und ist dickflüssig wie Rahm.

Unser Gastgeber war noch mitten in der Fastenzeit, da das koptische Osterfest erst in einem Monat gefeiert wird; und die Kopten, vor allem die orthodoxen, haben äußerst strenge Fasten; sie dauern nahezu die Hälfte des Jahres, und während der österlichen Fasten sind Eier, Butter und Fische verboten. Das ist übertrieben, vor allem wenn das Fasten zum wichtigsten religiösen Akt wird. Übrigens hat man sich wohl gehütet, uns ebenfalls dieser Diät zu unterwerfen, da unser Osterfest vorüber ist.

Dienstag. – Vormittags Besichtigung von Bihamu; dort sieht man noch die Dammstraße mit zwei großen Postamenten aus aufeinandergetürmten Quadern, auf denen einst zwei Kolossalstatuen von Pharaonen standen, die jedoch jetzt verschwunden sind. In jener Zeit reichte das Wasser bis an den Rand der Straße, und man nimmt an, dies seien die "Pyramiden", die Strabo mitten im Moëris-See gesehen haben will; er war zweifellos im Augenblick der Überschwemmung hier gewesen. (...) In der Gegend von Bihamu ist das Faijum sehr hübsch, da auch Wald vorhanden ist. Man sieht große Felder von Feigenbäumen, Gärten mit Weinlauben (die Weintrauben des Faijum und seine Hühner sind berühmt) und viele Dattelpalmen.

Nach einem Kaffee beim Omday (einheimischer Bürgermeister) von Bihamu Rückkehr nach Medinet, dann Aufbruch zum Karun-See.

Nach einer halben Stunde Fahrt mit der Eisenbahn (bis Ebchawai) und eineinhalb Stunden Ritt auf dem Esel sind wir bei einem kleinen Hotel oder vielmehr bei einem Jägerhaus angelangt (auf der Karte ist die Stelle mit "Baracken" bezeichnet). Auf einer Landzunge hat ein Hotel mitten in lauter Schilf vier oder fünf große, sehr bequeme Baracken errichtet und dazu ein kleines Gebäude mit einer Zeltplache darüber für die Küche und die Mahlzeiten. Von dort aus kann man nach Herzenslust den Blick genießen, kann den Fröschen im Schilf zuhören und auch einer Art Grasmücke, die schön und laut singt. Im Norden, in Richtung Wüste, endet der See ziemlich unvermittelt, und sofort türmen sich die Bergketten und Hochflächen übereinander; – nach der Seite des Faijum hingegen säumt ein breiter Sumpf voller Tamarisken und Schilf den See, auf dem die Eingeborenen den ganzen Tag lang eine Art von großem Karpfen fischen. Diese drei aufeinanderfolgenden Zonen, der dunkelgrüne Sumpf, der blaue See und die gelben Berge, ergeben ein wunderbares Bild. Wir haben an diesem Ort, im sogenannten "Moëris-Hotel", übernachtet.

Mittwoch. – Wir haben den See am frühen Morgen auf einem tüchtigen Kahn überquert. Ununterbrochen flogen Reiher und große Moorschnepfen aus dem Schilf auf; an der Grenze zwischen Sumpf und tiefem Wasser habe ich Scharen von Bläßhühnern und Enten gesehen. Überall waren welche, bedeckten das Wasser mit schwarzen Punkten, kamen zuweilen so nahe, daß man Farben unterscheiden konnte. Von Zeit zu Zeit sah man majestätische Pelikane schwimmen, denen näher zu kommen nicht leicht sein dürfte; ich hatte das Glück, vier gleichzeitig auffliegen zu sehen.

Bei dieser Gelegenheit fällt mir ein, ich habe festgestellt, daß bei Shelley ein paar Seiten über das Faijum zu finden sind; sie werden Papa besser über die Vögel dieses Landes Auskunft geben, als ich es könnte.

Wir stiegen ans Land und begaben uns zu den Ruinen von Dimeh, dann zehn Kilometer weiter zu dem kleinen, griechischen Tempel von Kasr el-Sagha. Der ganze Umkreis des Sees ist durch Reste ehemaliger griechischer Städte gekennzeichnet, die sich nur durch Bodenwellen im Sand oder durch Mauerteile abheben. Jetzt herrscht reine Wüste.

Als wir uns Dimeh näherten, sah der Oberste der Gafiren (Wächter) der Dienststelle zum Schutz der Altertümer, der uns begleitete, zwei Beduinen im Boden wühlen, was strengstens verboten ist; am Ende hat er sie verhaftet, aber nach einem ziemlich lebhaften Kampf und unter Anwendung von List.
(...)
Dieser Ausflug war mein Hauptziel: Das Gebirge hinter Kasr el-Sagha ist sehr reich an Fossilien, und eine halbe Tagesreise auf dem Kamel weiter, gegen den Dschebel Katrani, hat man ein ganzes Lager von Überresten großer Säugetiere entdeckt, das wissenschaftliche Expeditionen in regelmäßigen Abständen für die Museen bearbeiten. Leider hatte ich in Anbetracht der Entfernung von Kasr el-Sagha sehr wenig Zeit. Ich habe jedoch einen großen Haifischzahn mitgebracht und zahlreiche Exemplare eines merkwürdigen Fossils, das spezifisch für das Faijum ist und von dem man nicht recht weiß, mit welcher Tiergattung man es in Zusammenhang bringen soll. Als ganzes (d.h. rekonstruiert, denn man findet ja nur Bruchstücke) ist das Tier zehn bis zwanzig Zentimeter lang und ebenso breit. Es heißt Kerunia cornuta.
(...)
Freitag. – Wir sind nach Lahun zurückgekehrt, aber diesmal mit einem dieser kleinen landwirtschaftlichen Züge, die das Faijum durchfurchen, um den Nachmittag dort zu verbringen, wo ich auf meiner Karte "Bauernhof" geschrieben habe; dort wohnt ein ehemaliger Schüler, der genau am Eingang zum Faijum in einem Haus, das man fast Rokoko nennen könnte, das Leben eines Landwirts führt. Angesichts der Pyramide von Lahun habe ich von seinem Balkon aus die Felder und die Wüste gesehen und mit Interesse die Szenen des Lebens auf den Feldern in Ägypten verfolgt. Vor dem Haus lag ein großer Berg einer Art von Leguminosen, die ich nicht recht erkannt habe, und wartete auf das Gerät, das sie bearbeiten und die Samen herauslösen sollte: drei Reihen schneidender Stahlscheiben, darüber ein Sitz, und vor das ganze ein Wasserbüffel gespannt. Wasserbüffel, Büffel und Esel fraßen in einem Winkel Klee (Bersim). Schwarze Wolfshunde schliefen da und dort und warteten auf die Nacht, um zu heulen. Das frisch renovierte Haus war ganz und gar charakteristisch für den koptischen Geschmack: außen rosa gestrichen, innen mit Gipsreliefen überladen, die eine Dame mit rotem Sonnenschirm (garantiert ähnlich dem Modell) bei einem Spaziergang am Ufer eines Sees darstellt, in dem Schwäne schwimmen, oder Jäger, die auf der schneebedeckten Erde schlafen, während das Wildbret um sie herumtanzt usw. Das Ganze ist mit Nipptischchen und Leuchttischchen, mit Schund möbliert und mit dicken Teppichen belegt, in denen zahllose Flöhe ihre Schlupfwinkel haben. Im Salon waren wir sechs oder sieben, der Hausherr in grüner Galabiah (Gewand) und gestricktem Käppchen, der Omday des Dorfes, ein zweiter Araber, Holzhändler von Beruf, und ein koptischer Mönch. Auf einem Tisch spielte ein Grammophon (ebenfalls sehr charakteristisch für den ägyptischen Geschmack) arabische Weisen. Man fand sich wieder bei Tisch ein, um einen riesigen Wels zu essen, der uns zu Ehren zubereitet war: die Eingeborenen fielen vor allem über die Bohnenklößchen und die in einer hellen Soße schwimmenden Kräuter her.
(...)
Das Merkwürdigste an diesem Tage war der Anblick der ungeheuren Besitzungen des Nubar Pascha bei Tamieh. Er hat für ganz billiges Geld 5.000 Hektar Land gekauft, die er assaniert und teuer wiederverkauft. Es ist ein landwirtschaftliches Unternehmen großen Stils mit kleinen Eisenbahnen, Dampfpflügen, Planierungsmaschinen, berittenen Verwaltern usw. An sich ist das Land trostlos: unermeßliche Felder ohne einen einzigen Baum und als Abschluß gelber Sand. Die Assanierung des Bodens besteht vor allem darin, ihn zu entsalzen und, was anscheinend weit schwieriger ist, ihm den Stickstoff zu entziehen. Man drainiert und pflanzt Reis, der das Salz absorbiert. Wir wurden empfangen und geführt von einem der Verwalter, einem armenischen Katholiken, der uns gegenüber eine rührende Zuneigung an den Tag legte.
PIERRE

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Ägypten um die Jahrhundertwende – aus der Sicht von Zeitgenossen
Zwei Schweizer Kaufleute in Ägypten

 
Eine Skizze aus der Zeit der Khediven
von Warda Bircher-Bleser
in 4 bzw. 8 Teilen

Teil 1 Papyrus-Logo Nr. 11—12/97, pp. 12—18
(Als Teil 1, in gekürzter Form, auch in Nr. 10/86, pp. 35—37; –Anm. KFN)

I. Bein el-Surein 1889 – Das Büro im Mameluckenpalast

Cairo, den 22. September 1889
"... Zum Glück legte sich der Sturm, so daß wir heil in Alexandrien ankamen. Welch überraschender Anblick! Die Häuser haben im allgemeinen kein Dach und die Eingeborenen tragen die buntesten Kleider. Sobald wir ausstiegen, mußten wir durch den Zoll. Aber keiner unserer Koffer wurde geöffnet und niemand fragte nach unseren Papieren. Wir präsentierten unsere Visitenkarten und gingen weiter. Kaum waren wir draußen, so stürzten sich etwa zwanzig braunschwarze Kerle unter großem Geschrei auf unser Gepäck, das sie einander wegrissen. Jeder trug das von ihm ergatterte Stück in eine Kutsche. Mit großer Mühe fanden wir sie alle wieder und ließen uns schließlich mit drei Gespannen zum Bahnhof führen. Nach einer schrecklichen Reise kamen wir endlich in Cairo an. ... Wir waren über und über mit Sand bedeckt! Unsere Kutsche wartete auf uns und brachte uns zum Haus – dem schönsten und ältesten des Quartiers – vor dem die Bedienten standen und uns begrüßten, indem sie jedem einen schallenden Kuß in den Handteller gaben. ..."

Ländliche Szenerie

Der also schrieb war der 22jährige Schweizer Carl Bircher, der soeben mit seinem Vater Andreas Bircher, einem in Kairo lebenden Kaufmann, zum ersten Mal als Erwachsener nach Ägypten gekommen war, nachdem er, sowie seine Geschwister, ihre Jugend gesundheits- und studienhalber in ihrem nordschweizerischen Heimatstädtchen Aarau verbracht hatten. Kurz zuvor hatte Carl bei der Banque Pury & Co. eine Handelslehre absolviert. Seinem großen Wunsch, nach England zu gehen, hatte der Vater nicht entsprochen, sondern ihn gleich nach den in der Schweiz bei seiner Familie verbrachten Sommerferien in sein eigenes Geschäft aufgenommen.

Den oben zitierten Briefzeilen geht eine begeisterte Reisebeschreibung voran. Von Aarau bis Mailand hatte die seit sieben Jahren eröffnete Gotthardbahn "nur" dreizehn Stunden gebraucht. Achtzehn Jahre früher hatte Carl dieselbe Strecke in umgekehrter Richtung zurückgelegt, und zwar mit seiner Mutter und dem an einer schweren Ophthalmie erkrankten Brüderchen. Es war mitten im Winter, und sie hatten die beschwerliche Fahrt mit der Postkutsche gemacht, der durch den Schweizer Maler Keller so eindrucksvoll verewigten "Gotthardpost".

Die Briefe, von denen ich Auszüge gebe, stammen aus einem alten Kopierbuch. Wie durch ein Wunder sind die 350 Seiten im Laufe der Jahrzehnte nicht durch aufräumende Hände zerstört worden. Es ist ein Genuß, die musterhafte deutsche und lateinische Schrift des jungen Mannes zu lesen, sofern die Kopiertinte nicht entweder zu schwach und vergilbt oder allzu schwarz und klecksig ist, so daß das hauchdünne Papier den schwungvollen Buchstaben entlang zerfressen wurde und in ein verworrenes Spitzenwerk zerfiel.

Einem anderen Freund schrieb Carl:

Cairo, den 28. September 1889
"... Wir haben hier, in Alexandrien und Port-Said, ein Export-Import-Geschäft. Wir exportieren Gummi arabicum, Senes-Blätter, Mokha-Caffee, Brutto-Wachs, Wolle, Elfenbein, Zibeth, Straußenfedern, etc. und importieren alles was man hier an Industrieproducten brauchen kann, wie z.B. Chemicalien, Papier, Stoffe, Kleider, Apparate, etc. Im ganzen sind hier 15 Angestellte, wovon zwei einkassieren, sowie zwei Lehrlinge. Außerdem haben wir etwa 30 Männer und Frauen zum Reinigen und Sieben des Gummis und der Senes-Blätter in unseren Magazinen in Bulaq."

Bulaq, später ein Stadtviertel von Kairo, war damals noch ein Dorf und wichtiger Flußhafen, in welchem Nilbarken und Dampfschiffe mit ihren Waren aus Unter- und Oberägypten sowie aus dem Sudan anlegten. Zwischen Bulaq und dem Europäerviertel in der Gegend des Opernplatzes erstreckten sich noch teilweise Felder und Sümpfe.

"... Auch besitzen wir ca. 2½ Bahnstunden von hier, in El-Uedy am rechten Nilufer eine 1886 von meinem Vater erworbene Gips- und Ziegelfabrik. ... Wir sind hier in Cairo im arabischen Viertel niedergelassen – wie fast alle anderen europäischen Handelshäuser – da sich die Einheimischen nicht gerne in den europäischen Stadtteil begeben. In der Mitte des Hauses befindet sich ein Hof, wo die hereinkommenden Waren gewogen werden. Im Erdgeschoß sind die Bureau-Räume – sie sind mehr als doppelt so hoch als in der Schweiz – und im ersten und zweiten Stock befinden sich unsere Zimmer. Hinter dem Haus ist der 'Khalig el Masri', ein Kanal, der nur Wasser führt, wenn der Nil hoch ist, wie jetzt, wo fast das ganze Land unter Wasser steht. ... Die Häuser haben nie ein Dach und da, wo wir wohnen, ragt jeweils der obere Stock über den unteren heraus, so daß man oft von der Straße aus den Himmel fast nicht mehr sieht. Die Fenster haben schöne, fein geschnitzte hölzerne Erker, die einem erlauben, alles auf der Straße zu beobachten, ohne selber gesehen zu werden. ... "

Das Haus, das Andreas und Carl Bircher bewohnten, war ein alter Mamelucken-Palast aus dem 14. Jahrhundert. Es gehörte dem Waqf (einer islamischen religiösen Stiftung) und war infolgedessen unverkäuflich. Lange Zeit stand es unter Denkmalschutz, mußte aber leider mitsamt dem ganzen malerischen Stadtviertel in der Mitte des 20. Jahrhunderts einer neuen trostlosen Straßentrasse weichen. Es lag in der jetzt verschwundenen "Schareh Bein el-Surein" (die "Straße zwischen den beiden Mauern"). Selbst die Mauern des Hofes waren mit Stalaktiten-Ornamenten verziert und prachtvolle Arabesken bedeckten die Wände des Salamlik, d.h. der Männergemächer, die als Büroräume dienten. Die Erkergitter (Muschrabien) des Haramlik (Frauengemächer) bestanden aus feinster Drechslerarbeit, und der eingetiefte kleine Springbrunnen war mit anmutigen bunten Marmorfliesen verziert. Beim Anblick der breiten Fensterbänke dachte man an die zahllosen Haremsdamen, die sie während mehr als 600 Jahren als Ruhebett benutzt und, in Kissen gebettet, dem bunten Treiben der Straße zugeschaut hatten.

Es schien als ob in diesem Hause in der engen Straße "zwischen den Mauern" die Zeit ein wenig stillgestanden wäre. Noch ein Vierteljahrhundert später, als der arme Carl schon längst nicht mehr unter den Lebenden weilte, fühlte es sich da an wie in einem orientalischen Märchen. Noch ritten stolze Beduinen auf ihren herrlichen Pferden oder auf schneeweißen Mehari-Kamelen vorbei und es gab noch Koranleser und Märchenerzähler mit riesigen Turbanen, vermummte tiefverschleierte Frauen, in schwarze Seide gekleidet und von Eunuchen begleitet, sowie ein Heer von Straßenverkäufern, die ihre Waren in melodischen Sprüchen anboten: Wasserverkäufer mit ihren prallen Ziegenschläuchen und der Mann mit dem dunkeln schäumenden Süßholz-Rosinen- oder Orangenblütensaft, der roten gestreiften Schürze und den fröhlich klingenden Messingtellerchen, die er mit der linken Hand unermüdlich gegeneinander schlug. ... Da waren auch die Wägelchen der Garküchen mit ihren bunten Glasscheiben und duftenden gebratenen Fischen oder Fleischklößen, Karren mit Kokos- und Erdnüssen, Linsen, Jujuben, süßen Kartoffeln, die Eselwagen mit violetten Eierfrüchten, rotem Pfeffer, rosigen Blutorangen, goldgelben Kichererbsen und grasgrünen Gurken. Jeder pries seine Ware, die Käufer feilschten, Peitschen knallten, die Kutscher riefen den Passanten zu, die Esel schrieen und stahlen einander den saftigen Klee, und in einer Ecke blähte ein Kamelhengst unter lautem Gurgeln seine riesige Zunge. Trat ein Augenblick der Stille ein, so hörte man das Klappern der Holzsohlen auf Dachterrassen und Treppen oder das Aufschlagen der Würfel des beliebten Tric-Trac-Spieles im nahen Café, dessen übrige Klienten in stiller Zufriedenheit ihre Wasserpfeifen rauchten. Manchmal drang, vom Winde getragen, die Stimme des Muezzins in die bunte Symphonie des Alltags. Und wenn dann die Kohl-umrandeten Augen der verborgenen Zuschauerin sich schlossen, vom Schauen müde, und über die warmen Mittagsstunden die Klänge verstummten, dann waren es nur noch Düfte, Dämpfe und Gerüche, die da hinaufstiegen von irgendwoher: Weihrauch, Rosenwasser, gefüllter Jasmin, Orangenblüten, heißes Hammelfett, Knoblauch, Melonen und Zwiebeln, Zibeth oder Gewürze, die jemand im Messingtiegel verrieb oder verstampfte.

 (Folgendes, als Teil 2, in gekürzter Form, auch in Nr. 11/86, pp. 47—49; –Anm. KFN)

Erste Eindrücke

Einem seiner Neuenburger Freunde schreibt Carl:

Cairo, den 29. September 1889
"Es gibt hier viele Griechen, Italiener, Franzosen, Deutsche, wenige Engländer, ein paar Skandinavier und Schweizer, etc., sowie sehr viele Mohamedaner von allen Hautfarben, von den Türken, die fast weiß sind, bis zu den zentralafrikanischen Sklaven, die schwärzer sind als Kohle. Ja man findet hier noch viele Sklaven, das kannst Du mir ruhig glauben. Neun Zehntel der Bevölkerung sind einheimische Araber und auf der Straße übertönt bei Zänkereien ihr Geschrei oft dasjenige der Esel, von denen es hier Tausende gibt. Die Europäer gehen hier nicht viel zu Fuß, sondern fahren in Kutschen oder reiten auf Pferden oder Eseln. Wir haben einen Wagen mit zwei Pferden, mit dem wir schon öfters ausgefahren sind. Ich werde mir nächstens einen Esel kaufen. Es sind lustige Thiere, aber man wird beim Reiten ziemlich gerüttelt, und manchmal fällt es dem Esel ein zu versuchen, sich seiner Last zu entledigen: er läßt sich auf die Vorderbeine fallen und der unglückselige Reiter macht einen unfreiwilligen Sprung, Kopf voran. ... Bei den Pyramiden bin ich noch nicht gewesen, denn es braucht zwei Stunden per Esel oder Wagen, um dahin zu gelangen. An Weihnachten werde ich sie aber besuchen können: das ist nämlich der einzige Tag im Jahr, wo wir schon am Vormittag frei haben. ... "

Die große Überschwemmung des Nils brachte damals eine uns unbekannte Welle von feuchter Hitze, bis dann beim Fallen der Gewässer ziemlich plötzlich der Winter hereinbrach. So schreibt Carl seinem Freund Sement:

Cairo, den 30. September 1889
"... Du stellst Dir vor, ich sei hier im Paradies und könne im Schatten meines Zeltes schlafen und Krokodile füttern! Nein, Krokodile gibt es nur in Oberägypten. Das Land ist schön und interessant, der Himmel fast immer blau und es regnet beinahe nie. Aber das ist auch alles. Das Klima ist für Europäer ungesund und manche sind am Anfang krank, besonders jetzt, wo der Nil über seine Ufer getreten ist und das ganze Land bedeckt. Die bebaubaren Flächen, die ihre Bewässerung ausschließlich von der Nilüberschwemmung erhalten, geben nur eine Ernte, während die künstlich bewässerten Felder zwei Ernten im Jahr einbringen."

"... Oft ist es heiß, um aus der Haut zu fliegen – noch jetzt 32—35° im Bureau. Nachts kann man der Moskitos wegen kaum schlafen und mein Körper ist mit Stichen überdeckt. Wie oft sehne ich mich nach Neuenburg zurück und nach den guten Freunden des kaufmännischen Vereins! Ich kenne noch keinen einzigen jungen Mann außer den Bureau-Angestellten. Jeder lebt für sich. Auch muß man sich hier in Acht nehmen, mit wem man verkehrt. Viele Verbrecher und Lumpen kommen aus Europa hierher, da die europäischen Länder mit Ägypten keinen Auslieferungsvertrag haben."

Seinen Kollegen vom Handelsverein in Neuenburg (Neuchâtel) schreibt Carl Anfang Dezember:

"Die Europäer werden hier im allgemeinen ganz gerne gesehen mit Ausnahme der Engländer, die, wie man mir sagt, meistens verhaßt sind. Wenn die Araber eine ausländische Sprache können, dann ist es fast immer Französisch, das die Vermögenderen in den Schulen der 'Frères de la Mission Chrètienne' oder der Jesuitenpater gelernt haben. Auch die Europäer sprechen fast alle Französisch, obschon es hier mehr Italiener und Griechen gibt als Franzosen. Englisch wird sehr wenig gesprochen. ..."

Da "André" und "Charles" Bircher, wie sehr viele Schweizer, durch ihre Ausbildung zweisprachig waren, fühlten sie sich in einem französisch orientierten Milieu heimisch, das übrigens, wie wir noch merken werden, alles andere als englischfreundlich war.

"Das Leben ist hier ziemlich eintönig; es gibt weder Conzerte noch Theatervorführungen, obschon Cairo drei neue Theatergebäude besitzt! Alle Truppen, die während der letzten drei Jahre gekommen sind, haben Fiasco gemacht. Jetzt gibt es nur ein Marionettentheater, das offenbar ausgezeichnete Geschäfte macht, sogar der Khedive hat einer Vorstellung beigewohnt!"

Wie die meisten jungen Leute sah Carl die hohe künstlerische Leistung solcher Puppenvorführungen nicht. Am 17. Januar 1890 schreibt er einem anderen Freund:

"Seitdem ich hier bin, hat es nur dreimal geregnet, aber dann mit solcher Wucht, daß die ungepflasterten Straßen in Seen und Sümpfe verwandelt waren, besonders da es ja hier keine Leitungen für Abwasser gibt. Wohl bestanden früher welche, aber die Engländer haben sie (wohl aus hygienischen Gründen) auffüllen lassen. ... Um sie zu bauen, hat Ägypten 80 000 Franken ausgegeben, und um sie aufzufüllen 50 000. Jetzt wird man sie wieder neu machen lassen, und die Engländer werden den Profit davon einziehen, während die armen Fellachen das Geld herausschwitzen müssen!"

"Du kannst Dir vorstellen, wie ungesund dieser Zustand ist. Am Tag nach dem großen Regen war der Schlamm einen halben Meter dick, und an verschiedenen Orten ist das Wasser in die Häuser eingedrungen, so daß manche zusammengestürzt sind. Jemand hat ein kleines Schiffchen aus einer Pfütze gezogen und auf die Straße gestellt mit der Aufschrift 'Progrès'! Als ich neulich im Schlamm nicht mehr weiterkam, mußte ich einen Esel mieten."

"... Ich kenne die hiesigen Sitten und Gebräuche noch zu wenig, will aber probieren, Dir ein Bild aus dem Alltag zu geben. Die Einwohner tragen meist ein sehr langes Hemd und darüber oft einen langen einfachen Mantel, der bis auf den Boden reicht. Manche tragen nur kurze Hosen – wie Badehosen aus Fell (Sklaven?). Andere hüllen sich in ein großes mantelartiges Tuch und haben darunter ein Gilet und Türkenhosen. Den Kopf bedeckt ein Turban. Die Füße stecken in Pantoffeln oder Sandalen, die aber beim Eintreten in einen Wohnraum ausgezogen und vor der Tür stehen gelassen werden. Die Leute treten also immer barfuß ein, behalten aber ihren Turban auf dem Kopf. Ihn abzunehmen, wäre höchst unhöflich. Beim untertänigen Gruß nehmen sie die Hand des anderen in die beiden ihrigen und küssen sie. Beim gewöhnlichen höflichen Gruß halten sie ihre eigene Hand vor den Mund und entnehmen diesem einen Kuß mit ihren Fingern – wie bei uns, wenn man dem schönen Geschlecht Handküsse zuschickt. Dann berühren sie mit derselben Hand ihre Brust und schließlich ihren Kopf. Diejenigen, die nicht allzu höflich sein wollen, machen nur letzteres, wie ein militärischer Gruß. Das ist einfacher als sich, wie bei uns, den Hutrand abzunutzen."

"... Die Araber sind sehr lebhaft und scheinen oft zu streiten und sich zu beschimpfen. Auch sind sie sehr schlau und verschlagen und ihrem Herrn gegenüber sehr ergeben. Im übrigen fällt das fröhliche sorglose Gebahren auch der Ärmsten unter ihnen auf. Oft sind sie unehrlich aber immer höflich. Die Ärmeren essen fast nur Brot mit etwas Käse, rohen Gurken, Zwiebeln, Knoblauch, Rettiche und ein paar Datteln. Sie singen viel und arbeiten gerade genug, um leben zu können."

"... Die Kaufläden bestehen aus einer Öffnung in der Mauer, die etwa 2—3 Quadratmeter beträgt. Da sind die Waren aufgetürmt, und der Verkäufer sitzt mit verschränkten Beinen oben drauf. Ist in dieser Nische kein Platz mehr, so werden die Verkaufsobjekte auf der Straße vor dem Laden aufgestapelt."

Es ist interessant, Carls Bemerkung, daß es in Ägypten noch viele Sklaven gebe, mit folgendem Satz im kleinen illustrierten, 1892 anläßlich der Einweihung des neuen luxuriösen "Shepheard's Hotel" herausgegebenen Reiseführers zu vergleichen, der unter der Rubrik "Sklavenmarkt" folgendes aussagt: "Die noch viel verbreitete Meinung, daß in Ägypten offener Sklavenhandel betrieben wird, ist absolut falsch." Um so umfangreicher gestaltete sich wahrscheinlich der klandestine Handel.

Unter Brüdern

Vertraulichere Briefe schreibt (manchmal in Geheimschrift) Carl seinem 19jährigen Bruder Alfred:

Cairo, den 5. Oktober 1889
"Im Bureau wird von morgens 8 bis um 12½ gearbeitet, und dann wieder von 3 bis 8. Aber zweimal in der Woche, wenn Kurier ist (Anm. 1), wobei jeweils Briefe für ganz Europa geschrieben werden müssen, sind die Bureauzeiten um zwei Stunden verlängert. Auch am Sonntag Vormittag wird gearbeitet, da ja die Muselmanen ihren Feiertag am Freitag haben. Manchmal arbeiten wir sogar am Freitag Nachmittag. Ich halte das Hauptbuch und helfe mit der deutschen Korrespondenz."

Wie sorgfältig wurde diese Korrespondenz geführt! Wie gepflegt und schwungvoll die Schrift, wie höflich und liebenswürdig der Text! Es war nicht leicht, neue Kunden zu finden, und die Werbung hatte noch jene menschliche Note, die uns im Zeitalter der Großbetriebe abhanden gekommen ist. Carl fährt weiter:

"Auf Deine Frage, wieviel Geld ich bekomme, kann ich Dir leider noch nicht antworten. Papa erwidert auf meine Frage immer, er müsse zuerst sehen, was ich leiste. Er hat nämlich einem Angestellten aufgekündigt; bis dieser fort ist, habe ich keine fixe Arbeit. Er hat mir aber versprochen, es mir bis am Neujahr mitzuteilen. Gestern sagte Papa, er müsse zuerst mit B. reden, da dieser immer sehe, was ich mache."

"... Alle Angestellten mußten am Sonntag bis um 5 Uhr arbeiten, Papa aber war bis um 10 Uhr abends an seinem Stehpult, weil der Kurier ausnahmsweise am Montag fuhr. Deine neue Schreibweise gefällt Papa gar nicht, vor allem die Aufschrift auf Deinem letzten Brief. Bitte mache keine Zeichnungen auf den Umschlag Deiner Briefe. Übrigens hat Papa letztesmal vier Fehler in der Adresse festgestellt und will Dir darüber schreiben!"

"... Der Nil fängt jetzt an abzunehmen, und der Khalig beginnt zu stinken."

"... Ich war überrascht zu vernehmen, daß Du plötzlich angefangen hast zu photographieren, ich glaube es ist ansteckend. Es wäre nun sehr gut, wenn wir Erfahrungen austauschen könnten. Leider gibt es hier kein fließendes Wasser. Ich hatte schon die schönsten Platten , that sie für eine Viertelstunde ins Wasser und als ich sie herausnahm, waren sie ganz unbrauchbar."

Die Photographie war Carls größte Leidenschaft, und die Versuche und Experimente, die er seinem Bruder mitteilte, würden wohl einen kleinen Beitrag zur Geschichte der Anfänge dieser Kunst liefern können.

In einem Brief an die Diezsche Hofbuchdruckerei in Coburg fragt er an, ob diese Firma ihm die Vertretung der Spezialität von Visitenkarten mit Photographie anvertrauen würde. Eine Anzahl prachtvoller großformatiger ägyptischer und schweizerischer Landschaften und Straßenszenen sind von seinem kurzen Erdendasein übriggeblieben. Momentaufnahmen konnte man leider noch nicht machen, sonst hätte Carl gewiß auch damals die reichhaltige Vogelwelt des Niltals photographiert anstatt sie, wie wir sehen werden, nur zu erlegen.

Zahlreiche Briefe beziehen sich auf das ebenfalls mit großem Eifer betriebene Briefmarkengeschäft. Carl scheint sich einer großen Kundschaft erfreut zu haben und besaß seinen eigenen Katalog. Mit seinem Bruder, der ein emsiger Sammler ist, steht er in lebhaftem Tauschverkehr. Sehr beliebt scheinen damals die sogenannten "Couvert-Ausschnitte" gewesen zu sein.

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Teil 2 Papyrus-Logo Nr. 1—2/98, pp. 26—33

 (Folgendes, als Teil 3, in gekürzter Form, auch in Nr. 12/86, pp. 63—65; –Anm. KFN)

Festlichkeiten und Märchennächte

Folgende Beschreibung ist für Carls Freund Otto bestimmt:

"Gestern Abend waren wir bei einem unserer Arbeiter zur Hochzeit eingeladen. Zuerst, als es noch hell war, kam der Umzug: zuvörderst die Musik, dann etwa 20 Fahnen, dahinter die Kutschen mit Frauen und Kindern, die inmitten eines ohrenbetäubenden Lärmes Reis und parfümiertes Wasser auf die Fußgänger warfen. Für den Abend waren eine Unmenge Leute eingeladen und die ganze Straße mit Flaggen, bunten Stoffen und Lampen erfüllt. Die Gäste (es waren mehrere Hundert) saßen auf Bänken und ein jeder bekam ein Täßchen Kaffee und ein Glas Wasser. Das genügt ihnen für die ganze Nacht, während wir mindestens mehrere Humpen Bier haben müßten. Um Mitternacht kommt der Bräutigam ins Zimmer der Braut, die bis dahin von unzähligen singenden, tanzenden und kreischenden Frauen umgeben ist. Ein Polizist hat uns dann heimbegleitet, und als er sein Trinkgeld bekam, verneigte er sich und küßte uns die Hand."

"Bei größeren offiziellen Hochzeiten und Beschneidungen gibt es riesige Umzüge durch die ganze Stadt. Zuvorderst sind die Derwische und hinter ihnen eine Gruppe von Kriegern, die einander ab und zu Säbelhiebe versetzen, welche aber immer meisterhaft zurückgeschlagen werden. Dann kommen zwei wundervolle mit Teppichen dekorierte Kamele, draufhin die Sänger, gefolgt von Musikanten, die so laut spielen, daß einem die Ohren weh tun. Es folgen Gespanne aller Art mit Gästen. Der Wagen der Braut ist ganz mit einem Tuch zugedeckt."

Seinem Freund Mutz aus Neuenburg schrieb Carl am 25. November:

"Viele Leute haben jetzt eine Art Sumpffieber die man 'dingue' nennt. ... Vor 14 Tagen gingen wir zweimal mit einem einheimischen Diener an die abendliche Feier der Geburt des Propheten, dem 'Muled el-Nebi'. Da wurde in Hunderten von großen Zelten gebetet, getanzt, mit Stöcken gefochten, kindliche Spiele gemacht oder Märchen erzählt. Am interessantesten waren spät nachts die Negertänze, eine Art wilder Pantomimen, über die unsere Europäer erröten würden! Ja die Neuenburger hätten bei diesem Anblick die Hände vor die Augen gehalten, um nicht oder vielmehr um besser zu sehen, weißt Du etwa so." (Es folgt eine kleine Zeichnung). "Ich bin aber sicher, daß nicht viele Fremde diese Tänze kennen, da man sie zu finden wissen muß. Die Tänzer bilden einen großen Kreis, in dessen Mitte die Männer mit dem Fuß auf eine Art Trommel schlagen. Dann kommen die Frauen und beschreiben graziöse Umdrehungen indem sie den Männern immer etwas zuvorkommen. Die Männer tanzen dann um die Frauen herum, während diese mit dem Bauch Bewegungen machen, die jeden zivilisierten Zuschauer entrüsten würden. ... Schließlich krümmen und verrenken sich die Tänzer wie Wahnsinnige. (Anm. 2) Die Festlichkeiten dauern mehr als zwei Wochen. Wir waren an den beiden letzten Tagen dabei. Zum Glück trugen wir unsere Tarbusche , sonst hätte uns vielleicht etwas zustoßen können. Am Abend zuvor hatten wir nämlich unsere Strohhüte an, um bei den Zelten – wo also jedermann hinkommt – die Feuerwerke zu Ehren des Prinzen von Wales mit anzusehen. Da hörten wir einige Araber, die sehr ärgerlich waren und sagten, es sei eine Schande, daß man hier Leute mit solchen Hüten zulasse! Hier gilt also das Sprichtwort 'Kleider machen Leute' nicht, sondern 'der Tarbusch macht den Mann'!"

Zikr mit Schwingungen
Zikr mit Schwingungen

In den folgenden Zeilen beschreibt Carl einen "Zikr" (Übung) der sogenannten "tanzenden Derwische", die sich auf diese Weise in einen Erregungszustand bringen. Die Seele der Verzückten gilt dann als mehr oder weniger mit Gott vereint.

"In mindestens 50 Zelten hatten sich die Mitglieder der verschiedenen islamischen Sekten zum Beten vereinigt. Die Gläubigen bilden einen Kreis, in dessen Mitte sich der Scheich befindet. Er singt heilige Texte, indem er mit der Hand den Takt schlägt. Die Gläubigen machen dabei die unglaublichsten Bewegungen: Zuerst drehen sie den Kopf blitzschnell bald nach rechts und bald nach links. Dann tönt der Scheich ein anderes Lied an und die Anwesenden beugen sich nach vorn und nach hinten mit den unvorstellbarsten Verzerrungen. ... Dies dauert stundenlang, bis mehrere von ihnen umfallen, 'vom Geiste berauscht', wie sie sagen, während Schaum aus ihrem Munde fließt."

Zikr mit Neigungen
Zikr mit Neigungen

Ebenfalls vom November 1889 datiert folgende Beschreibung von einem anderen sehr wichtigen islamischen Fest: die Rückkehr der Mekkapilger und des heiligen Teppichs oder der heiligen Fahne (Kisueh). Die Kisueh war ein aus acht Stücken zusammengesetzter schwarzer Brokat mit aus Goldfäden gestickten heiligen Texten. Sie wurde in einem pyramidenförmigen Baldachin, dem Mahmal (ein Symbol königlicher Würde) nach Mekka gebracht. Auch das Zusammensetzen der verschiedenen Teile der Kisueh, sowie der Aufbruch der Pilgerkarawane im Beisein des Khediven waren Anlässe großer Festlichkeiten. Viele Reisende haben diese Feierlichkeiten beschrieben, doch hat jede Epoche ihre eigenen Varianten.

"... Es gab wieder einen riesigen Umzug. Zuerst erschien die berittene Polizei auf Kamelen und Pferden, dann Artillerie mit Geschützen, danach Kavallerie und dahinter Infanterie, alle mit ihren Gewehren und den Bannern ihrer Moscheen – jede Moschee hat nämlich ihre eigene Fahne. Endlich erschien dann die heilige Mekka-Fahne auf einem prächtigen Kamel mit ungeheurem Gefolge. Es ist dies die Fahne, die während eines Jahres auf der Kaaba, dem Heiligtum von Mekka, gelegen hat, und die jedes Jahr erneuert wird. Der ganze Umzug steigt schließlich zur Zitadelle hinauf, wo der kostbare Teppich in kleine Stücke zerschnitten wird, die unter den Pilgern vertheilt und von diesen als heilige Reliquie aufbewahrt werden."

 (Folgendes, als Teil 4, in gekürzter Form, auch in Nr. 1/87, pp. 52—56; –Anm. KFN)

II. Der Außenposten von El-Uedy

Schon am 21. Oktober schrieb Carl einem Freund:

"Wir sind nicht, wie projektiert, nach Ras Schukeir am Roten Meer gegangen, da wir über Transportmittel, Kosten, Sicherheit und Qualität der dortigen Gipslager ungünstige Berichte eingezogen hatten. Hingegen waren wir in El-Uedy. Die Reise war sehr schön. Zuerst geht's mit der Bahn über Dämme. Das ganze Land ist jetzt überschwemmt und gewährt einen prächtigen Anblick. Die Dattelpalmen ragen einzeln heraus, und in der Ferne, auf dem Fluß fahren Barken mit riesigen Segeln. Nach einer zweieinhalbstündigen Bahnfahrt hält man auf einer Station (Matania), die aus einem alten Eisenbahnwagen besteht. Hierauf durchschreitet man ein einheimisches Dorf und geht dann wieder auf Dämmen, zugleich Enten, Tauben und Wildgänse jagend, weiter bis zum eigentlichen Nilufer, wo man von einer Barke ans jenseitige Ufer gebracht wird."

Näheres erfahren wir aus einem langen Brief vom 15. Februar 1890 an Carls Bruder Alfred.

"Am Tag vor Weihnachten kamen wir, eines ziemlich starken Regens wegen, mit mehreren Stunden Verspätung gegen Abend am Nilufer an, wo uns wiederum eine unserer Barken erwartete. Wir hatten unsere Gewehre und Photographen-Apparate bei uns. Da wir aber mit Gegenwind fuhren, kamen wir eine Wegstunde unterhalb der Fabrik an, und drei Mann mußten das Schiff den Fluß aufwärts tauen. Ich kann Dir sagen, ich habe noch kaum etwas Großartigeres gesehen als diese abendliche Landschaft: Im Westen die weite Wasserfläche, das fruchtbare Nilthal und dahinter die Wüste im Lichte der letzten Sonnenstrahlen. Bald herrschte um uns fast völlige Dunkelheit und eine Stille, die nur unterbrochen wurde durch das Plätschern der kleinen Wellen, die am Bug zerbrachen, den Schrei einiger aufgeschreckter Nachtvögel und dem eintönigen Gesang der Männer, die die Barke zogen."

"Wir kamen erst um 8 Uhr in der Fabrik an, wo wir in einem eigens zu diesem Zweck errichteten Häuschen übernachteten. Ich stand früh auf, weil ich um die Anlage herum jagen wollte, hatte aber keinen Erfolg. In den auf beiden Seiten der Fabrik zu einem Berg aufgehäuften Maisstengel – die als Brennmaterial für die Öfen dienen – soll sich nämlich jeden Morgen eine Hyäne verstecken, und ich wollte sie herausjagen lassen, kam aber nicht dazu, da wir die Maschinen und Instrumente besichtigen mußten."

Ob Carl wohl an die alten Ägypter dachte, für die das Fleisch dieser Tiere ein Leckerbissen war, die sich Hyänen als Haustiere hielten und sie sogar nudelten, wie es auf verschiedenen herrlichen Reliefs in der Mastaba des Mereruka in Sakkara dargestellt ist?

"Die Anlage ist ziemlich groß und besteht aus vier Öfen zum Brennen der Ziegel, zwei für Gips und einen für feinen Gips ('Massis'), zwei Gipsmühlen, wovon die eine mit Dampf angetrieben wird, während in der andern, kleineren zwischen Steinen gemahlen wird; zwei große Dampfmaschinen, etc. In der Fabrik sind über hundert Arbeiter beschäftigt, alles Araber, bis auf den Aufseher und den Maschinisten, die Italiener sind. Leider hat der letzte Regen eine Sachschaden von etwa 2.000 Franken angerichtet: Erstens sind die geformten und noch ungebrannten Ziegel, die zum Trocknen dalagen, von den Regentropfen zerlöchert worden. Zweitens ist der fertige Gips vom Wasser benetzt und unbrauchbar geworden. Und wenn zwischen den enormen Massen von Maisstengeln ('Bus') ein Feuer ausbrechen würde, dann wäre die ganze Fabrik und alles verloren. Auf dem Nil haben wir vier große Segelbarken für den Transport von Gips und Ziegeln."

"... Um 10½ Uhr brachen wir zu einer kleinen Landreise auf, wobei wir beim Dorfe Saff auf Turteltauben schossen. Nach einem zweistündigen Marsch gelangten wir wieder an den Nil, wo uns die Barke erwartete. Wir fuhren dann den Fluß hinunter, nach Gänsen, Enten, Pelikanen und anderen Wasservögeln ausspähend. Es gibt wohl kaum etwas Schöneres als das Panorama, das sich vor unseren Augen entfaltete, das satte Grün der Kleefelder, die ferne rötlichgelbe Wüste mit ihren blaßvioletten Tafelbergen, und auf der linken Seite die Silhouetten der Pyramiden. Auf beiden Ufern standen Wasservögel aller Art, auch Kraniche und andere große Vögel, einige wohl fast einen Meter hoch. Erstere bildeten meistes Gruppen von 40—50 und schliefen, indem sie auf einem Bein standen und den Kopf zwischen die Federn steckten. Nur drei waren wach, sie fungierten als Wächter und hielten sich etwa zehn Schritte vom Hauptschwarm entfernt. Gänse und Enten waren selten, und nur einmal schossen wir auf eine Gruppe von rothen Gänsen – schöne Tiere – sie waren aber zu weit weg. Aber plötzlich zeigte dann einer der Schiffsleute auf zwei Enten, die etwa acht Schritte von uns entfernt ruhig dastanden ... und nach zwei weiteren Schüssen waren sie unser Besitz! Da Papa Angst hatte, die Bahnstation nicht rechtzeitig zu erreichen, mußten wir, wenn auch ungern, an einigen Schwärmen vorbeifahren. Um 5 Uhr kamen wir in Bedraschein an und hatten somit etwa die halbe Strecke zwischen der Fabrik und Cairo per Schiff zurückgelegt. Wenn wir nur Deine Barke hier hätten! Da könnte man auf die Enten- und Gänsejagd gehen! Die hiesigen Schiffe sind zu groß und haben zu viel Tiefgang."

Keiner von den dreien, weder Andreas Bircher, noch der Schreiber des obigen Briefes, noch dessen Empfänger, der junge Alfred, ahnten damals, daß letzterer schon vier Jahre später diese Fabrik leiten würden. Und zwar so vorzüglich, daß er 1894 vom Khediven Abbas anläßlich einer Ausstellung ägyptischer Industrieprodukte in Alexandrien eine goldene Medaille für seine Backsteine empfing oder daß er im folgenden Jahrhundert in El-Uedy (das Areal wurde später dem Distrikt von Saff zugeteilt) eine berühmte Sammlung exotischer Bäume anlegen würde, deren Erzeugnisse ihm viele Auszeichnungen bringen sollten, sowie daß er schließlich, nach langen Jahren harter Arbeit und unzähliger Schwierigkeiten, das ganze Areal in einen einzigartigen, fast sieben Hektare umfassenden Garten verwandeln würde. (Anm. 3) Aber einstweilen besuchte Alfred noch das Gymnasium, wo er sich – sein Vater hätte es nicht anders toleriert – gute Noten holte. Noch standen ihm der Militärdienst (den er als Pontonnier absolvierte) und die obligate Banklehre bevor, denn auch für diesen zweiten, vielseitig begabten Sohn hatte Andreas Bircher kein Universitätsstudium vorgesehen.

III. Der Vater – unter Pionieren, Forschern und Gelehrten

Wer war dieser gebieterische, scheinbar unnahbare Mann, der jahraus, jahrein täglich seine 10—15 Stunden am Stehpult verbrachte, hart für seine Mitarbeiter und unbarmherzig gegen sich selbst? Wann und wieso war er nach Ägypten gekommen? Seit wann lebte er in seinem alten Palast?

Die Vorfahren des Andreas Bircher stammten aus dem Bauernstand einer anmutigen waldreichen Gegend am Fuße des Aargauer Juras in der Nordschweiz. Aber ihn und seinen Bruder zog es schon früh in die Ferne. Während letzterer sich in der "Goldecke" von Westaustralien niederließ, reiste Andreas im Jahre 1862 nach Ägypten, dem verheißungsvollen Lande, das seit mehr als einem halben Jahrhundert wieder in den Brennpunkt der Geschichte gerückt war. Vom "Kranken Mann am Bosporus" hatte es sich schon damals teilweise gelöst, und jetzt sorgten die Nachfolger von Mohammed Ali dafür, daß durch Gelehrte und Techniker (vorläufig meistens französische) das Land wiederum auf eine Entwicklungsstufe gebracht werde, die seiner wunderbaren, durch die Entzifferung der Hieroglyphen zu neuem Leben erwachten Vergangenheit würdig war. Ein prachtvolles Arbeitsfeld für einen unternehmungsfreudigen jungen Kaufmann, der zudem noch, wie Andreas Bircher, einen offenen Geist für alle Bereiche des Wissens besaß.

Obwohl er mit leeren Taschen in Alexandrien angekommen war, hatte der junge Mann schon drei Jahre später, als 25jähriger, sein eigenes Export-Import-Geschäft gegründet. Leider sind keine brieflichen Mitteilungen aus jener Zeit mehr vorhanden. Auf einer großen, von einem armenischen Photographen ausgeführten Aufnahme – die damals noch neue Kunst des Porträtphotographieren war in Kairo schon seit jeher in den Händen der Armenier – sehen wir ihn auf einer mit prachtvollen Kletterkakteen bewachsenen Terrasse, seiner jungen, schönen Frau aus einem Buche vorlesend.

Wir wissen nur, daß er schon früh aus seinem kaufmännischen Rahmen herausgewachsen und, wie wir sehen werden, eine nicht unwichtige Rolle in der Entwicklung der ausländischen und vor allem der schweizerischen Kolonien in Ägypten spielen sollte.

Andererseits gehört die Zeitspanne, aus der Carls Briefe stammen, zum schwierigsten Teil der Laufbahn dieses eminenten und vielseitigen Geschäftsmannes. Darum erscheint uns das aus der Korrespondenz seines Sohnes hervorgehende Bild recht unvollständig. Nach des Tages Arbeit meldeten sich damals nicht oft Gäste, sondern all die Probleme, Bilanzen und Schreibereien, für die man tagsüber keine Zeit gefunden hatte; und auf die sauren Wochen folgten keine frohen Feste. Der Wegfall des Sudans als Handelspartner, die Schwierigkeiten mit dem Personal, die Gegenschläge in seiner Filiale in Port-Said und die Problematik von El-Uedy lasteten schwer auf den Schultern des Geschäftsinhabers.

Es ist gut möglich, daß sich Andreas Bircher unter den 1.000 geladenen Gästen des Khediven Ismail befand, als der Kanal 1869 mit unbeschreiblichem Prunk eröffnet wurde. Der Monarch legte großes Gewicht darauf, sich mit allen hervorragenden Europäern zu umgeben, die damals in Ägypten weilten. Durch seine sich unermüdlich für alles Wissenswerte einsetzende Persönlichkeit, seine vielfältigen Interessen und sein florierendes Geschäft hatte sich Andreas Bircher schon damals einen Namen in den ausländischen Kreisen Kairos gemacht. Unter seinen Freunden befanden sich der deutsche Botaniker Sickenberger und der baltische Forscher Georg Schweinfurth, der schon 1868 erstmals nach Ägypten kam. Mit letzterem und einigen andern Persönlichkeiten zusammen gründete Andreas Bircher ein paar Jahre später die "Societé Khédiviale de Géographie", die schon sehr bald ein Treffpunkt aller sich in Ägypten befindenden Afrika-Forscher und -Kenner wurde und später mit einem der Initiative Schweinfurths zu verdankenden kleinen ethnographischen Museum versehen werden sollte. Schon im ersten Jahr seines Bestehens befanden sich mehrere Schweizer unter den Mitgliedern, worunter verschiedene Kaufleute. Zu Stanley hatte Andreas Bircher eine persönliche Beziehung, und er hat wahrscheinlich auch Emin, Baker, Gordon und Gessi gekannt. Abgesehen von den verschiedenen schweizerischen Paläontologen wie Meyer-Eymar, de Loriol, Theophil Studer und P.S. de la Harpe, die im letzten Jahrhundert Ägypten besuchten, verkehrte in seinem Haus vor allem der außerordentlich vielseitige und unermüdliche Schweizer Pionier Werner Munzinger, dessen Portrait – eine Gabe von Andreas Bircher – jetzt in einem der Säle der Geographischen Gesellschaft hängt.

Nachdem Munzinger in Kairo seine linguistischen Studien vervollständigt hatte, leitete er für eine Handelsfirma in Alexandrien eine Expedition nach Djedda und Massaua, wo er sich später für Forschungszwecke niederließ. 1871 ernannte ihn Ismail zum Gouverneur von Ost-Sudan, wo er sich als hervorragender Administrator auswies. Sein erster Schritt galt der Befreiung zahlreicher Gefangener, die ohne bekannten Grund schon jahrelang in den Gefängnissen saßen. Später arbeitete er eine neue Gesetzgebung für das Steuerwesen aus und erschuf eine ertragreiche Landwirtschaft, indem er der Baumwollkultur in der Gegend von Tokat seine ganze Aufmerksamkeit schenkte und zugleich auch energisch gegen den Sklavenhandel ankämpfte. Er wurde, erst 45jährig , von einem abessinischen Krieger getötet, und mit ihm ging leider auch sein zivilisatorisches Werk, für das er sich mit außerordentlichem Können und größter Selbstlosigkeit eingesetzt hatte, wieder zugrunde.

Ein weiterer, sich gänzlich für die Abschaffung des Sklaventums einsetzender Schweizer jener Zeit war Gottfried Roth. Um in den Sudan zu gelangen, wird er vorerst Französischlehrer an der amerikanischen Missionsschule von Assiut. Als er eines Tages eine große Karawane mit Elfenbein, Gummi arabicum, Straußenfedern und Sklaven antrifft, zögert er nicht, sofort nach Kairo zu reisen, um dem Khediven den von Ismail unterschriebenen Vertrag ins Gedächtnis zurückzurufen. Mit einer Truppe von 200 ägyptischen Soldaten werden die Händler gefangen genommen und es gelingt Roth, die Sklaven zu befreien. Von dieser Zeit an ist er unermüdlich auf den Spuren der Sklavenjäger. In Darfur trifft er mit Slatin Pascha zusammen und stirbt dann im ersten Jahr des Mahdi Aufstandes mit 29 Jahren am Fieber.

Ein Mitglied der "Societé Khédiviale de Géographie" und Freund von Andreas Bircher war auch Alfred Kayser, den wir 1884 im alten vizeköniglichen Laboratorium finden. Er veröffentlichte damals ornithologische, botanische und zoologische Beobachtungen, wie z. B. Berichte über die Zugvögel des Niltals, sammelte Fossilien für die Paläontologen Meyer-Eymar in Zürich und Frauscher in Marburg, begleitete verschiedenen Zoologen in die Wüste und organisierte seine erste Sinai-Expedition, der bereits 1890 eine zweite folgte, während welcher seine Frau an Cholera starb. Er verbrachte mehrere Jahre in Tor im Süd-Sinai, wo er eine wissenschaftliche Station gründen wollte, und stellte ethnographische und botanische Sammlungen zusammen. Auch nach Erythräa organisierte Alfred Kayser Expeditionen und bereiste Kamerun und Südafrika. Nachdem er während des ersten Weltkrieges den Posten eines schweizerischen Handelsagenten in Alexandrien bekleidet hatte, unternahm er mit seiner zweiten Frau eine letzte Reise in den Sinai, wo er sich 1½ Jahre unter den Beduinen aufhielt. Leider starb er, bevor er sein Lebenswerk, eine in 10 Manuskript-Heften niedergeschriebene Monographie über die sinaitische Wüste, veröffentlichen konnte.

Andreas Bircher war zeitlebens und besonders in seiner zweiten Lebenshälfte ein großer Kenner und eifriger Sammler von altägyptischen, römischen und nebenbei auch von koptischen und altarabischen Antiquitäten. Schließlich wurde nach der Jahrhundertwende seine Sammlung, die unter Kennern Weltruf bekam, so umfangreich, daß das an sein Haus angebaute, dem koptischen Patriarchat gehörende Gebäude gemietet und ein Durchgang geschaffen wurde. Es ist sehr wahrscheinlich, daß sein Interesse an Altertümern von seinen Freunden aus Archäologenkreisen stark gefördert wurde, vor allem von den berühmten Franzosen Maspero und Mariette und von den Schweizern Edouard Naville und van Berchem.

Naville arbeitete für den "Egyptian Exploration Fund" und grub in der Metropolis von Theben die zwei hervorragendsten Bauten aus der 18. Dynastie aus: den großen Tempel der Königin Hatschepsut und den Tempel ihres Gatten und Ko-Regenten Thutmosis III. mit seinem berühmten, der Göttin Hathor geweihtem Heiligtum. Zwölf Jahre lang dauerten die Grabungen und wurden durch ein prachtvolles illustriertes Werk in sechs Folio-Bänden gekrönt. Eine der früheren großen Veröffentlichungen Navilles war dem ägyptischen Totenbuch gewidmet, dessen thebanische Rezension er in Hieroglyphenschrift herausgab. 

Ein Zeitgenosse von Naville war der Genfer van Berchem, ein weltberühmter Orientalist, dessen Hauptwerk es sein sollte, die systematische Abschrift und Erläuterung der arabischen Inschriften als Basis für eine Erforschung der historischen Entwicklung islamischer Völker zu unternehmen. Er und seine Mitarbeiter setzten sich die Aufgabe, alle Monumente von Marokko bis nach Arabien, Persien und dem Turkestan zu photographieren und zu beschreiben, seien es Paläste, Moscheen, Schulen oder Brunnen. Das Studium dieser Inschriften erlauben uns (in den von J.R. Fiechter zitierten Worten van Berchems) zu begreifen, wie diese von den arabischen Eroberern gegründeten theokratischen Staaten organisiert waren, denn sozusagen alle Inschriften beziehen sich ausschließlich auf die zwei großen, allumfassenden Begriffe des islamischen Geistes: die göttliche Macht und die absolute Herrschaft des Khalifen als Delegierter von Allah durch göttliches Recht, sowie der zeitlichen Herrscher als Delegierte des Khalifen. Diese Potentaten sind die einzigen Handhaber des politischen, administrativen und militärischen Räderwerks, sie allein beherrschen Religion und Justiz, die Sitten und die Gedanken bis in die Privatsphäre hinein. Dieser Gemeinschaftsgeist des Islam ist allen privaten oder öffentlichen Verbänden abhold. Darum findet man in islamischen Ländern weder die ausgeprägten sozialen Klassen noch die Gemeinden, Kooperationen, Syndikate und anderen Körperschaften, die in unseren Ländern schon früh kleine Widerstandszentren zwischen dem Souverän und seinen Untertanen darstellten und die Folgen einer zu absoluten Herrschaft dämpften, indem sie unter den Massen des Volkes das Bedürfnis nach Freiheit aufrecht erhielten. Ein solcher Mangel an persönlicher Initiative bewirkte, daß der Moslem alles von Allah erwartet, und spiegelt sich in den Inschriften mehr als irgendwo anders. Van Berchem kannte und liebte das alte Kairo wie kaum ein anderer und hatte sich durch seinen Takt und sein Verständnis in allen Kreisen der Stadt Freundschaften gesichert.

Dies waren einige der bedeutenden Männer, mit denen Andreas Bircher in jenen frühen Jahren zusammenkam, insofern seine langen und harten Arbeitstage es ihm erlaubten.

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Teil 3 Papyrus-Logo Nr. 3—4/1998, pp. 30—39

Eine Welt öffnet sich

Es waren wichtige Jahre für die Entwicklung Ägyptens. Schon unter Mohamed Alis Sohn Said wurden die meisten großen Bahnlinien gebaut und, als 1863 Ismail (der Sohn von Mohamed Alis Adoptivsohn Ibrahim) die Regierung übernahm, war – trotz des Widerstands Englands, das für seine Einflußsphäre im Orient fürchtete – der Bau des Suezkanals durch den französischen Ingenieur Ferdinand de Lesseps, mit teilweise französischem Kapital, bereits bewilligt worden. Ismail bot zwangsweise 25.000 dürftigst bezahlte Arbeiter auf, die sich alle drei Monate ablösen sollten.

1867 hatte sich Ismail von der Pforte den Titel "Khedive" (Vizekönig) zubilligen lassen, sowie eine auf dem Erstgeburtsrecht beruhende neue Thronfolgeordnung und andere wichtige Prärogativen, die ihm unter beträchtlichen Geldopfern zugestanden wurden. Aber schon damals schrak Ismail vor keiner noch so erdrückenden Schuldenlast zurück.

Das Vierteljahrhundert seit dem Ende der sechziger Jahre war so reich an für die Zukunft Afrikas entscheidenden Ereignissen und an außerordentlichen Persönlichkeiten wie kaum je eine andere Periode der Weltgeschichte. Das Innere eines unermeßlichen Kontinents wurde in diesem kurzen Zeitabschnitt der Welt bekannt gemacht und zwar durch den unglaublichen Wagemut und den eisernen Willen einiger genialer Männer. Ihnen allen gemeinsam war der Wunsch, die Quellen des Nils zu entdecken, des stolzesten Flusses der Erde, jenes märchenhafte Mondgebirge und jenen großen geheimnisvollen See im Herzen Afrikas, den mittelalterliche Reisende bereits erwähnen. Auch hofften sie irgendwie eine Lösung zu finden, um den grausamen Sklavenhandel einzudämmen und schließlich gänzlich abzuschaffen.

In seiner meisterhaften Schilderung dieser Entdeckungsreisen, "The White Nile", dem später "The Blue Nile" folgen sollte, schildert Alan Moorehead (Anm. 4) nicht nur die politischen Aspekte jener Zeit, sondern gibt uns auch ein mit tiefer Einfühlung gezeichnetes Charakterbild der außergewöhnlichen Persönlichkeiten der großen Forscher und der oft fast unüberwindbaren Schwierigkeiten, gegen die sie anzukämpfen hatten. Und auch er stellt sich die Frage: Wie wären die Fußreisen von jenen frühen Pionieren, von Burton, Grant, Speke und auch von Livingstone, Baker und Stanley überhaupt möglich gewesen ohne die Mithilfe gerade der oft allmächtigen einheimischen oder arabischen Sklavenhändler? Sie allein kannten die Pfade durch Steppe und Urwald, die Flüsse und Stromschnellen, die Negerstämme und die Dialekte, die Existenzmöglichkeiten in einer wilden, unbekannten Welt mit tausend Gefahren. Und doch ist es diesen Forschern zu verdanken, daß trotz aller Widerstände am Ende des Jahrhunderts die letzten Sklavenschiffe verschwunden waren. Der wichtigste erste Schritt war der Vertrag, den Kirk (der englische Generalkonsul von Sansibar) 1875 von König Barghasch unterschreiben ließ. Barghasch hatte nämlich sozusagen das Monopol für den Verkauf und den Abtransport der Sklaven. Ihm gehörte jener riesige Sklavenmarkt von Sansibar, auf dem schon seit Jahrhunderten die im Innern wie Tiere erjagten Schwarzen unter namenlosen Leiden und Demütigungen zusammengepfercht auf ihre Käufer warten mußten. Unter der Bedingung, daß diese Stätte des Elends für immer geschlossen würde, garantierten die Engländer die Integrität des kleinen Königreiches. Und da Barghasch diese Garantie nötig hatte, gab es für ihn keine andere Wahl, als den Kontrakt zu unterschreiben. Zwar ging der Handel mit Sklaven klandestin noch jahrelang weiter, so wie auch der Schmuggel über den Indischen Ozean, und im Innern Afrikas dauerte die Sklavenjagd noch Jahrzehnte (oft gehörten Elfenbein- und Sklavenjäger zu derselben Karawane), aber es darf nicht vergessen werden, daß damals die mächtige Pranke des Britischen Löwen gefürchtet war und daß es in England noch eine kräftige öffentliche Meinung gab. Wenn man Ende der achtziger Jahre in Kairo noch viele Sklaven sah, so war deren Zahl doch ständig im Abnehmen, obschon es den vermöglicheren Türken und Ägyptern schwer fallen mußte, keinen Nachschub für die vielen Bedienten zu finden, die man sich früher so billig und einfach erstehen konnte, ganz abgesehen von den zahllosen Konkubinen. Empfindlich traf es den Khediven Ismail, in den siebziger Jahren auf diese wichtigen Quellen des Einkommens aus dem Sudan zu verzichten, aber ohne die Gunst der Westmächte, denen gegenüber er sich immer tiefer verschuldete, gab es für ihn kein Weiterbestehen.

Der Suezkanal war für seine Aktionäre ein glänzendes Geschäft. Als sich aber der ruhmgierige, unersättlich pracht- und prunkliebende Herrscher am Ende seiner Mittel sah – er hatte sich inzwischen ein Fünftel alles bebaubaren Landes für seinen Privatbedarf angeeignet, einen vortrefflich funktionierenden Post- und Telegraphendienst einrichten und neue Bahnen bauen lassen, ein neues Justizwesen eingeführt, Industrien gegründet und danach getrachtet, die Grenzen des Sudans mit der Hilfe von Baker und später von Gordon bis nach Buganda zu erweitern – verkaufte er seine eigenen 4.000.000 Kanal-Aktien dem englischen Staat, so daß Ägypten fortan nur noch wenig Gelder aus dieser Quelle zuflossen. Ende 1875 belief sich die ägyptische Staatsschuld auf 100.000.000 Pfund - eine hoffnungslose Lage. Dazu kamen die unerfreulichen Zustände im Sudan, der seit seiner Eroberung durch Mohamed Ali riesige Summen verschlungen hatte. Im Süden war der ganze, seinerzeit von Baker aufgestellte Regierungsapparat zusammengebrochen. 1874 ersuchte der Khedive Ismail Gordon, sich nach Äquatoria zu begeben. Gordon erklärte sich bereit, diesen exponierten Posten anzutreten und händigte der englischen Armee, in der er bis dahin gedient hatte, seine Demission ein. Er setzte die geldgierige Beamtenschaft Kairos in Erstaunen, indem er anstatt der ihm angebotenen, dem Jahresgehalt von Baker entsprechenden 10.000 Pfund, deren nur 2.000 für seine persönliche Besoldung annahm.

Unter großen Gefahren und Entbehrungen wurde der ganze obere Nillauf kartiert und in Äquatoria den Raubzügen ein Ende gemacht. Als sich Gordon nach zweieinhalb Jahren erschöpft nach England zurückzog, wurde ihm nur eine kurze Ruhepause gegönnt. Ismail rief ihn zurück. In Äquatoria war zwar Ordnung eingetreten, aber in den nördlichen Provinzen Sudans waren die Zustände unhaltbar geworden. Überall herrschte Korruption, Bestechung und Chaos und allein von den Provinzen Bahr-el-Ghazal, Kordofan und Darfur wurden, nach Gessi, zwischen 1860 und 1876 durch 5.000 Sklavenhändler hunderttausende von Frauen und Kindern nach Ägypten und der Türkei verkauft.

Auch diesmal ließ Gordon sich von Ismail für eine fast übermenschliche Aufgabe gewinnen und wiederum wies er einen beträchtlichen Teil des angebotenen Gehaltes zurück. Er wurde mit allen Vollmachten eines Generalgouverneurs für den ganzen Sudan eingesetzt, und er schaffte Wunder. Die Bauern wurden von vielen erdrückenden Steuern befreit, so daß sich die Landwirtschaft erholen konnte. Dann beseitigte Gordon die ärgsten Machtmißbräuche, indem er viele ägyptische Offiziere und Beamte nach Kairo zurücksandte. Der Handel blühte auf und bald bekam Khartum das Gepräge einer florierenden Stadt. Gordon war unermüdlich. Am Arbeitstisch in seinem Palast verbrachte er verhältnismäßig wenig Zeit. Während Wochen und Monaten ritt er auf seinen Kamelen durch das riesige, von wasserlosen Wüsten eingesäumte Land. Er war nicht nur für seine Disziplin und Strenge, sondern auch für seine absolute Gerechtigkeit und Herzensgüte bekannt. Jeder durchreisende Fremde durfte auf seine Hilfe zählen. Unter ihm wurde der Italiener Gessi Gouverneur von Bahr-el-Ghazal, während der Österreicher Rudolf von Slatin und der deutsche Arzt Eduard Schnitzer (Emin Pascha) die Gouverneur-Posten von Äquatoria und Darfur übernahmen.

Obwohl der Khedive Ismail auf das Drängen der Mächte seine enormen Ländereien dem Staat zurückgegeben hatte und schließlich einen englischen (Wilson) und einen französischen Berater (Blignières) in sein Kabinett hatte aufnehmen müssen, stand es sehr schlimm mit der Staatsschuld von Ägypten. Ein Komitee war eingesetzt worden, um Mittel und Wege zu finden, den Gläubigern die fälligen 7% Zinsen zu beschaffen. Zu diesem Gremium gehörten Sir Evelyn Baring (später Lord Cromer), der mächtige englische Generalkonsul, sowie Ferdinand de Lesseps, und der Khedive bat seinen Freund Gordon, auf dessen Prestige und Loyalität er zählen konnte, das Präsidium zu übernehmen. Es war klar, daß man den gänzlich verelendeten und unter ihren Steuerlasten erdrückten Fellachen keine neuen Taxen auferlegen konnte. In Gordon's Sicht wäre die einzige Lösung ein befristeter Verzicht auf die Zinsen der nächsten Monate gewesen. Aber die Gläubiger bestanden auf ihren Rechten. Hierauf entließ Ismail alle seine europäischen Berater und regierte einige Monate in einsamer Pracht allein. Als kein anderer Weg mehr offen stand, richteten sich Baring und die Gläubiger direkt an die Pforte. Ismail wurde nach Konstantinopel zurückgerufen und mußte zu Gunsten seines Sohnes Taufiq abdanken. Noch im selben Jahr (1879) reichte Gordon seine Demission ein.

Dies war das Zeitgeschehen kurz vor den großen und tragischen Ereignissen der achtziger Jahre. Inzwischen nahm der Bedarf an Rohstoffen im industrialisierten Europa von Jahr zu Jahr zu und der Handel mit dem Sudan gewann immer mehr an Wichtigkeit.

 (Folgendes, als Teil 5, in gekürzter Form, auch in Nr. 2/87, pp. 69—73; –Anm. KFN)

Güter aus dem Sudan

Die von Andreas Bircher exportierten Produkte aus dem Sudan waren im Welthandel hoch kodiert. Gummi arabicum – eine harte weißliche bis rötliche Ausscheidung aus der Rinde verschiedener Akazien – war nebst Elfenbein einer der wichtigsten Ausfuhrartikel aus dem oberen Sudan. In einem 1892 erschienenen Buch schildert Sir Francis Wingate (Anm. 5), nach Pater Ohrwalder die sorgfältig bebauten Akazien-Gärten von Kordofan. Noch mehr als zum Zukleben der Hunderttausende von Briefumschlägen, welche die täglich beförderten Postsäcke Europas füllten, brauchte man Gummi arabicum zum Appretieren, glänzend Machen und Walken von Stoffen, und ebenfalls für die Herstellung der so gefälligen Tarbusche vergangener Zeiten. Die Gummiperlen wurden auch für Hustenmittel und andere Medikamente, sowie für Tinten und Wichsen verwendet.

Senes Thee – die kleinen, zugespitzten Blätter und flachen Schötchen einer Leguminosen-Art, Cassia acutifolia – war im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein beliebtes Abführmittel. Zahlreiche Arbeiterinnen waren in den Werkstätten von Andreas Bircher mit dem Sortieren und Verpacken dieses geschätzten Sudan-Produktes beschäftigt.

Auch die Zibeth- oder Schleichkatze kommt aus Afrika (es gibt auch eine indische Art, die aber kleiner ist). Zibeth ist die fettige Substanz, die von einer über dem Darmausgang liegenden Drüse des Tieres ausgeschieden wird und wegen seines ungemein durchdringenden und haftenden Geruchs in der Parfümerie gebraucht wurde, indem es, wie Moschus, als Basis für die Herstellung besonders im Orient beliebter Riechstoffe diente. Die afrikanische Schleichkatze hat ein graues Fell mit schwarzen Streifen und ist etwa so groß wie ein Fuchs. Nach dem Erlegen der Tiere wurden die Drüsensäcke an Ort und Stelle herausgeschnitten, verpackt und nach Kairo transportiert.

Die Mengen von Wachs, die noch im letzten und zu Anfang des jetzigen Jahrhunderts in Europa verarbeitet wurden, waren enorm, und die eigene Produktion absolut unzulänglich. Brutto-Wachs aus dem Sudan und vor allem auch aus Abessinien war deshalb begehrt. Man bedenke nur, wie belangreich damals noch das bescheidene Kerzenlicht war, sowie die unzähligen Salben, Pflaster, Appreturen, an die Schuhwichsen und verschiedenen Bodenwichsen für den Unterhalt der schönen honigfarbenen Treppen und Parkette europäischer Heimwesen.

Der Bedarf an Elfenbein kostete jährlich unzähligen afrikanischen Elephanten das Leben. Zu Zehntausenden wurden diese stolzen Tiere in Kordofan und Bahr el-Ghazal abgeschlachtet. Auch Rhinozerosse und Nilpferde lieferten Elfenbein: die Zähne der letzteren wurden insbesondere für Zahnprothesen verwendet. Aus Elephanten-Elfenbein aber machte man weißverkleidete Klaviertasten und Billardkugeln, auf die man in Europa nicht hätte verzichten wollen.

Etwas weniger grausam wirkte sich die Mode der Straußenfedern aus. Die Nachfrage nach diesem Zierat war sehr groß. Wie zart und anmutig schmiegten sich doch die seidenglänzenden Federn an den feinen Filz breitrandiger Damenhüte oder wogten in kühnen Federbüschen auf den Helmen hoher Offiziere und auf den Zweispitzen der Gesandten!

Ob Andreas Bircher unter dem Namen Wolle auch die feine leichte Kamelschurwolle exportierte, von der der Sudan so große Quantitäten aus den zahlreichen Kamelzüchtereien produzierte? Es ist auch wahrscheinlich, daß er zeitweise Sesam und Erdnüsse – zwei weitere wichtige Sudan-Produkte – exportierte, während sein Kaffee nicht nur aus Abessinien, sondern auch über das Rote Meer von Sana'a aus Arabien kam. Wir wissen, daß er (wahrscheinlich in den neunziger Jahren) eine Reise nach Aden machte, um Ersatzprodukte für die im Sudan blockierten Güter zu finden.

Nach oft wochenlangem Transport auf den schweren, unendlich genügsamen Lastkamelen wurden die Waren in große Holzbarken verschifft, um dann, je nach Windverhältnissen mit vollen oder gerafften Segeln unter mehrmaligem Umsteigen Tausende von Kilometern den breiten Strom hinabzugleiten. Endlich wurden sie dann im Hafen von Bulaq ausgeladen und in die verschiedenen Magazine verteilt, gewogen, verlesen, gereinigt, gesiebt und schließlich sachgemäß seefestverpackt und mit der Firmenmarke versehen. Fast täglich ritt oder fuhr Andreas Bircher zu seinen Warenlagern, Magazinen und Werkstätten, entweder hoch zu Roß oder in seiner zweispännigen Kutsche auf dem gelben Lederpolster zurücklehnend, eine hochgewachsene, gebieterische Erscheinung, die überall ehrfurchtsvoll begrüßt wurde. Bald fand er sich dann mitten im Hafenbetrieb, wo sich Lastenträger, Esel, Kamele und Waren aller Gattungen vor den Schiffen in unentwirrbaren Knäueln zusammenballten und sich der weiche sudanesische und oberägyptische Akzent mit der harten unterägyptischen Aussprache vermischte und die kraftvollen, bildreichen Ausdrücke der Schiffsleute, Kameltreiber und Wagenführer ohrenbetäubend durcheinander tönten, indem ein jeder versuchte, nicht nur die Stimmstärke seines Gesprächspartners, sondern auch noch den allgemeinen Spektakel zu überbieten.

Hafen von Bulaq
Hafen von Bulaq

 

Die Betreuung einer Kolonie

An den Eröffnungsfeierlichkeiten des Suezkanals nahm auch eine kleine Delegation aus der Schweiz teil. Sie bestand aus Persönlichkeiten aus Industrie- und Handelskreisen (worunter zwei Nationalräte), die die Eidgenossenschaft auch an einem internationalen Handelskongreß vertreten sollten.

In "Cent ans de Vie Suisse au Caire" - einem Buch (Anm. 6), dem wir viele in diesem Kapitel erwähnte Einzelheiten verdanken, erzählt der Autor, wie diese erste offizielle eidgenössische Kommission den Umweg über Konstantinopel machte und von Sultan Abdel Asis freundlichst empfangen wurde. Der österreichische Kapitän erlaubte ihr sogar auf seinem Schiff neben der österreichischen auch die schweizer Flagge zu hissen, und bei der Einfahrt ins Goldene Horn flogen auch noch die Fahnen von Genf und Zürich. Für die übrige Reise mietete die Delegation ein englisches Küstenschiff, und bei der Einfahrt in den Hafen von Alexandrien hing das Schweizer Banner am Hauptmast und darunter die Wimpel der 22 Kantone, während eine Salve von 22 Schüssen von den beiden kleinen Bordkanonen abgegeben wurde!

Die Herren wurden bereits im Hafen als Gäste des Vizekönigs empfangen. Zum Andenken schenkten sie dann der Schweizer Kolonie von Kairo 500 Franken als Grundkapital für eine Hilfskasse. Die Zinsen dieses Betrages sollten für den Beistand notleidender Schweizer gebraucht werden, wobei allerdings vorgesehen war, daß in gewissen Fällen kleine Beiträge an bedürftige Landsleute ausgeliehen werden könnten, sofern die Garantie bestünde, daß sie die betreffende Summe mit Zinsen zurückbezahlen würden. Hierauf wurde der schweizerische Hilfsverein gegründet, der für das spätere Gedeihen der Kolonie eine so wichtige Rolle spielen sollte und dessen erster Präsident Andreas Bircher war. Es schrieb auch die Statuten, die dann in seiner Vaterstadt Aarau gedruckt wurden. 1881 war das Kapital bereits auf 12.000 Franken gestiegen und es wurde beschlossen, mit den protestantischen Mitgliedern der deutschen, amerikanischen und englischen Kolonien zusammen ein Spital zu errichten, dessen Leitung die Diakonissinnen von Kaiserswerth übernehmen sollten.

Ein Komitee mit zwei Mitgliedern aus jeder der vier Kolonien wurde gegründet und ein Betrag von 10.000 Franken vom Hilfsverein genehmigt. Der Khedive schenkte das Land, auf dem das (schon längst nationalisierte) Krankenhaus noch heute steht. Schon im ersten Jahr nach seiner Eröffnung wurden in der Polyklinik des neuen "Viktoria-Spitals", dem auch eine Polyklinik für Augenkranke angegliedert war, über 2.000 Bedürftige gepflegt, eine Zahl, die sich bald auf einen Jahresdurchschnitt von 70.000 steigern sollte.

Die spätere Gründung eines schweizerischen Friedhofes, auf dem durch eine seltsame Wendung des Schicksals Andreas Bircher 1925 als Erster seine Ruhestätte fand, sowie einer viele Jahrzehnte lang florierenden Schweizer Schule, entsprangen ebenfalls der Initiative des Hilfsvereins.

Noch in drei anderen Richtungen betätigte sich der Unermüdliche für das Wohl seiner Landsleute. 1867, als diese sich aus etwa 30 Personen zusammensetzte, wurde der erste Schweizer Verein gegründet. Sein erster Präsident war J.A.Kienast, ein Kaufmann, dessen Firma auch die Rolle einer Handelsbank übernommen hatte, zu einer Zeit, als das Bankwesen in unserem modernen Sinn in Ägypten noch unbekannt war und sämtliche Geldtransaktionen von den verschiedenen kaufmännischen Unternehmen durchgeführt wurden. Andreas Bircher war der erste Sekretär des neuen Vereins, in dessen bescheidenem Lokal in der Muski 1869 die eben erwähnte erste Schweizer Delegation von ihren Landsleuten empfangen und der Hilfsverein gegründet worden war. Für den jungen Verein stifteten die Schweizer Frauen ein schönes Banner, das damals bei gemeinsamen Sonntagsausflügen fröhlich an der Spitze der Eselskarawane flatterte, welche die Mitglieder in die Wüste hinaustrug. Als der Verein 1879 aus unbekannten Gründen zu bestehen aufhörte, verwahrte Andreas Bircher das kostbare Wahrzeichen jahrelang in seinem Hause. Erst 1894 wurde auf seine Anregung eine vorbereitende Kommission für die Gründung eines neuen Schweizer Vereins ins Leben gerufen. Aktien im Werte von einem Pfund wurden für den Ankauf von Möbeln herausgegeben, Statuten aufgestellt und schweizerische Zeitungen bestellt. Mit wieviel Begeisterung hätte da der junge Carl mitgemacht! Andreas Bircher blieb elf Jahre lang Präsident, und als er sich 1905 zurückzog, wurde er unter großem Beifall zum Honorarpräsidenten ernannt. Es war eine wohlverdiente Ehrung. Als 1900 ein neues Lokal gefunden werden mußte, fusionierte der Verein mit dem schweizerisch-internationalen Kegelklub, der ein schmuckes Chalet an der späteren Shareh Malika Nazli (heute Ramsis) besaß. Fünf Jahre später verlangte aber das Ministerium für öffentliche Arbeiten das Land zurück. Was tun? Andreas Bircher und Ernest Cramer, der zwischen 1883 und 1911 ununterbrochen dem Hilfsverein präsidierte, gelang es, die ägyptischen Autoritäten soweit umzustimmen, daß dem Schweizer Verein ein schönes neues Grundstück neben dem alten angeboten wurde. Auch erklärte sich das Ministerium großzügigerweise bereit, die neue Umfriedung sowie alle durch den Umzug verursachten Unkosten zu bezahlen, und zwar in Verbindung mit einer zwanzigjährigen Konzession!

Andreas Bircher war seit 1869 auch ein Mitglied des Komitees der Internationalen Handelskammer. Dank seiner großen Kompetenz wurde er Jahr für Jahr als Richter am Handelsgericht ernannt. Als dann später (1875) der Khedive Ismail die sogenannten Reform- oder Gemischten Gerichte gründete und dabei, wie er sagte, eine neue Ära in der Entwicklungsgeschichte seines Landes hereinbrach, übernahm Andreas Bircher die Pflichten eines beisitzenden Richters am großen Gemischten Gericht in Ataba-el-Khadra. Dreißig Jahre lang versah er diesen Posten, dessen Arbeiten ihn besonders interessierten, konnte er doch dabei seinen eigenen Landsleuten von großem Nutzen sein. Leider zwang ihn im Alter eine progressive Schwerhörigkeit, sich von dieser schönen Aufgabe zu trennen, aber sein Haus stand weiterhin jedem Ratsuchenden offen. Wie aber verhielt es sich mit diesen Gemischten Gerichten, deren größter Förderer Ismails Außenminister Nubar gewesen war? Bis zu deren Gründung hatten im Ägyptischen Gerichtswesen chaotische Zustände geherrscht. Aus diesem Grunde ließen sich die vier Kapitularmächte (Anm. 7) England, Deutschland, die Vereinigten Staaten und Frankreich von der Pforte einen besondere Erlaß zur Erleichterung ihrer Handelsbeziehungen geben. Diesem Status zufolge wurde ihnen das Privileg eingeräumt, ihre Staatsbürger nicht nach ägyptischem Gesetz richten lassen zu müssen, sondern ausschließlich nach dem vom betreffenden Konsulargericht vertretenem eigenen Recht. Die Angehörigen dieser Nationen waren also einzig und allein den Gesetzen ihres Heimatlandes unterstellt, sofern dieses ein eigenes Konsulat in Ägypten besaß. Während aber bis 1875 alle Uneinigkeiten und Konflikte unter Ausländern durch die Konsulargerichte geschlichtet wurden, übernahm nun das Gemischte Gericht sämtliche Streitigkeiten zwischen Fremden und Ägyptern, indem nur noch strafrechtliche Fragen, sowie Zivil- und Familienangelegenheiten unter der Kompetenz der Konsulate verblieben. Mehrere hervorragende schweizerische Richter spielten auf dem Gemischten Gericht eine wichtige Rolle, obwohl nach den internationalen Verträgen die Schweiz nicht verpflichtet gewesen wäre, daselbst vertreten zu sein.

Nun besaß aber die Schweiz zur Zeit des Khediven Ismail und noch für viele weitere Jahre kein eigenes Konsulat, obschon bereits 1864 und dann wieder 1869 die Mitglieder der Kolonie der Eidgenossenschaft Petitionen vorgelegt hatten, um eine offizielle Vertretung ihrer nationalen Interessen genehmigt zu bekommen. Die Schweiz und Rumänien waren die einzigen Länder, deren Bürger in Ägypten sich dem Schutz anderer Konsulate unterstellen mußten. Die meisten Schweizer ließen ihre Interessen durch das französische Konsulat wahren, so daß sie also im Falle von Delikten, etc., nicht nach schweizer Recht, sondern nach dem französischen Gesetz richtbar waren, was immerhin eine gewisse Demütigung bedeutete. Indessen schien das größte Hindernis in der Errichtung einer eigenen diplomatischen Vertretung nicht die Gewährung der nötigen Kredite gewesen zu sein, sondern die Schwierigkeiten in den Verhandlungen mit der Pforte, von der Ägypten immer noch bis zu einem gewissen Grade abhängig war.

1907 unterzeichneten Andreas Bircher sowie weitere in Ägypten etablierte Schweizer Kaufleute wiederum ein Schreiben an die eidgenössischen Behörden, worin sie diese baten, einen Berufskonsul mit diplomatischen Vollmachten nach Kairo und eine konsulare Vertretung nach Alexandrien zu senden. Aber die Verhandlungen zogen sich bis nach dem ersten Weltkrieg hinaus. Indessen erreichte Ägypten die volle Unabhängigkeit, sowohl von der Pforte (1914) wie auch von England (1922). Der junge Staat, in dem nun ein ganzes Netz von eigenen Gerichten aufgebaut wurde, empfand die weitere Gegenwart von fremden Richtern im Gemischten Gericht immer mehr als Erniedrigung. Obschon 1926 das 50. Jubiläum des Gemischten Gerichts festlich begangen wurde und die Anzahl der behandelten Fälle von Jahr zu Jahr zugenommen hatte, wurde bereits 1937 von den in Montreux vereinigten Vertretern der Kapitularmächte dessen Todesurteil unterschrieben. Die Anzahl der fremden Richter wurde schrittweise abgebaut und die Kapitulationen 1949 endgültig aufgehoben. Nach langwierigen Verhandlungen, bei denen die Schweizer darauf bestehen mußten, nichts von ihren früheren Prärogativen einzubüßen, konnten sie endlich 1935 ihren ersten Geschäftsträger in Ägypten begrüßen, und zwar unter der Voraussetzung, daß die schweizerischen Staatsangehörigen bis auf weiteres dem Schutze der Kapitularmächte unterstellt bleiben würden.

Indessen war Andreas Bircher bereits neun Jahre zuvor, 85jährig, an einer doppelten Lungenentzündung gestorben. Seinen letzten Verfügungen entsprechend sollte seine prachtvolle archäologische Sammlung veräußert werden. Während der 10 Jahre des Ausverkaufs wurde sie völlig zersplittert und schließlich teilweise versteigert. Da an ihrer Authentizität kein Zweifel bestehen konnte, wurden viele kostbare Stücke von verschiedenen großen Museen erworben, unter denen sich nebst dem ägyptischen Museum und – mit dessen Genehmigung – das Metropolitan Museum in New York, das Museum von Turin, das "Musée du Cinquantenaire" in Brüssel und das "Museum van Altheidskunde" von Leyden befanden. Auch unter den privaten Käufern waren viele berühmte Namen.

(Hier endet der gekürzte Teil 5 in Nr. 2/87, pp. 69—73, –Anm. KFN)

IV. Im Schatten der Ereignisse

Jahreswechsel

An Marthe, Cairo, den 22. Dezember 1889

"... Der Winter hat begonnen, jene Zeit, die ich letztes Jahr mit soviel Ungeduld erwartete und die mir die glücklichsten Wochen meines Lebens brachte. Aber im Frühjahr schmolz das Eis und mit ihm gingen meine schönsten Tage zu Ende, um nie wiederzukehren. Das Eis zerrann zu Wasser, und das Wasser verdunstete und wurde immer weniger, bis mir zuletzt nur die Wüste übrigblieb! Aber warum bin ich denn so schwermütig? Weil jetzt der erste Januar herannaht, der Tag, an dem wir uns erstmals sahen? Eigentlich sollte ich mich freuen, denn ich muß mir sagen, daß wir uns jetzt seit zwei Jahren kennen, einander lieb haben und nicht vergessen können. Was würde ich nicht geben, um einen Sonntag Nachmittag in Neuenburg zu verbringen! Ich hätte Dir so viel mitzuteilen, daß ich mit Erzählen überhaupt nie fertig würde. Aber da wir an unserem Leben nichts ändern können, müssen wir tapfer sein und uns nicht in düsteren Gedanken gehen lassen."

"Dein Vater hat mir leider noch nicht auf meinen Brief geantwortet. Hier ist es auch kalt, wir hatten heute nur 10 Grad, es regnet, und in den Straßen liegt fußhoher Schlamm." ...

"... Ich habe am Sylvester-Abend bis um 8 Uhr gearbeitet, nachher bin ich ins 'Magasin Universel' gegangen, um zu sehen, was dort vor sich geht, kam um 10 Uhr nach Hause und verbrachte noch eine Stunde mit meinem Vater. Dann habe ich mich zurückgezogen, konnte aber nicht schlafen, da ich immer an Neuenburg und an Dich denken mußte. Am Neujahrsmorgen war ich von 8 bis 12½ Uhr im Bureau. Am Nachmittag machte ich einen Ritt mit dem Pferd und bin soeben jetzt zurückgekommen. Hoffentlich hast Du diesen Tag inmitten von Deinen Angehörigen besser verbracht als ich."

Etwas später schreibt er:

"... Mein einziges Vergnügen ist die Jagd. Heute bin ich in eine unserer Barken gestiegen und vom Nordwind begünstigt sind wir den Nil hinaufgefahren bis Heluan. Bis dahin waren weder Enten noch Gänse zu sehen. Erst südlich von Heluan fanden wir welche, aber die waren zu weit weg und unsere Barke zu groß, um sich an untiefe Stellen zu wagen. Als wir ausstiegen begann es schon zu dunkeln und ich schoß nur eine Ente. Wir mußten etwa dreiviertel Stunde durch die Wüste wandern, um den Bahnhof von Heluan zu erreichen, bei einem wundervollen Mondschein und einem sanften frischen Wüstenwind. Um uns herum war nur die Wüste, ohne Gebirge, ohne Pflanzen, leer und geisterhaft, in einem völligen Schweigen, das nur einmal durch die Stimmen vorbeireitender Araber gestört wurde, und durch das Pfeifen des von Cairo kommenden Zuges, den wir dann in Heluan bestiegen, um anderthalb Stunden später heil in der Hauptstadt anzukommen."

Seiner Mutter schreibt Carl:

"... Wir haben die gütigst gesandte Kiste richtig erhalten und ich danke Dir herzlich für die guten Sachen, die sie enthielt. Die Leckerli sind ausgezeichnet. Was ist denn mit der Militärtaxe? Muß ich für dieses Jahr auch zahlen, und warum so viel? Wie hoch schätzen sie mich? ... Ich war nicht mit Papa in Port-Said, denn er sagte, es koste zuviel. Wenn ich die Reise aus eigener Tasche bezahlt hätte, hätte ich gehen können. ... Am St.Andreas-Tag hatten wir zufällig ein großes Dinner, das erste bis jetzt, für einige Schweizer Angestellte. ... Samuel (s. unten) ißt und schläft bei uns. Er war früher in Qasr Aly auf unserem Depot von Gips, Ziegeln, etc. Jetzt arbeitet er im 'Magasin Universel'. Papa hat nämlich die Liquidation dieses Geschäftes übernommen."

Und seinem Bruder:

"... Die Angestellten bekommen bei Papa nichts zu den Festtagen und die Lehrlinge auch nichts, oder wenig. Sie machen aber gewöhnlich nur höchstens zwei Jahre Lehrzeit ohne Bezahlung."

Die Zeiten haben sich verändert! Aber es steht fest, daß damals ein gutes Zeugnis von André Bircher ebenso wertvoll (wenn nicht wertvoller) war als heute das Diplom einer Handelsschule.

Rückblick auf ein Jahrzehnt

Manche Anspielungen in den folgenden Briefen werden besser verständlich, wenn man versucht, sich ein Bild von der Geschichte der vorhergehenden Jahre zu machen.

Schulden einzugehen ist eine gefährliche Politik. Je mehr die Schuld anwächst, um so kleiner wird die Freiheit, vor allem wenn, wie dies gegenüber Ägypten der Fall war, die Gläubiger mächtig sind. Diese bittere Erfahrung machte der Khedive Ismail, als die Europäer ihn absetzen ließen. Auch die Handlungsfreiheit seines Nachfolgers Taufiq war von den Westmächten sehr eingeschränkt. Kaum hatte das Land begonnen, sich langsam zu erholen, als ein Offizier namens Arabi 1882 einen Militäraufstand inszenierte und sich schließlich, ohne bei Taufiq auf Widerstand zu stoßen, zum Diktator erhob. Sein Ziel war, dem Einfluß der europäischen Mächte ein Ende zu machen. Man bespie und bedrohte die Angehörigen westlicher Nationen im ganzen Land. Etwa 20.000 Europäer, darunter auch Andreas Bircher, verließen das Land auf 25 Kriegsschiffen. Wie oft in der Geschichte versagte die Diplomatie und man griff zur Gewalt. In Alexandrien brachen Unruhen aus und etwa 50 Europäer verloren das Leben. Die englische Flotte bombardierte die Stadt und einige Wochen später erstürmten die britischen Truppen Arabis Lager in Tell-el-Kebir. Bald darauf marschierten sie in Kairo ein. Arabi wurde nach Ceylon verbannt. 1883 wird Sir Evelyn Baring Generalkonsul und reorganisiert die verschiedenen Ministerien. Das System der Fronarbeiten wird abgeschafft, und neue Kanäle und Pumpwerke ermöglichen eine bessere Bewässerung sowie eine Vergrößerung der bebaubaren Flächen.

Im Sudan waren nach dem Abgang von Gordon die frühere Korruption und das Elend wieder eingekehrt, so daß der Haß gegen die ägyptische Beamtenschaft sich von Jahr zu Jahr steigerte. 1882 gelang es dem Häuptling eines arabischen Stammes, sich als "Mahdi" (d.h. Messias) zu proklamieren, indem er sich vorerst auf frühere Sklavenjäger stützte und dann in kürzester Zeit Zehntausende von fanatisierten und bewaffneten Gläubigen um sich scharte. Im Januar des folgenden Jahres rissen diese wilden, mordenden, plündernden und brandstiftenden Horden den Kordofan, die reichste Provinz des Sudan, an sich. Die Belagerung der Hauptstadt El Obeid dauerte viele Monate und löste eine entsetzliche Hungersnot aus, wobei die in den Häusern zum Verkauf eingelagerten Reserven an Gummi arabicum oft das einzige Nahrungsmittel waren. Inzwischen wurde ein in aller Hast nach dem Sudan entsandtes ägyptisches Heer unter Hicks Pascha völlig aufgerieben und fast bis auf den letzten Mann niedergemetzelt, nachdem die Soldaten die furchtbarsten Leiden an Durst, Hunger und Seuchen durchgemacht hatten.

Pater Ohrwalder berichtet aus jener Zeit, wie er mit den Mitgliedern seiner kleinen Mission - von denen schließlich nur vier ihr Leben retten konnten - Versklavung, Krankheit und die ärgsten Demütigungen erleiden mußte.

In seiner Not wandte sich das "Foreign Office" wiederum an Gordon, der gerade die letzten Vorbereitungen treffen sollte, um mit Stanley im Dienste König Leopolds von Belgien nach dem Kongo zu fahren. Gordon ließ sich überreden, in Khartum die schwierige und gefährliche Aufgabe zu übernehmen, eine neue landeseigene Regierung ins Leben zu rufen. Die ägyptischen Garnisonen sollten zurückgezogen und der Sudan den Sudanesen anvertraut werden. Wer aber war der starke Mann, der diesen Posten ausfüllen wollte und konnte? Die Wahl fiel auf den mächtigen und berüchtigten Sklavenhändler Sobeir, den Ismail seinerzeit auf Gordons Antrag kaltgestellt hatte. Aber die Verhandlungen scheiterten an der englischen öffentlichen Meinung.

Indessen waren die siegreichen Scharen des "Mahdi" zu Hunderttausenden angewachsen: jedem, der in diesem von ihm als heiligen Krieg proklamierten Kampf umkam, war das Paradies versprochen, ja der "Mahdi" wurde sogar von vielen als größer als der Prophet angesehen. Alles, was er berührte, wurde als heilig erklärt und das Wasser, in dem er sich wusch, von seinen Anhängern als wunderwirkend aufbewahrt und getrunken.

Bald sah sich Gordon nicht nur im Süden, sondern auch im Norden von der Welt abgeschnitten. Mit einem dringenden Brief an Baring sandte er seinen Adjutanten Steward, dem sich der französische und der englische Konsul beigesellten, den Nil hinunter. Aber der Dampfer lief auf Felsen und die Europäer wurden in eine Falle gelockt und ermordet. Indessen hatten die Heere des "Mahdi" auch die Provinz Darfur erobert und Slatin Pascha gefangen genommen.

In jenem Jahr (1885) konnte Gordon nur noch selten durch Läufer mit Ägypten in Verbindung treten, denn indessen hatte sich der "Mahdi" in Omdurman festgesetzt. Als man sich in Kairo entschloß, ein Heer zur Rettung der Belagerten den Nil hinaufzuschicken, war es zu spät. Zehn Monate harrte Gordon in der ausgehungerten Stadt aus. Täglich und fast stündlich spähte er von seinem Dach aus nach Norden, in der Hoffnung, daß doch noch Rettung aus Ägypten kommen würde, während die Zahl der Überläufer in das Lager des "Mahdi" von Tag zu Tag zunahm. Dann kam die dunkle mondlose Nacht des Überfalls, das scheußliche Gemetzel, der Tod Gordons. Zwei Tage später traf ein Schiff mit den Vorboten von Wolseleys Armee in Khartum ein; sie fanden eine verwüstete Stadt mit Tausenden von Toten. Vor der Übermacht des Feindes kehrten die Truppen nach Kairo zurück.

Der "Mahdi" starb im folgenden Jahr. Khalifa Abdullah, der von ihm ernannte Nachfolger, nahm seine Stelle ein. Auf sein Geheiß wurde Khartum völlig zerstört. 1889 herrschte in Omdurman eine grauenhafte Hungersnot. Nachdem fast alle Kamele abgeschlachtet worden waren, lebten die Einwohner noch von Stroh, Palmfasern, Gummi arabicum und alten Häuten, die sie von den Dächern herunterholten und auskochten. Kleine Kinder wurden auf Straßen entführt und geschlachtet. Zehntausende starben an Hunger. Die Schreckensherrschaft Abdullahs dauerte bis 1898, als es Kitcheners Truppen endlich gelang, den Sudan zurückzuerobern. Bis dahin sollte das Land von der Außenwelt abgeschlossen bleiben.

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Teil 4 Papyrus-Logo Nr. 05—06/98, pp. 36—46

Erstes Echo der Tragödie

Anfang 1890 schreibt Carl seinem Bruder:

"... Die Geschäfte gehen nicht gut, denn der Sudan ist noch immer geschlossen. Eine Zeitlang dachte ich, er würde sich öffnen, denn einige Sudanesen kamen schon wieder mit Gummi arabicum. Leider war dies von sehr kurzer Dauer, denn seit einiger Zeit gelangt nichts mehr den Nil hinunter. Auch dürfen weder Waffen noch Getreide dorthin exportiert werden. Der Sudan, der früher so reich war, ist jetzt eines der ärmsten Länder der Erde, es herrscht dort Hungersnot. Es gibt Stimmen, die sagen, daß die Engländer die Einwohner aushungern lassen, um sie sich hörig zu machen..."

"Viele Häuser, die mit dem Sudan Handel trieben, sind jetzt bankrott und müssen unter dem Preis verkaufen."

Eigentlich wußte man in Ägypten sehr wenig von den furchtbaren Zuständen im Sudan, von den immer wieder verwüsteten Feldern, von den zerstörten Palmenhainen, den dezimierten Viehherden, von der entsetzlichen Unterdrückung und dem namenlosen Terror.

Aus dem von F.Wingate, dem späteren Gouverneur des Sudans, 1892 geschriebenen Vorwort zu Pater Ohrwalders Buch ist ersichtlich, daß dieses den ersten Bericht darstellt, der über die Ereignisse der letzten sieben Jahre an die Öffentlichkeit gelangte, und daß der österreichische Geistliche und die beiden Nonnen, die sich ihm angeschlossen hatten, die ersten Europäer waren, denen die Flucht gelang. Diese stellte ja auch fast eine übernatürliche Leistung für Mensch und Tier dar: in knapp sieben Tagen und Nächten legten die Flüchtlinge auf ihren Kamelen unter steter Gefahr die enorme Distanz von 750 km zwischen Khartum und dem ägyptischen Grenzposten von Murat zurück! Erst vier Tage später konnte Slatin auf demselben Weg dem Khalifa entfliehen. Und als 1896 auch seine Memoiren erschienen, regte sich in England der Drang, dem Mahdismus endlich ein Ende zu machen. Einer gewaltigen englisch-ägyptischen mit modernsten Waffen ausgerüsteten Armee sollte es gelingen, innerhalb von zwei Jahren die Heerscharen des Khalifa zu dezimieren. Seinem Freund Otto schreibt Carl weiter (von den Engländern sprechend):

"... Auf Ägypten haben sie schon die Hand gelegt, aber Nubien und der Sudan, die dreimal größer sind, befinden sich noch unter der Herrschaft der Mahdisten. Hier in Cairo sind die Engländer geschickt eingedrungen: zuerst haben sie – und man sagt, daß auch Geldmittel dabei eine gewisse Rolle spielten – die von Arabi Pascha befehligten Truppen im Feld geschlagen und dann diesen Einheiten englische Offiziere gegeben und sich ins Kriegsministerium hineinmanövriert. Später haben sie eigens englische Truppen geschickt, und heute sind alle wichtigen Stellungen im Kriegs- und Finanzministerium und in den Verwaltungen von Engländern besetzt, indem man alle Araber und Türken, die diese Posten innehatten, kaltstellt. Es genügt, einen kleinen Spaziergang in die Ministerien zu machen, um überall Angehörige dieser nordischen Rasse zu treffen, die ihre 50 Pfund im Monat einkassieren. Dabei ist das Land bis über die Ohren verschuldet und die armen Fellachen müssen mehr Steuern bezahlen als sie einnehmen."

"... Samuel, der von Lavanchy in der Schweiz auferzogen wurde – er ist in Peseuz ins Seminar gegangen – ist jetzt bei uns im Geschäft. Er war s.Z. mit Gordon in Khartum und wurde durch ein Wunder nicht auch ermordet. Später gelang ihm die Flucht unter tausend Gefahren. Er erzählt uns viel von Nubien und dem Sudan."

Es ist interessant, in Pater Ohrwalders Buch nachzulesen, wieso gerade zu jener Zeit (Anfang 1890) wieder kleine Quantitäten von Gummi arabicum den Nil hinabtransportiert wurden. Khalif Abdullah hatte damals einen äußerst klugen und aufgeklärten Schatzmeister, Uad Adlan, der einsah, daß sich das Land ohne Außenhandel niemals erholen würde. Anstatt, wie Abdullah es vorgesehen hatte, eine Art chinesischer Mauer zwischen Ägypten und dem Sudan aufzurichten, brachte Uad Adlan den Khalifa dazu, Elfenbein und Gummi als Staatsmonopole zu erklären. Gummi wurde sogar anstatt Geld für Bezahlungen angenommen. Den Händlern wurde erlaubt, an den Grenzen Waren auszutauschen, das Schatzamt machte große Gewinne, und das Volk war weniger unterdrückt als zuvor. Aber die wachsende Popularität Uad Adlans erweckte die Eifersucht des Despoten und seiner Stammesangehörigen, und es dauerte nicht lange, bis auch er zum Tode verurteilt wurde und am Galgen hing.

In seinem "White Nile" schreibt Alan Moorehead: "Man kann das Jahr 1889 als die Umkehr der Gezeiten gegen den Khalifa betrachten. ... Das Land entvölkerte sich, und etwas später schätzte Slatin, daß etwa 75% der ursprünglichen ungefähr 9 Millionen Bewohner während der Regierung des Khalifen umkamen. Der fortwährende Krieg und der Sklavenhandel kosteten jedes Jahr Tausende von Menschenleben."

Stanley in Kairo

Im Januar 1890 wurde Stanley mit den Ehren, die seinem außerordentlichen Mut, seinen fast übermenschlichen Leistungen, seinen sensationellen Entdeckungen und seinem hervorragenden schriftstellerischen Talent gebührten, in Kairo empfangen. Es war mitten in der Fremdensaison, und, wie Carl schreibt, waren alle Hotels bis zum letzten Zimmer mit Touristen gefüllt. Auf einer alten, damals in einer Tageszeitung erschienenen Zeichnung sehen wir, wie Stanley auf der Treppe des Continental Hotels vom bekannten Schweizer Hotelier Charles Baehler ehrerbietig begrüßt wird.

Carl schreibt seinem Bruder:

"... Papa war von der 'Societé Khédivale de Géographie' eingeladen, Stanley bei seiner Ankunft abzuholen, sowie an dem vom Gouverneur organisierten Bankett für 150 Personen, das zu Ehren des Forschers veranstaltet wurde, teilzunehmen. Stanley wird den Rest des Winters hier verbringen, bevor er wieder nach England zurückkehrt."

Und zwei Monate später:

"Ich habe einen sehr interessanten Vortrag von ihm gehört. Er ist eher klein, hat einen ruhigen Ausdruck, aber einen außerordentlich durchdringenden Blick."

Stanley kam von der letzten seiner großen Afrika-Expeditionen zurück. Diese wurde 1886 ins Leben gerufen, nachdem die Mahdisten schon den ganzen Sudan mit Ausnahme von Äquatoria besetzt hielten und Khartum seit mehr als einem Jahr gefallen war. Es handelte sich darum, Emin Pascha und seine ägyptische Garnison zu befreien, nachdem dieser geniale Arzt, Naturforscher, Ethnologe und Administrator schon zwölf Jahre am oberen Nil ausgeharrt hatte. Es war ihm gelungen, eine Bevölkerung von mehr als 10.000 Menschen (worunter viele Frauen und Kinder), die entweder ägyptische Besatzungsmitglieder oder Flüchtlinge aus den nördlicheren Sudan-Provinzen waren, jahrelang aus eigenen Kräften am Leben zu erhalten. Emin besaß eine kleine Flotte von Dampfschiffen, baute Baumwolle und Gemüse an und kaufte bei Gelegenheit mit Kaurimuscheln (die er am Strand des Indischen Ozeans hatte sammeln lassen) große Vorräte an Elfenbein als Tauschware.

Da Stanley seine Dienste nicht nur der im Entstehen begriffenen "British East Africa Company", sondern auch König Leopold von Belgien angeboten hatte, faßte er den kühnen Entschluß, das Kap der guten Hoffnung zu umfahren, um dann per Schiff, von der Kongomündung aus, 1.500 km flußaufwärs zu reisen! In den dunklen pfadlosen Itury-Wäldern, wo die Pygmäen vergiftete Pfeile in den Boden gesteckt hatten, verlor Stanley die Hälfte seiner Begleiter. Erstaunlicherweise gelang das Zusammentreffen mit Emin, doch war dieser nicht gewillt, seine Schutzbefohlenen zu verlassen. Stanleys Vorschlag, Äquatoria für König Leopold zu verwalten, schlug er ab, und auch für den Gedanken, an der Nord-Ost-Ecke des Viktoriasees die "British East Africa Company" zu vertreten, konnte sich Emin nicht ohne weiteres entschließen. Um ihm Zeit zu geben, kehrte Stanley an den Aruwimi-Fluß (einem Zufluß des Kongo) zurück, wo ihn aber neue, furchtbare Unglücke trafen. Von den fünf weißen Expeditionsteilnehmern war nur noch einer am Leben und mehrere hundert von seinen Schwarzen waren den Strapazen erlegen. Unterdessen war es auch Emin schlecht gegangen. In Dufile hatten seine Soldaten gemeutert und ihn und seine beiden europäischen Gefährten in Ketten geworfen. Als aber die Boten des Khalifa die Grenze von Äquatoria überschritten, wurden sie von Emins Leuten niedergemetzeit. Emin und seine Begleiter wurden befreit und flohen nach Lado, wo Stanley sie vorfand. Da Emin nur noch auf die Hälfte seiner Garnison zählen konnte, faßte er den schweren Entschluß, Stanley an die Ostküste zu folgen.

Auf dieser mühevollen Reise, die nur dank der eisernen Disziplin des Expeditionsleiters Stanley ausgeführt werden konnte, verschlechterten sich die Beziehungen zwischen den beiden Männern immer mehr. Emins Stolz widerstrebte es zutiefst "gerettet" werden zu müssen, und für Stanley waren die Sammelwut und die wissenschaftlichen Spitzfindigkeiten des Gelehrten eine stete Geduldsprobe. Auch litten beide an schweren Malaria-Anfällen, die sie zwangen, die Reise zu unterbrechen. Doch war es ihnen vergönnt, erstmals die herrliche Ruwenzori-Kette, das "Mondgebirge" der Alten, mit eigenen Augen zu schauen, ein unvergesslicher Anblick! Als sie endlich in Bagamoyo ankamen, war die Stadt zu ihrem Empfang beflaggt, und englische und deutsche Kriegsschiffe erwarteten die beiden Forscher. Ein persönliches Telegramm vom deutschen Kaiser und ein Riesenbankett taten das ihrige, um Emin vor Freude fast zu überwältigen. Als er sich aber nach zwei Ansprachen zurückzog, machte er, seiner schlechten Augen wegen, einen Fehltritt, stürzte 5 Meter in die Tiefe und erlitt einen Schädelbruch, von dem er sich erst nach Monaten erholen sollte.

Stanley entschloß sich nach einiger Zeit zur Abreise nach Ägypten, denn (in den Worten von Moorehead) "die Welt wollte Stanley, den Erretter, und nicht Emin, den Erretteten feiern". In Kairo erwarteten ihn Telegramme von Königin Victoria, Leopold von Belgien, dem Khediven Taufiq, dem deutschen Kaiser und dem Präsidenten der Vereinigten Staaten. Man wollte ihn in London prachtvoll empfangen. Aber Stanley zog es vor, einige Wochen ruhig in einem kleinen Hotel von Kairo zu verbringen und seine Reisenotizen zu verarbeiten. So entstanden in genau fünfzig Tagen seine beiden Bände "Im dunkelsten Afrika". Das Buch zeitigte einen großen Erfolg und wurde in sechs verschiedenen Sprachen veröffentlicht.

 (Folgendes, als Teil 6, in gekürztet Form, auch in Nr. 3/87, pp. 56—58; –Anm. KFN)

V. Alltag und Zeitgeschehen – Jäger, Sammler und Photograph

Der Reichtum an Wasservögeln scheint damals außerordentlich gewesen zu sein und erinnert an die Relief-Skulpturen und Fresken des alten Pharaonenreiches. Anfang 1890 schreibt Carl seinem Bruder:

"Wenn wir nach Uedy gehen, kommen wir oft mit mehreren Dutzenden von erlegten Tauben, Schnepfen, Wildenten, Wildgänsen, etc. zurück."

Allerdings stellt er ein Jahr später fest, daß Enten und Gänse wegen der viel häufigeren Dampfschiffe bedeutend seltener geworden sind.

"... Während Du Eichelhäher schießest, erlege ich Säbelschnäbler, Sumpfreiher, Schnepfen, etc. und balge sie dann aus. ... Sobald ich einige bessere Bälge habe, werde ich sie Dir als Muster ohne Wert zukommen lassen. Bis jetzt habe ich sie mit Arsen (in Spiritus aufgelöst) vergiftet. Es löst sich aber nur sehr wenig auf."

Im Februar 1890 bekommt Carl einen Brief von Dr. Alfred Staehelin, Präsident der Mittelschweizerischen Geographisch-Commerziellen Gesellschaft in Aarau, der ihn zum korrespondierenden Mitglied ernennt.
Am 15. Februar schreibt Carl wiederum seinem Bruder:

"... Für die mir zugeschickten Photographien danke ich Dir, kann Dir aber kein Compliment machen, denn sie sind gar nicht gut. Es liegt wahrscheinlich am Apparat. Ich rate Dir, einen größeren Apparat d'occasion zu kaufen. Auch ich hatte in der letzten Zeit viel Pech mit dem Albumin-Papier. Einmal waren die Aufnahmen beim Trocknen mit grauen oder gelben Flecken bedeckt, und ein andermal bildeten sich nach dem Waschen eine Menge Blasen darauf. Ich brachte sie durch Walzen zwischen Fließpapier zum Verschwinden. ... Wenn es mir gelingt, werde ich versuchen ein Photoalbum über Ägypten herzustellen und es zu verkaufen!"

Noch immer trachtet Carl danach, bei verschiedenen Firmen Vertretungen von photographischem Material und Apparaten zu erhalten. Besonders die sogenannten "geheimen" Apparate, wie der französische "photographe" scheinen ihn zu interessieren. Auch mit photographischen Platten, besonders den damals beliebten "Glimmerplatten", Chemikalien und Papier (hauptsächlich dem sogenannten "Pergamentpapier") möchte er Handel treiben, nachdem es ihm gelungen war, mehrere von den ganz neuen Photoautomaten in Ägypten abzusetzen. Ganz neu waren auch die "Elfenbein-Filme", und es bedeutete ein Ereignis in seinem Leben, als ihm die ersten Bilder auf diesem schönen Material gelangen. Ihm schwebte auch vor, in Ägypten einen Photographen-Verband zu gründen.

Seinem Freund Pfaff schreibt er im Mai 1890:

"... Es thut mir leid, daß ich Dir meinen Vortrag über Photographie nicht schicken kann, es war eine Improvisation. Wenn Du einen guten Apparat haben willst, so thust Du gut, Dich an Rausch und Co. in Genf zu wenden und separat ein gutes anti-planetarisches Objectiv zu kaufen, wie sie in allen Preislisten erwähnt sind. Willst Du aber lieber einen Detectiv-Apparat erwerben, so rate ich Dir zu demjenigen von Stirn und Co. à Fr. 37,50. In Betracht kommen auch 'Eclipse' und 'Non plus ultra' sowie auch 'Kodak', der aber 150 Fr. kostet. Für die Photographie ist die Geduld die Hauptsache. Wenn Du diese nicht besitzest, dann ist es besser Du lassest die Hände davon. Jedenfalls rate ich Dir, Dich an die 'Revue Suisse' zu abonnieren, vielleicht findest Du auf diesem Wege auch die Gelegenheit, einen guten Apparat aus zweiter Hand zu kaufen."

"... Letzthin war ich mit meinem Vater und seinen Freunden in Heluan, einer Stadt die erst seit sechs Jahren existiert. Sie liegt mitten in der Wüste und ist um eine warme schwefelige Quelle herum gebaut. Etwa ¾ Stunden westlich davon befindet sich am Nil ein malerisches Dorf, wo ich photographierte, während sich nach und nach die ganze Bevölkerung um mich scharte. Darunter waren einige interessante Typen, so daß ich versuchte, sie so gut wie möglich zu gruppieren, aber jedesmal, wenn ich mich meinem Apparat näherte, stoben sie auseinander. Zuletzt bekam ich es satt und packte meinen Apparat wieder ein, um die andern einzuholen. Kaum kehrte ich den Rücken, so verlangten die Kerle alle ein Trinkgeld. Als ich ihnen nichts gab, warfen sie mit Steinen, indem sie mir nachriefen: 'Du Heide, Du Ketzer' etc. Ich war froh nicht allein zu sein, sonst hätte es mir schlecht gehen können."

Aus dem in "Armant" 15 erschienenen Nachdruck von Adolf Ebelings Aufsatz "Das Wüstenbad Heluan bei Kairo" (vom Jahre 1875) vernehmen wir, wie ein deutscher Arzt unter dem Khediven Ismail die damals vor kurzer Zeit wieder entdeckten Heilquellen von Heluan mit einer luxuriösen Badeanlage versehen ließ, nachdem sie seit fast tausend Jahren in Vergessenheit geraten waren. Zwar hatten die alten Ägypter sie schon gekannt, und im 7. Jahrhundert errichtete ein arabischer Herrscher, Abdel-Asis, eine florierende Residenzstadt mit Palmen- und Olivenhainen, in welcher die Heilquellen wahrscheinlich in den Palast des Khalifen geleitet wurden. Über alle diese Pracht hatte sich aber im Laufe der Jahrhunderte der Wüstensand wieder ausgebreitet. Die neue Stadt, von der Carl spricht, war das Werk des Khediven Taufiq.

Cairo, den 7. April 1890
"Lieber Alfred,
Am Karfreitag mußten wir hier den ganzen Tag arbeiten, ebenso heute, Ostermontag; gestern, Ostersonntag den halben Tag. ... Ein Engländer hat bei den Pyramiden ein schönes Hotel gebaut, das immer überfüllt ist. Zuerst sagte man, er sei verrückt. ... Wenn ich Geld hätte, würde ich gewiß in der Nähe der Pyramiden ein Stückchen Land kaufen (das wohl sehr billig ist) und ein Häuschen errichten! Und die Erlaubnis zum Graben einholen! Übrigens hat man im Sinne, auf dieser Strecke ein Tramway oder eine Eisenbahn zu bauen."

"... Die Pyramiden sind großartig, aber leider darf man sie nicht ohne Führer ersteigen und muß dabei eine Taxe von 5 Franken bezahlen! Die Sphinx ist hochinteressant. Sie ist ganz in den Felsen gehauen. Leider fehlt ihr die Nase, welche ihr die Soldaten Napoleons mit einer Kanonenkugel abgeschossen haben. Ich habe auf der Erdoberfläche ein paar Fragmente von Antiquitäten gefunden. Aber vielleicht waren es Nachahmungen, die Araber dahin legten, um sie dann in Gegenwart eines Engländers aufzulesen."

Auf einer Photographie aus dieser Zeit sehen wir Carl im Hofe des väterlichen Hauses neben einem schönen altägyptischen Sarkophag stehend. Ein Lehrer aus Pfatten (Südtirol) schreibt, um ihn zu bitten, ihm die Hand einer Mumie zu schicken. Daraus ist zu entnehmen, daß Vater und Sohn bereits begonnen hatten, Antiquitäten zu sammeln.

Das damals neue, bei den Pyramiden gegründete Hotel ist das spätere "Mena House". Es war ursprünglich als kleines Rasthaus für die Kaiserin Eugénie an der Straße errichtet worden, die anläßlich der Eröffnung des Suezkanals unter dem Khediven Ismail gebaut worden war. Mr. Head, der neue englische Besitzer, kaufte es im Jahre 1890, baute ihm ein Stockwerk auf und vergrößerte es beträchtlich. 1906 wurde das Hotel unter dem Namen "Mena House" der von C.Baehler präsidierten Kette der "Grands Hotels d'Égypte" angegliedert.

An seine Schwester Alice gehen folgende Zeilen:

"... Ich habe in der letzten Zeit sehr wenig photographiert, außer den Pharaonsratten, die wir, da sie auf der Terrasse alles verdarben und den Nachbarn die Hühner und auch die Kaninchen wegfraßen, leider mit Strychnin vergiften mußten (ich habe sie abgebalgt). Man konnte sie ja nicht eingesperrt lassen, und im Haus fraßen sie alles, was ihnen unter den Zahn kam. In Venedig hatte ich drei Schildkröten erworben, die mir aber die Pharaonsratten mit Haut und Schale verspiesen haben. Seitdem kaufte ich hier eine Springmaus und eine Wüsteneidechse. Erstere wurde nach einigen Tagen wahrscheinlich von einer Katze gefressen, letztere ißt, seitdem ich sie vor ca. vier Wochen anschaffte, überhaupt nichts und lebt noch."

 (Folgendes, als Teil 7, in gekürzter Form, auch in Nr. 4/87, pp. 62—65; –Anm. KFN)

Aus dem Geschäfts- und Gesellschaftsleben

Cairo, den 24. Juni 1890
"Mein lieber Sement,
... Du fragst mich, ob man hier leicht Anstellungen bekommen kann. Ich muß Dir leider antworten, daß dies sehr schwer ist und daß die Stellen meistens sehr schlecht bezahlt sind. Viele Staatsbeamte sind arbeitslos. Im Credit Lyonnais zum Beispiel erhält ein Angestellter, der frisch aus einer einjährigen Lehre kommt, 50 Franken, nach einigen Jahren dann 75 Franken, nach weiteren Jahren 100, wobei die untern Angestellten niemals mehr als 150—200 Franken verdienen. ... Die Geschäfte gehen schlecht, aber der Zinsfuß ist sehr hoch. Für ein Pfand wird 12% bezahlt."

Obschon seit den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts und wahrscheinlich schon früher Uhren nach Ägypten importiert wurden, ist die Nachfrage immer sehr groß gewesen. Es waren aber nicht Schweizeruhren, die begehrt und gut bezahlt wurden, sondern die englischen Marken "Prior" und "Markwich". Ja die schweizerischen Fabrikate sollen damals sogar als "Schundware" verschrien worden sein! Obschon gewisse Genfer Uhrenmacher sich erlaubten, ihre Ware mit englischen Marken zu versehen, hielten sie es nicht für notwendig, deren Qualität zu verbessern. Aber schon vor der Mitte des Jahrhunderts hatte sich alles verändert. Mehrere Schweizer brachten Pendeluhren und Sackuhren nach Ägypten. Carl hatte Freunde in der Neuenburger Uhrenindustrie und fragte einen von ihnen, ob er vielleicht silberne Sackuhren mit türkischem Ziffernblatt liefern könnte, und zwar

"... so billig wie möglich, denn die Araber wollen etwas Schönes für wenig Geld. Die Uhren verkaufen sich hier im Detail für 25 Franken. Vielleicht könntest Du uns eine Vertretung geben, falls Ihr in Ägypten noch keine habt."

"... Ich zweifle, ob ich hier gute Freunde finden werde, denn es scheint, daß man niemanden trauen kann. Es gibt zwar ein paar Schweizer, aber sie sitzen abends meistens in den Cafés und da gehe ich nie hin. Es gibt hier eine Menge Seuchen und ich bin, ohne es zu wollen, im Begriff ein richtiger 'Philister' zu werden!"

"... Im großen, öffentlichen Garten von Ezbekieh spielt zweimal in der Woche eine englische Kapelle. Abends, wenn die Gasflammen brennen, ist die Stimmung oft ganz märchenhaft. An Sonntagen mache ich manchmal Ausflüge, natürlich nicht zu Fuß, sondern mit der Kutsche oder der Bahn, zum Beispiel zur Straußenfarm in Matariya, die von Franzosen betrieben wird und ca. 800 Tiere umfaßt, oder zum Obelisken von Sesostris, etc."

Shepheard's Hotel
Shepheard's Hotel am Garten von Ezbekieh (1952 abgebrannt)

In einem von Pfingsten 1890 datierten Brief schreibt Carl seinem Bruder:

"Wie Du wissen wirst, haben wir in Port-Said liquidiert. Papa hat dort seit ca. einem Jahr 100 000 Franken verloren! Es ist himmelschreiend! Und das nicht etwa durch Spekulation, sondern durch Nachlässigkeit und Diebstahl. Wir hatten dort ein Depot des Zigarren-Monopols, und als man nun die Rechnung machte, hatte N. für 600 Franken Zigarren, die er verkaufte, vergessen einzuschreiben; auch sind noch die 700 Franken für Comission verloren."

Trotz dieses enormen Verlustes durfte Carl in jenem Sommer für zwei Monate mit seinem Vater in die Schweiz reisen. Es war aber nach der großen Hitze auf dem Meer so kalt, daß er mit einer Lungenentzündung in Aarau ankam. Dies verhinderte ihn, an der Jahresfeier seines geliebten Handelsvereins in Neuenburg teilzunehmen. Andernteils sorgten die beiden Väter dafür, daß er auch Marthe nicht treffen konnte. Trotzdem nimmt er mit viel Mut und Zuversicht bei vermehrter Verantwortung seine vielseitigen Tätigkeiten in Ägypten wieder auf.

Im November 1890 schreibt Carl an seinen Bruder:

"... Seitdem ich wieder hier bin, habe ich fast nicht photographiert, hatte eben absolut keine Zeit dazu. Ich war noch kein einziges Mal auf der Jagd, da ich mit den Waren, die aus Port-Said gekommen sind, über Kopf und Hals zu thun habe. Auch konnte ich wegen dringenden Geschäften der Einladung zu einer Tour in den Versteinerten Wald, die zwei Tage in Anspruch nimmt, nicht Folge leisten."

Seinem Freund Ernest schreibt Carl..

"... In der letzten Zeit waren hier große Festlichkeiten: der Prinz und die Prinzessin von Norwegen machten einen Staatsbesuch, und später kamen der Czarewitsch und der Kronprinz von Griechenland. Besonders die beiden letzteren wurden mit großem Pomp empfangen. Ich wollte von der Straße aus photographieren, konnte aber der vielen Leute wegen nichts machen. Auch die französischen Marinetruppen und später die deutschen sind hier gewesen und bekamen einen großartigen Empfang. Am Montag gab es ein prachtvolles Feuerwerk. Leider konnte ich nicht hingehen, da Kuriertag war."

Immer wieder ist in Carls Briefen von den schweren Zeiten die Rede, von langen Arbeitsstunden mit wenig Gewinn. Wenn Andreas Bircher seinem Sohn kaum einen freien Sonntag Nachmittag gönnte, so erlaubte er auch sich selbst kaum eine Zerstreuung. Die Verluste in Port-Said waren für ihn eine schwere Demütigung. Carls Briefe aus jenen Monaten spiegeln diese Stimmung wider:

Cairo, den 28. Januar 1891
"Liebe Alice!
Weihnachten ging bei uns sehr still vorüber, und am Morgen mußten wir sogar im Bureau arbeiten. Von Tannenbaum und Geschenken war gar keine Rede. Was hast Du Schönes bekommen? Dagegen veranstaltete der Schweizer Hilfsverein einen Christbaum-Abend, an dem ca. 120 Personen teilnahmen. Ich war beim Empfangscomité und mußte Getränke und Süßigkeiten anbieten. Habe mich sehr gut amüsiert. Übrigens haben jetzt die Schweizer im Sinn, wieder einen Club zu gründen."

"Obschon alle Wochen viermal Theatervorstellungen (Opern) stattfinden, war ich noch gar nie dort. Auch wird jetzt ein Saal zum Rollschuhfahren eingerichtet, es wird ein theures Vergnügen werden!"

Folgender Brief an Marthe ist rührend und tragisch zugleich, denn es schwebt darin mehr als nur die Furcht vor dem unbeugsamen Willen des Vaters, etwas wie ein Vorgefühl, daß seinem Leben ein frühes Ende beschieden sein sollte.

"... Hier ist der Neujahrstag recht traurig vergangen. Am Sylvesterabend bin ich schon um 11 Uhr schlafen gegangen. Am folgenden Morgen habe ich im Bureau gearbeitet und, wie sehr oft, erst um 2½ zu Mittag gegessen, da mein Vater dringende Geschäfte in seinem Magazin (Dépôt) zu erledigen hatte. Am Nachmittag habe ich ein paar Aufnahmen gemacht. Das ist alles. Wenn ich daran denke, wie Du jetzt Schlittschuh fahren gehst, bekomme ich eine Art Heimweh. Wie gerne wäre ich jetzt auf dem 'Mail' (Anm. 8) inmitten der fröhlichen Schlittschuhfahrer am Arme von jemandem, die Du kennst! Und wenn ich nach diesen Träumereien in die Wirklichkeit zurückfalle, habe ich das Gefühl, im Lande der Toten zu sein, denn hier fühlt man mehr als anderswo den täglichen harten Kampf ums Dasein."

Daß ein Handelslehrling zu jener Zeit weder auf Entlohnung noch auf erstklassige Behandlung ein Anrecht hatte und froh sein mußte, wenn er bei einer guten Firma arbeiten und lernen durfte, haben wir schon gesehen. Folgender, im Januar 1891 an einen Neuenburger Kollegen gerichteten Brief ist in dieser Hinsicht auch interessant.

"... Noch ein kleines Beispiel, welches zeigt, daß die Lehrlinge hier arroganter sind als in Neuenburg. Gestern antwortete mir ein 15jähriger Lehrling so grob, und ich sagte ihm, wenn er noch einmal so etwas erwidere, werde ich ihm eine Ohrfeige geben. Weißt Du, was er that? Es ist nicht mehr aufs Bureau gekommen, und seine Mutter hat sich bei uns beklagt, daß ich ihn mit einer Ohrfeige bedroht habe! Das ist anders als in der Banque Prury, wo man täglich mit so einem Geschenklein bedroht war, und wo Herr Feißli sie nach rechts und links austeilte!"

Im Mai 1891 schreibt Carl seinem Bruder:

"Nur geschwind einige Zeilen, um Dir zu zeigen, daß ich noch am Leben bin. Ich habe jetzt keine Sekunde für mich und muß leider die Photographie für einige Zeit an den Nagel hängen. W. ist nämlich infolge übermäßigen Genusses von Alkoholika krank geworden, und ich muß nun auch den Kurier machen. Er ließ nicht einmal sagen, daß er krank sei und kam auch nicht in sein Zimmer, das er hier im Hause hat, sondern blieb in der Pension liegen."

 (Folgendes, als Teil 8, in gekürzter Form, auch in Nr. 5—6/87, pp. 66—68; –Anm. KFN)

Hochsommer in Kairo

In jenem Sommer (1891) mußte Carl in Kairo ausharren, während der Vater seine alljährlichen Sommerferien in Aarau bei den Seinen verbrachte. Carl genießt nun ein wenig Selbständigkeit und freut sich, anläßlich seiner Mahlzeiten in der Pension "Kettuna" andere junge Geschäftsleute zu treffen. So zum Beispiel Heinrich Meyer, den Schweizer, dem seine Landsleute ihr jetziges Klubhaus und die Bewohner von Kairo ihre Abwasser-Kanalisation verdanken (nicht gerade schmeichelhaft wurde er schon damals von seinen Altersgenossen familiär als "Dreckmeyer" bezeichnet). Damals, als die beiden jungen Leute sich kennenlernten, war Meyer ein kleiner Angestellter der "Cairo Sewage Co.". Er arbeitete sich aber rasch hinauf, wurde 1898 Direktor der Gesellschaft und übernahm 1909 auch die Leitung der "Manure Co.". Darum gediehen die Orangen der Umgebung von Cairo so gut. 

Die Schweizer sind ihm viel Dank schuldig, denn er war es, der den schweizerischen Schiesstand gründete und finanzierte und somit seinen Landsleuten in Ägypten erlaubte, sich in ihrem traditionellen Lieblingssport zu üben. Später vermachte er ihnen auch testamentarisch seine schöne Villa mit dem großen Garten in Embaba. Seine Verbundenheit mit der Schweizer Kolonie, sein Gemeinschaftsgefühl, sein hervorragendes Geschäftstalent und sein unermüdlicher Fleiß fanden bei Carl tiefes Verständnis und Sympathie.

Am 15. Juli schreibt Carl seiner Mutter:

"... Auch hier soll am 1. August das 600jährige Jubiläum der Gründung der Eidgenossenschaft festlich gefeiert werden, und zwar kommen alle Schweizer aus Ägypten in Alexandrien zusammen. Ich werde aber wahrscheinlich nicht gehen können."

Seinem Bruder erklärt er:

"Ich bin hier im Organisationscomité für Cairo. Papa will mich aber nicht gehen lassen."

Und seinem Vater, der soeben in die Schweiz abgereist ist:

"... Das Fest soll grandios werden. Custer und Co. (Inhaber und Gründer eines großen Eisen- und Metallgeschäftes, das schon unter dem Khediven Ismail bestand) werden am 31. Juli und am l. August ihr ganzes Bureau schließen und auch Hohl (der schweizerische Inhaber einer großen Papeterie, Druckerei und graphischen Anstalt, die später die wichtigste Unternehmung auf diesem Sektor werden sollte) wird seinen Laden zumachen. Die Schweizer reden nur noch von diesem Fest, und Custer war letzthin deswegen in Alexandrien. Beiliegend das Programm, das in der 'Egyptian Gazette' und in allen andern Zeitungen erschienen ist."

"Die Unterschriften für das Bankett sind bereits gesammelt worden. Ich wollte nicht unterschreiben. W.Wagner bewog mich aber dazu, indem er sagte, wir seien uns das schuldig und würden sonst 'verschrien'!"

Begeistert schreibt Carl im folgenden Brief:

"... Die Feier war wirklich grandios, die Reihen, das Bankett, die vielen lebenden Bilder und vor allem die prachtvolle, glänzend mit electrischem Licht beleuchtete Decoration. Mit L.Bangerter (einem jungen Schweizer, der in Muski ein Uhrengeschäft besaß) zusammen nahm ich am folgenden Tag den Nacht-Expreß, der uns in sechs Stunden nach Cairo zurückbrachte."

"... In Bulaq herrscht momentan eine Cholera Epidemie. M. hat soeben berichtet, es habe gestern dreißig Tote gegeben, aber ich weiß nicht, ob es wahr ist. Alle Häuser müssen getüncht werden. Ich bin sehr vorsichtig und habe auch am 1. August fast nichts getrunken, obschon reichlich Gelegenheit dazu vorhanden war."

Man stand damals den verheerenden Seuchen machtlos gegenüber.
Am 1. September schrieb Carl seinem Bruder:

"... Ich sandte im ganzen zehn Aufnahmen nach Wien an die Internationale Photographie-Ausstellung, wo der 'Koranleser', den ich Dir geschickt habe, angenommen wurde. Nach den Statuten soll jeder, dessen Aufnahmen ausgewählt worden sind, ein von der Erzherzogin Maria-Theresia unterschriebenes Diplom empfangen. Das Bild ist auf Elfenbein-Film ausgeführt und gefällt jedem."

Auf Seite 350 bricht das Manuskript ab. Ursprünglich enthielt es wahrscheinlich 500 Blätter, und es ist bedauernswert, daß die letzten 150 Seiten fehlen. Carl hatte damals, im September 1891, noch etwas mehr als 15 Monate zu leben. Er erkrankte im Januar 1892 an schwerem Typhus, der ihn am 6. Februar dahinraffte. Der letzte Brief des Kopierbuches ist an Marthe gerichtet, dem Mädchen aus Neuenburg, mit dem er, wie er schreibt, auf der glitzernden Eisbahn des "Mail" schlittschuhfahrend die schönsten Stunden seines Lebens verbracht hatte.

Anmerkungen:
    • Anm. 1 
      Der Postverkehr – ein Werk des Khediven Ismail – scheint in jener Zeit tadellos gewesen zu sein. In der Baedeker-Ausgabe von 1900 kann man lesen, daß auch in den kleinen Ortschaften die Postbeamten zuvorkommend und pünktlich waren und man als Fremder jederzeit darauf zählen konnte, daß einem die Post bei Wohnungswechsel rasch und zuverlässig nachgeschickt würde. Im Nachlaß von Andreas Bircher sind abgestempelte Briefumschläge gefunden worden, deren Aufschrift ausschließlich aus seinem Namen und "Cairo" bestand!
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    • Anm. 2 
      Es handelt sich um die keineswegs unschuldigen, sogenanntes "Uluma"-Tänze.
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    • Anm. 3 
      Siehe den Artikel 'Genênet Bircher' von Dr. H.Fischer, Armant.
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    • Anm. 4 
      Moorehead, The White Nile, Hamish Hamilton, London 1960
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    • Anm. 5 
      Wingate, Ten Years' captivity in the Mahdi's Camp, 1882—1890. From the original manuscripts of Father Joseph Ohrwalder, late Priest of the Austrian Mission Station at Delen, Kordofan. Sampson Low, Marston & Co. Ltd., London 1892
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    • Anm. 6 
      J.R. Fiechter, "Cent ans de Vie Suisse au Caire", Mémoires et documents, Alexandrie 1946
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    • Anm. 7 
      Die sogenannten Kapitulationen entsprachen einer auf das römische Imperium zurückgehende Institution, indem ein spezieller Richter, der "Praetor Peregrinus", sich mit den auf die Fremden beziehenden Gesetzen, dem "Jus Gentium", befaßte. "Kapitulation" kommt vom lateinischen "capitulum", d.h. Kapitel; Bestimmungen zum Schutze der Kaufleute wurden in verschiedene Kapitel (unter verschiedenen Überschriften) aufgeteilt. Die Bezeichnung hat hier nichts mit Kapitulation im Sinne einer vertraglichen Unterwerfung an den Feind zu tun. Da einer der großen Handelswege zwischen dem Westen und dem fernen Osten über Ägypten, via Suez, führte, sahen sich nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches die arabischen Herrscher veranlaßt, den europäischen Kaufleuten gewisse Garantien zu deren Schutz zu gewähren. Die ersten Nutznießer der Kapitulationen waren, unter den Fatimiden, die Pisaner, gefolgt von den Florentinern und Venetianern, wobei jeder Staat in den größeren Städten sein eigenes Quartier, einen sogenannten "Khan" oder "Funduq", zugeteilt bekam. In diesen oft festungsartigen Gebäuden wohnten der Konsul und seine sämtlichen Landsleute und wurden auch die Tiere beherbergt und die Waren gelagert. Es handelte sich damals noch um Schutzmaßnahmen, die sich ausschließlich auf die Sicherung des fremden Handels bezogen. Erst im 19. Jahrhundert bekamen die Kapitulationen auch eine wichtige politische Bedeutung.
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    • Anm. 8 
      "Mail" ist der Name einer Schlittschuhbahn in Neuchâtel
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Zur Autorin Warda Bircher
von Annie Gismann
Papyrus-Logo Nr. 10/86, pp. 34—35

Warda Hermine Bircher, 1905 in Kairo geboren, entstammt in der dritten Generation einer in Ägypten ansässigen Schweizer Familie. In Zürich studierte sie Botanik, Geologie und Paläontologie. Ihr Beruf führte sie nach Ankara, Teheran und wieder nach Ägypten. Nach ihrer Heirat mit dem Luxemburger Geologen Paul Bleser begleitete sie ihren Mann nach Indonesien, Nigeria, Kanada, in die Türkei und nach Kambodscha. Heute lebt Warda Bircher-Bleser in ihrem Geburtslande auf ihrem in der Nähe von El-Saff gelegenen Landsitz am östlichen Nilufer, ungefähr 70 km südlich von Kairo; zwei Tage in der Woche ist sie in Maadi anzutreffen. In El-Saff betreut sie mit ihrem Mann einen von ihrem Vater Alfred Bircher um die Jahrhundertwende angelegten botanischen Garten, der sich im Laufe der Jahre auf fast 7 Hektar vergrößerte. Über dieses Arboretum, dessen Zweck es war, herauszufinden, welche tropischen und subtropischen Nutz- und Nährpflanzen sich einbürgern ließen, veröffentlichte sie 1960 ein umfangreiches, von ihr illustriertes Buch: "Gardens of the Hesperides", das nach den allgemeinen und systematischen Teilen auch nützliche Zusammenstellungen, Listen und Kalender enthält. – PAPYRUS-Lesern ist sie durch ihre kenntnisreichen Artikel über Palmen bekannt.
In ihrem Artikel "Zwei Schweizer Kaufleute in Ägypten. Eine Skizze aus der Zeit der Khediven", berichtet Warda Bircher, teils aus Familienpapieren, vom Leben und Schaffen ihres Großvaters Andreas Bircher, der zur Zeit des Khediven Ismail in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts nach Ägypten kam, sowie von den Erlebnissen ihres frühverstorbenen Onkels Carl zur Zeit des Khediven Taufiq (um 1890). Doch ist der Rahmen ihres Berichtes räumlich weiter gehalten, als der Titel uns vermuten läßt, denn Ägypten umfaßte damals den Sudan und war Ausgangspunkt für ausgedehnte Unternehmungen.
Andreas Bircher, zweisprachig wie so viele Schweizer, war nicht nur ein tüchtiger Kaufmann, der einen blühenden Handel aufbaute und lokale Industrien in die Höhe brachte, sondern er erlangte, dank seiner vielseitigen Interessen, auf den verschiedensten Gebieten Bedeutung. So befand er sich unter den Gründern wissenschaftlicher Gesellschaften, eines Hilfsvereins, eines Krankenhauses, der Freimaurerloge "Sphinx", des Klubs "Cercle Suisse". Sein Haus bildete ein Zentrum für deutschsprachige Forschungsreisende, Naturwissenschaftler, Künstler, wenn auch sein Freundeskreis international war. Jahrelang fungierte er als Richter an der internationalen Handelskammer und an den gemischten Gerichten. Er war geographisch, ethnologisch, archäologisch interessiert. Bei seinem Tode (1925) hinterließ er eine der schönsten und reichhaltigsten altägyptischen Sammlungen, die sich je in Privatbesitz befanden und die unter Kennern Weltruf hatte.
Aus der Erzählung seiner Enkelin entsteht vor unseren Augen eine entschwundene, bewegte Welt.

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Fingerzeig Zum 2. Teil von "Ägypten vor (mehr als) 100 Jahren":
         Kairo vor mehr als 100 Jahren
Fingerzeig Zum 3. Teil von "Ägypten vor (mehr als) 100 Jahren":
         Alexandria in alten Reisebeschreibungen 1761—1911
Fingerzeig Zum 4. Teil von "Ägypten vor (mehr als) 100 Jahren":
         Eine Orientreise vom Jahre 1881

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