Stadtplanung in Ägypten
Misr* ist Kairo und Kairo ist Misr *Misr (arab.) = Ägypten
Nr. 11/89, pp. 8183 Wenn Sie an irgendeiner Bushaltestelle oder Zugstation oder an einem Taxistand in einem beliebigen Ort in ganz Ägypten warten und irgendeinen Reisenden fragen würden, sei es ein Landbewohner oder ein Gelehrter: "Wohin fahren Sie?", so würde er sofort antworten: "Ich fahre nach Misr!" Wiederholen Sie die Frage: "D.h., Sie fahren nicht nach Kairo?", dann ist er verblüfft, still für einen Moment, schaut Sie zweifelnd an und sagt: "Was ist los, Herr, Misr ist Kairo und Kairo ist Misr, ist das nicht so?" Der Mann hat recht: von unserer Kindheit an wissen wir, daß Misr Kairo ist und Kairo Misr ist, wir kennen sogar den Namen 'Kairo' nur aus Büchern und Zeitungen und von der Ansage im Radio "Hier ist Kairo!" Und wenn Sie genauer hinsehen, dann merken Sie, daß die Busse von und nach Kairo folgende Schilder haben: 'MisrAlexandrien', 'MisrTanta', 'MisrAssiut'. Sogar die Zugstation in Alexandrien trägt den Namen 'Misr-Station'. Wo ist der Name 'Kairo' nicht verschwunden?
Tatsächlich hat niemand jemals den Namen Kairo vergessen und keiner
beabsichtigt, ihn zu vergessen, aber die Wahrheit ist eben, daß Misr nur Kairo
und Kairo ganz Misr ist.
Experten haben berechnet, daß in Kairo bis zum Jahre 2000 16 Millionen Menschen leben werden! Stellen Sie sich vor, 16 Millionen Menschen leben auf einer Fläche von 3.600 km² das ist die Fläche von Großkairo. Ein Kairener hat 30 m² zur Verfügung, während ein Pariser 200, ein New-Yorker 350 und ein Moskowiter 180 m² zur Verfügung hat! Der Kairo-Bewohner soll in diesem engen Kleid essen, trinken, wohnen, heiraten, Kinder bekommen, für die wiederum Nahrung, Kleidung, Wohnraum, ärztliche Betreuung, Schule, Universität, Beruf gebraucht werden, dann folgt Heirat, Kinder der dritten Generation usw. Kairo verschlingt die Hälfte der Nahrungsmittel von ganz Ägypten Mehl, Brot, Öl, Zucker, Eier, Reis, Linsen, Gemüse, Früchte, Fleisch, Hühner. Es wird sogar inoffiziell behauptet, daß Kairo für seine Bewohner drei Milliarden Dollar von zehn Milliarden Dollar, die Ägypten jeden Tag ausgibt für sich beansprucht. Auf Kairo entfällt ein Viertel der Schüler Ägyptens und die Hälfte der Studenten/-innen, die vier ägyptische und eine amerikanische Universität besuchen. Es bewegen sich in Kairo 3.000 Busse (zu Land und Fluß), Kleinbusse, Straßenbahnen und die Metro (auf und unter der Erde). Zwei Millionen Leute benutzen diese Verkehrsmittel täglich. Dazu kommen 500.000 Privatwagen und 100.000 Autos, die gebraucht werden, um Wege zu besorgen, zum Arzt zu gehen oder nach Familie und Freunden zu fragen. Daneben gibt es 15.000 Kleinbusse, 30.000 Lastwagen und 150.000 Taxis. In Kairo bewegen sich neben 12 Millionen Einwohnern und zwei Millionen Besuchern am Tag noch 300.000 herumziehende Händler und 30.000 Müllkutscher, die täglich 5.000 Tonnen Müll abführen. Und weil Kairo von Natur aus egoistisch ist, befinden sich hier ¾ der bekannten Ärzte und Spezialisten und 84% der privaten Krankenhäuser und 85% der modernen medizinischen Geräte, während Alexandrien nur 10% besitzt und der Rest Ägyptens nur 5%! Alle Medien Ägyptens, abgesehen von dem Sender Alexandriens und der
Fernsehstation in Ismailia, haben ihre Zentrale in Kairo. In unserem Leben
existieren nur die Zeitungen Kairos, es gibt noch keine Zeitschrift, die mit den
fünf großen Tageszeitungen oder den wöchentlichen Zeitschriften Kairos
wetteifern könnte.
Und weil Kairo ein so gutes Herz hat und so liebenswürdig ist, öffnet es jedem seine Tür, nicht nur für einen Tag oder für eine Woche, sondern für das ganze Leben. Obwohl es im Haus keinen Platz mehr gibt, empfängt Kairo jährlich ca. 370.000 Leute. Sie kommen auf der Suche nach Arbeit, nach einem Haus, Essen, einer Schule für ihre Kinder. Der Staat soll das alles für sie arrangieren und sie außerdem mit Licht, Wasser, Straßen, Bussen, Betten in den Krankenhäusern u.ä. versorgen. D.h. 1.000 Leute ohne Arbeit kommen jeden Tag nach Kairo und verlassen die Stadt nicht. Experten sagen, daß alle nach Kairo gehen, weil es dort 40% der
Arbeitschancen gibt und zusammen mit Alexandrien 33% der Investitionen.
Die Fläche Kairos hat sich in den 1019 Jahren seiner Existenz 280 mal
vergrößert. Vor 40 Jahren lebten auf einem Quadratkilometer 11.000 Menschen,
letztes Jahr waren es 30.000!
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Neue Städte in Ägypten
Nr. 56/84, pp. 1017 Seit Jahren wird über die Planungspolitik der neuen Städte in Ägypten geredet, ohne daß allzu viele Fakten darüber bekannt geworden sind. Die folgenden Erläuterungen sollen helfen, das unklare Bild zu erhellen und einige Daten zur Verfügung zu stellen, die in den vergangenen Jahren zusammengetragen worden sind. Autor des Berichts ist Dr. Janos J. Zimmermann, ein von der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) entsandter Berater für die El-Obour New Town Agency (ONTA). Eine Langfassung seiner Arbeit wird demnächst in der "Geographischen Rundschau" des Westermann-Verlags erscheinen.
Die Bevölkerung wird derzeit auf rund 45 Millionen Einwohner geschätzt; sie wächst mit etwa 2,1 Prozent pro Jahr. Ungefähr 45 Prozent der Einwohner des Landes werden der städtischen Bevölkerung zugerechnet. Nach neueren Schätzungen wird Ägypten bis zum Jahre 2000 auf mindestens 67,5 Millionen Einwohner anwachsen. Fast ein Drittel davon wird in den beiden Agglomerationen Kairo und Alexandria wohnen. Die Stadtregion Kairo wächst derzeit mit 3,2 Prozent pro Jahr. Die Gesamtbevölkerung wurde im Jahre 1982 auf 9,6 Millionen Einwohner geschätzt (22 Prozent der Gesamtbevölkerung und 43 Prozent der städtischen Bevölkerung des Landes). Die Kairener leben in einem geschlossenen bebauten Stadtgebiet von einer nahezu unglaublichen Dichte: Die bebaute Fläche betrug 1977 rund 20.600 Hektar annähernd gleich groß wie das bebaute Gebiet der Stadt Hamburg. Pro Tag nimmt die Stadtregion Kairo im Durchschnitt (bis zum Jahre 2000 projiziert) um etwa 1.000 Einwohner zu. Bis zur Jahrhundertwende wird sie auf 16,7 Millionen Menschen anwachsen. Das bedeutet: In den nächsten Jahren sind mehr als sieben Millionen Einwohner zusätzlich mit Wohnungen, technischer und sozialer Infrastruktur zu versorgen, mindestens 17.000 Hektar müssen erschlossen und implementiert werden. Im Zeitraum zwischen 1977 und 1982 wurden in Ägypten 445.500 Wohnungen produziert (durchschnittlich 81.000 pro Jahr). Davon wurden 27,3 Prozent von der öffentlichen und 72,7 Prozent von der privaten Hand ausgeführt. Der private Wohnungsbau wird zu etwa 84 Prozent informell, d.h. ohne offizielle Genehmigung erstellt. Die Hälfte bis zwei Drittel des Zuwachses im formellen Wohnungsbau wird in Kairo in der Regel durch Bebauung von Fruchtland in zwei- bis vierstöckiger geschlossener Bauweise (Betonständer mit Ziegelausfachung) ausgeführt. Trinkwasser wird dabei aus dem Grundwasser hochgepumpt, Abwasser in den nächsten Bewässerungskanal geleitet, Elektrizität durch Anzapfen der nächstliegenden Oberleitung angeschlossen. Anhand eines Vergleichs von Karten wurde zwischen 1968 und 1977 ein Verbrauch des Fruchtlandes von insgesamt 2.950 Hektar für städtische Besiedlung in Kairo ermittelt (vgl. dazu die folgende Tabelle).
Die Planungspolitik der Entwicklung neuer Städte der ägyptischen Regierung hat ihren Ursprung in der Arbeit der "Greater Cairo Planning Comission". Im Jahre 1970 legte diese Kommission einen Stadtentwicklungsplan für die Stadtregion Kairo vor; der sah ferner vor, daß bis zum Jahre 1990 vier Satellitenstädte für jeweils 250.000 Einwohner in der unmittelbaren Umgebung Kairos entwickelt werden. Der Krieg des Jahres 1973 ließ eine kontinuierliche Weiterbearbeitung dieser Vorhaben nicht zu; man konzentrierte sich auf die Wiederherstellung zerstörter Städte. Noch im Kriegsjahr 1973 forderte Präsident Anwar El-Sadat die Entwicklung neuer Städte, um das Fruchtland des Niltales und des Deltas vor dem weiteren Verbrauch für Wohn- und Industrieansiedlungen zu schützen und den Prozeß einer Dezentralisierung einzuleiten. (Daraufhin wurde der "Greater Cairo Master Plan" revidiert.) Im Gegensatz zum ersten Plan wurde jetzt vorgeschlagen, die neuen Städte als selbständige Zentren aufzubauen und weit weg von Kairo und Alexandrien anzusiedeln. Im Jahre 1974 wurden vier neue Städte für jeweils 500.000 Einwohner vorgeschlagen: Tenth of Ramadan, El-Sadat City, King Khaled City und New Amiria City. Die Planung für Tenth of Ramadan und El-Sadat begann im Jahre 1975, ein Planungsauftrag für King Khaled wurde nicht vergeben. Mit der Bauausführung wurde in Tenth of Ramadan im Mai 1977 und in El-Sadat City im Juli 1978 begonnen. Zur gleichen Zeit begann in New Amiria City die Planung und 1979 die Implementation. In den späten 70er und Anfang der 80er Jahre wurden weitere neue Städte in das Programm aufgenommen: Fifteenth of May (1977), Sixth of October (1979), El-Obour (1981) und Dumiyat City (1982). Im Jahre 1979 wurde die "New Urban Settlement Organization" (NSO) gegründet, die dem Büro des Premierministers nachgeordnet ist. Die rechtliche Basis für die Gründung von NSO ist das "New Town"-Gesetz, das auch den organisatorisch-administrativen Rahmen für alle Maßnahmen, die die neuen Städte betreffen, darstellt. Die NSO ist für die Planung, Implementation und Verwaltung der neuen Städte zuständig; sie hat das Recht, Land in Besitz zu nehmen, zu erkaufen, zu enteignen sowie alle Projekte im Umfeld einer neuen Stadt einem Prüf- und Genehmigungsverfahren zu unterziehen. Das Gesetz sieht auch eine Reihe von Vergünstigungen für die Ansiedler in einer neuen Stadt vor (z.B. Befreiung von Zollgebühren für importierte Maschinen, Befreiung von Steuern etc). Die "New Urban Settlements Organization" hat für jede der geplanten neuen Städte eine Entwicklungsgesellschaft gegründet, sogenannte "New Town Agencies". Diese wiederum sind für die Durchführung und Ausführung der Bauarbeiten zuständig. Innerhalb dieser "New Town Agencies" werden auch die Stadtverwaltungen aufgebaut, die später die neuen Städte verwalten.
Unter dem Begriff "Neue-Stadt", wie er in Ägypten verwandt wird, werden sowohl völlig neue, freistellende Neuansiedlungen wie auch Stadterweiterungen größeren Umfanges, Stadtrandsiedlungen und/oder Satellitenstädte verstanden. Es gibt offiziell keine Definition oder Sprachregelung. Wird eine Neuplanung im Rahmen des Gesetzes initiiert, geplant und durchgeführt, so wird sie mit dem Begriff "Neue Stadt" belegt. Im folgenden werden die Begriffe "Solitärstadt",
"Satellitenstadt" und "Stadterweiterung" verwandt, um die
verschiedenen Neuplanungen zu charakterisieren:
In den vergangenen beiden Jahren wurde eine amerikanische Analyse der Urbanisierungsprozesse in Ägypten durchgeführt. Ihr Ergebnis war für die Planungspolitik "Neue Städte" negativ. Eine Berechnung der Kosten der Städte El-Sadat, Tenth of Ramadan, Sixth of October und Fifteenth of May ergab, daß diese zu ihrer Fertigstellung 30 bis 35 Prozent der Mittel in Anspruch nehmen werden, die für die gesamte Stadtregion Kairo in den nächsten 20 Jahren zur Verfügung stehen jedoch nur maximal zehn Prozent des Bevölkerungszuwachses im gleichen Zeitraum aufnehmen können. Zusammenfassend stellt die Studie fest, daß vor allem die neuen Solitärstädte keinen wesentlichen Beitrag zur Unterbringung des zu erwartenden Bevölkerungszuwachses werden leisten können. Sie schlägt deshalb eine gezielte Förderung der Entwicklung ausgewählter Städte des Landes durch arbeitsplatzfördernde Investitionen im Industrie- und Infrastruktursektor vor und empfiehlt ferner, zur Entlastung der Großregion Kairo, die im Stadtgebiet eingeschlossenen und/oder nahe beiliegenden Flächen z.T. Militärlager auf Wüstengebiet zur Besiedlung freizugeben sowie im Nordosten die Entwicklung eines Schwerpunktes der zukünftigen Urbanisierung im Zusammenhang mit der Satellitenstadt El-Obour in Angriff zu nehmen. In den vergangenen beiden Jahren hat die "General Organization for Physical Planning" (GOPP), die ägyptische Behörde für Stadt- und Regionalentwicklungsplanung, eine relativ pragmatische Planungspolitik für Kairo betrieben. Zusammen mit einer französischen Consulting Firma legte GOPP den Entwurf eines neuen Masterplanes für die Stadtregion vor, der sich an die amerikanischen Vorschläge anlehnt. Dieser Entwurf wurde inzwischen offiziell akzeptiert; er wird derzeit detailliert und in die Implementation überführt, so daß das Problem der Bereitstellung von genügend Wohnbauland für Kairo lösbar erscheint, wenn es gelingt, die trendbestimmenden, privaten Akteure in den Implementationsprozeß zu integrieren. Wenn neue Städte und hier im besonderen die Solitärstädte keinen wesentlichen Beitrag zur Bewältigung des Bevölkerungszuwachses leisten können, wozu sind sie dann sinnvoll? Sind sie absolute Fehlinvestitionen oder besteht Hoffnung, mit ihnen langfristig die bestehende Siedlungsstruktur derart zu beeinflussen, daß tatsächlich neue Siedlungsbereiche in der Wüste erschlossen werden? Vor dem Hintergrund der heute in Ägypten bestehenden Infrastruktur-Netze sind die gewählten Standorte der Solitärstädte bezüglich der jeweiligen Standortvorteile und der zukünftigen Entwicklungschancen unterschiedlich einzuschätzen. Durch die ausgeprägte Bündelung der Hauptinfrastrukturleiter im Inneren des Deltafruchtlandes bleibt die westlich davon liegende Wüste trotz der Wüstenstraße Kairo-Alexandria verkehrlich völlig abgeschnitten, zumal es von der Wüstenstraße aus praktisch keinen Zugang zum Delta gibt. Die Entscheidung, El-Sadat City in diesen Leerraum zu legen, ist mehr als unglücklich. Ohne Investitionen außerordentlichen Umfanges kann diese neue Stadt nur künstlich am Leben gehalten werden. Ähnlich ungünstig liegt King Khaled City, die allerdings derzeit nicht mehr zur Diskussion steht; es ist zu hoffen, daß sie auch nach einer Belebung der politischen Beziehungen Ägyptens mit Saudi-Arabien nicht wieder in die Planung aufgenommen wird. Tenth of Ramadan wird die ihr zugedachte Rolle als regionales Zentrum nur
dann langfristig ausfüllen können, wenn das Umfeld d.h. das Land zwischen
Ismailia-Kanal und der Wüstenstraße Kairo-Ismailia entwickelt wird. Dann
allerdings bestehen gute Chancen, und die Voraussetzungen dafür sehen nicht
schlecht aus.
Die weltweiten Erfahrungen mit Planung und Bau neuer Städte sind nicht gerade sehr ermutigend. Falsch gewählte Standorte, zu kostspielige Standards, mangelhafte Koordination der Sektorinvestitionen, fehlendes Management bei der Ausführung, keine Koordination zwischen physischer Implementation und der Ansiedlung von Bewohnern und Unternehmern können jede für sich alleine schon zu einer Fehlentwicklung führen. Alle diese Fehler sind in den vergangenen Jahren beobachtet worden. Es bleibt zu hoffen, daß die offiziellen Stellen in Ägypten aus diesen Fehlern lernen und zumindest die im Ansatz sinnvollen Projekte wie Stadterweiterungen und Satellitenstädte einer erfolgreichen Entwicklung zuführen.
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Stadtentwicklung und Stadtplanung in Ägypten
Nr. 2/86, pp. 1015 An der Dynamik und den Problemen der städtischen Entwicklung in Ägypten hat sich auch in der ersten Hälfte dieses Jahrzehnts erwartungsgemäß nichts Wesentliches geändert:
Stadtplanung und Flächennutzungskontrolle scheinen offenkundig nicht zu existieren und dies nicht nur in den übervölkerten Stadtrandgebieten von Shoubra oder Embaba. Auch im teuren Mohandessin fühlen sich zumindest viele Europäer wie auf einer permanenten, unkoordinierten Baustelle, um dann auf dem Weg zu den Pyramiden noch krassere Formen des wild wuchernden Stadtwachstums zu erleben: "Spargel-Hochhäuser" auf Minigrundstücken, neben kilometerlangen engen Straßen des informellen Wohnungsbaus. Dabei wurde Stadtplanung in Ägypten schon vor vielen Jahrzehnten erfolgreich praktiziert, wobei von den Kairoer Stadtteilen vor allem Heliopolis und Garden City zu erwähnen sind, die nicht nur systematisch geplant wurden, sondern auch bis heute ihre Struktur im wesentlichen erhalten haben. Nachdem dann aber spätestens seit den sechziger Jahren die Planungsanstrengungen immer deutlicher von der Entwicklungsdynamik überholt wurden, wurde unter Sadat der systematischen Erweiterung der bestehenden Städte kaum mehr Beachtung geschenkt: Vorrang hatten der Wiederaufbau der Suezkanal-Städte und die Planung von "New Towns" zur Entlastung der Ballungszentren und zur Schaffung von Siedlungsflächen außerhalb des Fruchtlandes in der Wüste. Erst Ende der siebziger Jahre setzte sich die Erkenntnis durch, daß neue Wüstenstädte allein nicht ausreichen, um das rapide Flächenwachstum der bestehenden ägyptischen Städte (insgesamt 157) zu bremsen, sondern daß hierzu komplementäre Planungs- und Kontrollinstrumente erforderlich sind. Bezeichnenderweise wurden die beiden wichtigsten Gesetze zur heutigen Stadtentwicklung
Mit dem Planungsgesetz 3/82 wurde eine Politik eingeschlagen, deren Grundlagen wie folgt zusammengefaßt werden können:
Mit dem neuen Stadtplanungsgesetz wurde ein umfassendes rechtliches Instrumentarium für die Steuerung und Kontrolle der Entwicklung der 157 ägyptischen Städte geschaffen, die im Delta wie auch in Oberägypten zum überwiegenden Teil von fruchtbarem Ackerland umgeben sind. Das Gesetz definiert zwei Planungsebenen (siehe Abbildung), die am besten als "Stadtentwicklungsplanung" (mit den drei Stufen Rahmenplan, Flächennutzungsplan und ergänzende Sektorpläne) und als "Bebauungsplanung" zu übersetzen sind. Die ersten, von der Stadtplanungsbehörde GOPP in Zusammenarbeit mit einem GTZ-Team erstellten Demonstrativ-Planungen zeichnen sich durch folgende Merkmale aus:
Es werden nicht umfangreiche Studien und Masterpläne erarbeitet, sondern in einfacher und kompakter Form Entscheidungsgrundlagen und Handlungsvorschläge für Politiker und Verwaltung geliefert.
Der schon erwähnten Stadtplanungsbehörde GOPP kommt die Schlüsselrolle bei
der (Wieder)-Einführung von Stadtplanung in Ägypten zu.
Zusammenfassend kann die GOPP charakterisiert werden als junge, personell mit ca. 250 Mitarbeitern (davon über 100 mit Universitäts-Abschluß) relativ gut ausgestattete Institution, die für das neue Aufgabenfeld der Steuerung und Kontrolle der Entwicklung bestehender Städte eine breite und ebenfalls neue Funktion übernehmen soll (mit mittelfristiger Verlagerung des derzeitigen Aufgabenschwerpunktes der Planerstellung hin zur Beratung und Überwachung lokaler Planungen). Ein Ende 1983 begonnenes Kooperationsprojekt zwischen GTZ und GOPP hat als Oberziel die Stärkung der Planungs- und Koordinationskapazität der GOPP, die zur Erfüllung der neuen Aufgaben erforderlich ist. Die beiden ersten Projektphasen sind auf fünf Jahre angelegt und umfassen vier Beratungsbereiche: Organisation und Management, Planungsverfahren und -Methoden, Demonstrations-Planungsprojekte und Training. Die Arbeit des fünfköpfigen deutschen Beratungsteams umfaßt damit alle Elemente der sog. Institutionenförderung, wobei anzumerken ist, daß sich die konkrete Planungsarbeit ausschließlich auf bestehende Mittelstädte bezieht (bisher auf Tanta, Belbeis und Aswan vorgesehen sind Assiut und noch zwei weitere Städte.) Die "Beschränkung" auf Mittelstädte ist dadurch möglich, daß weitere New Towns z.Zt. nicht mehr geplant werden und Groß-Kairo bereits Gegenstand eines ägyptisch-französischen Kooperationsprojektes ist.
Mit der Wiederaufnahme der Planungen für bestehende Städte wurde das Konzept der New Towns keinesfalls aufgegeben, es wurde nur sein Stellenwert relativiert. Von den sieben Entlastungsstädten für Kairo werden zur Zeit vier gebaut, (10th of Ramadan, 6th of October, 15th of May, Sadat City), für die restlichen drei (El-Obour, El-Badr, El-Amal) wurden bisher nur die Planungen erstellt. Das Gesamtprogramm wurde Anfang der 70er Jahre erarbeitet, was noch heute an der Namensgebung von 4 Städten abzulesen ist: am 6. Oktober (1973), der damals der 10. des Ramadans war, wurde unter Sadat die Überquerung (El-Obour) des Suez-Kanals erkämpft. Die Zielbevölkerung für das Jahr 2000 wurde meist ambitiös auf 500.000 Einwohner festgelegt (6th of October, Sadat City), obwohl aus heutiger Sicht selbst das niedrigere Ziel für 10th of Ramadan (180.000) anspruchsvoll erscheint. Der neu geschaffene Wohnraum wird bisher nur in der südlich von Kairo bei Heluan gelegenen Entlastungsstadt, 15th of May voll genutzt. Das Gegenstück ist 10th of Ramadan, wo große Wohngebiete einschließlich Grünanlagen fertiggestellt sind, aber so gut wie nicht bewohnt werden (zum Kennenlernen dieses Stadttypus, die als "klassische New Towns" bezeichnet werden, empfiehlt sich bei der nächsten Fahrt nach Ismailia ein kurzer Abstecher). Allerdings ist hier wie auch in 6th of October die Industrieansiedlung vergleichsweise zügig vorangekommen. Insgesamt war die Entwicklung der New Towns sehr viel langsamer, als in den ambitionierten und optimistischen Planungen der 70er Jahre vorgesehen war. Die Entlastungsstädte in der Provinz (bei Damietta, Beni Suef und El Minia) sind bisher kaum über das Planungsstadium hinausgekommen. Die Kritik an den New Towns umfaßt neben Zweifeln an einzelnen Stadtorten besonders die fast überall sehr hohen Infrastruktur- und Baustandards, die sich zu sehr hohen Investitionskosten pro Einwohner addieren. Damit wird es für untere Einkommensgruppen kaum möglich, in diese Städte zu ziehen oder aber es wird ein Subventionsaufwand erforderlich, der insgesamt nicht finanzierbar ist. Ein neuer Ansatz wurde für El-Obour entwickelt, für das die Planung (im Rahmen eines GTZ-Kooperationsprojektes) erst vor zwei Jahren fertiggestellt wurde. Niedrigere Infrastrukturstandards, einfache, niedrige Bauformen und die gezielte Einbeziehung des Selbsthilfepotentials der neuen Siedler sollen auch unteren Einkommensgruppen den Zugang ermöglichen. Es bleibt zu hoffen, daß dieser neue Ansatz die für seine Umsetzung notwendige politische Unterstützung erhält, um später auch für andere Vorhaben als Modell zu dienen.
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Wohnungsbau in Kairo Veränderungen seit den 50er Jahren
Nr. 2/86, pp. 1923
Mit dieser eindringlichen Zusammenfassung endet ein Referat, das der Ägypter Dr. Abouzeid Rageh auf dem internationalen Seminar des Aga Khan Award for Architecture hielt, das vom 11.15. November 1984 in Kairo dem Thema "The Expanding Metropolis, Coping with the Urban Growth of Cairo" gewidmet war. Daß die heutige Entwicklung so katastrophale Züge angenommen hat, liegt an folgenden, allgemein bekannten Fakten:
Kairo war auch schon früher größeren baulichen Veränderungen unterworfen; seit Ende des 19. Jahrhunderts wurde der westliche Einfluß spürbar, eine wachsende wirtschaftliche Bedeutung war verbunden mit einer größer werdenden Mittelschicht, und es entstanden neue Wohngebiete für die Oberschicht und die Mittelschicht Heliopolis im Norden, Maadi im Süden, Zamalek und Garden City im Westen. Die größten Veränderungen aber sind in den letzten 30 Jahren vor sich gegangen, in denen Kairo sich wandelte "von einer Stadt, die ihren Beitrag leistete zu allen Bereichen nationalen Wohlstandes zu einer Stadt, die einen Großteil der Vitalität und der Ressourcen des Landes aufsaugt" (Dr. A.Rageh). Nach der Revolution beginnt die Partizipation des Staates am öffentlichen Leben, begleitet von Planungswirtschaft und Zentralisierung, der öffentliche Sektor wird "erfunden" und wächst schnell, Privatinitiativen werden limitiert, private Unternehmen nationalisiert.
So wurden in den 50er Jahren erstmals in größerem Maße von der öffentlichen Hand Billigwohnungen für die unteren Einkommensschichten gebaut (Vorgänger gab es in den 20er Jahren in Sayeda Zeinab und 1947 in Embaba) in folgenden Außenbezirken: in Helmeit El-Zaytoun im Norden, in Embaba im Westen, in Heluan im Süden, und in den "entslumten" Gebieten Telal Zeinhom und Shoubra. Von der 1954 gegründeten "Development and Popular Housing Company" wurden Häuserblocks erstellt, deren vordringlichstes Ziel es war, für billiges Geld LE 7 pro qm eine möglichst große Zahl von Menschen mit Unterkunft zu versorgen. Die Bevölkerungsdichte war mit 200 Personen pro feddan sehr hoch. Auch wurden keine Versuche gemacht, zwischen den eng stehenden Häuserblocks Grünflächen anzulegen, keiner kümmerte sich um soziale Einrichtungen, Krankenhäuser, Schulen, Freizeiteinrichtungen, Arbeitsstätten in erreichbarer Nähe. Es gab 1-, 2- und 3-Zimmerwohnungen, wobei die Durchschnittsgröße 52 qm war, die Durchschnittsbelegung 10 qm pro Person (wobei solche Durchschnittszahlen wenig über die Realität auszusagen vermögen). Der Mietpreis betrug für eine 3-Zimmer-Wohnung LE 5,- pro Monat. Auf demselben Seminar berichtete die Soziologin Dr. Madiha El-Safty, wie sich neuesten Untersuchungen das Erscheinungsbild dieser Wohngegenden präsentiere: So seien diese Gegenden für Außenstehende kaum von Slums zu unterscheiden, die Flächen zwischen den Häuserblocks seien mit Müll und überlaufenden Abwässern bedeckt, Instandhaltung findet kaum statt, so daß Wasser- und Abwassersystem meist defekt, der Verputz abgefallen ist, die hygienischen Verhältnisse seien schlecht. Im Innern hatte man bereits früh damit begonnen, die genormten Wohnungen dem wirklichen Bedarf und den Familiengrößen anzupassen, indem Küchen in Schlafräume verwandelt, Balkone geschlossen und zum Kochen und Lagern verwendet wurden (In Zeinhom haben von 30 Familien 27 diesen "Umbau" vollzogen). Heute sind alle Wohnungen überbelegt, der Durchschnitt von sieben Personen pro Raum sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß es auch Familien gibt, die mit 20 Personen in zwei Räumen hausen. Eine veränderte Wirtschaftspolitik und nicht zuletzt der wenig ermutigende Erfolg ließen den Bau von Billigwohnungen in der Periode von 19651975 auf 11% absinken. Das Wohnungsbauministerium erstellte in dieser Zeit hauptsächlich 3.000 Wohnungseinheiten eines Typs, der "Nasser Emergency Housing" genannt wurde, mit allerbilligsten Mitteln, ohne jede Rücksicht auf soziale Gegebenheiten. Die Folge ist eine sehr schnelle Verrottung dieser Gebäude. Derzeit ist der Bau von low-cost-building fast völlig zum Erliegen gekommen.
Besser den Bedingungen angepaßt und erfolgreicher als die Billigwohnungen waren die zur selben Zeit erbauten sog. "Industriearbeitersiedlungen", wie z.B. die der Iron and Steel Mill Company in Helwan gebauten Häuser, oder die 300 für Eisenbahner gebauten in Abu Zaabal. Für die oberen Gehaltsschichten gab es 2-stöckige Häuser mit 220 qm, 3-Zimmerwohnungen mit 85 qm für die Arbeiter und Angestellten und für die Alleinstehenden noch 65 qm Wohnraum. Auch der Staat beteiligte sich für seine Angestellten an diesem Konzept, das leider in späterer Zeit nicht weitergeführt wurde; allein in Shoubra El-Kheima wurde nochmals in den späten 60er Jahren darauf zurückgegriffen.
Wurden zur Zeit des "öffentlichen Wohnungsbaus" nur ca. 43,7% der Wohnungen ohne Baugenehmigung erstellt, so sind dies heute ca. 80%, beinahe alle Haus- und Wohnungstypen umfassend. Dr. Madiha El-Safty führt als ein Beispiel Dar al-Salam an, das sich im Süden Kairos in Richtung Maadi erstreckt, vom Nil bis zum Mokattam. Einst war dies ein reiches Ackerland mit ländlicher Besiedelung, das bereits in den 60er Jahren ökologischen und soziologischen Veränderungen unterworfen war, als sich beiderseits der Landstraße nach Heluan Firmen ansiedelten. In den 70er Jahren entdeckten diejenigen, die in den Golfstaaten arbeiteten, Dar al Salam als ideales Gelände, um ihr gespartes Geld zu verbauen, da es nahe der Stadt liegt und die Grundstückspreise erheblich billiger waren. So begann ein Bauboom, der keinem Plan und keiner Genehmigung folgte. Doch weisen die Häuser einen viel höheren Standard und einen besseren Zustand auf, als die Billighäuser des Staates und scheinen so die Bedürfnisse der Bewohner besser zu decken. Der Staat akzeptiert diese Gebiete stillschweigend und versorgt viele nachträglich mit der notwendigen Infrastruktur. Und so fressen sich diese Wohnquartiere an allen Stadträndern unaufhaltsam ins Fruchtland und vernichten wertvolles Ackerland.
Seit 1971 gibt es die "General Organization for Housing Cooperatives", um Wohnungskooperativen ins Leben zu rufen, d.h. Leute aus dem Mittelstand und den unteren Mittelschichten sollen ermutigt werden, sich zusammenzuschließen, um mit Eigenmitteln und staatlichen Beihilfen ihre Wohnungen zu bauen. 1975 finanzierte der Staat diese Aktivitäten mit LE 10 Millionen, 1983/84 mit LE 150 Millionen. Planung und Ausführung sind den Kooperativen überlassen, doch unterliegen sie den Normen der Organisation. Trotz des starken Engagements des Staates wird geklagt, daß dies keine Lösung für die eigentliche Wohnungsnot in Kairo sei.
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Einfluß der Stadtplanung auf die Stadtentwicklung Ägyptens in der Nachkriegszeit
Nr. 3/90, pp. 48 Ägypten ist ein typisches Beispiel unter den Ländern der Dritten Welt für rapide Verstädterungsprozesse und die damit verbundenen negativen Konsequenzen für die Gesamtentwicklung des Landes. Nach den Ergebnissen der Volkszählung lebten 1986 bereits 44% der Bevölkerung in Städten. Das Ausmaß dieser Entwicklung wird erst verständlich vor dem Hintergrund des generellen explosionsartigen Bevölkerungswachstums im Lande. Bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 54 Millionen beträgt der Zuwachs ca. 1 Mio. alle acht Monate. Entgegen allen programmatischen Erklärungen zur Familienplanung und Bevölkerungskontrolle und trotz jahrelang durchgeführter Maßnahmen hierzu mit hoher internationaler finanzieller und "technischer" Unterstützung ist eine Reduzierung dieses Bevölkerungswachstums nicht in Sicht. Im Gegenteil: Während zwischen 1966 und 1976 die durchschnittliche jährliche Zuwachsrate bei 2,3% lag, ist dieser Wert zwischen 1976 und 1986 sogar auf 2,8% gestiegen. Ägypten ist gleichzeitig ein extremes Beispiel, weil die Probleme der Verstädterung aufgrund seiner außergewöhnlichen geophysikalischen Situation in besonderer Weise zugespitzt werden: In einem der ältesten Siedlungsräume der Welt sind nur knapp 5% der gesamten Landesfläche Kulturlandschaft (der Rest ist Wüste). Sie allein dient als Basis für die Nahrungsmittelproduktion einer ständig wachsenden Bevölkerung, wird von dieser aber auch gleichzeitig nahezu ausschließlich als Siedlungsraum benutzt. Die beschriebenen rapiden Verstädterungsprozesse finden also auf fruchtbarem Nilschwemmland statt und tragen erheblich zu immer knapper werdenden landwirtschaftlichen Ressourcen bei. Vor vier Jahren hat PAPYRUS an dieser Stelle bereits berichtet (s. oben "Stadtentwicklung und Stadtplanung in Ägypten" von Steffen Mildner), daß trotz der sich immer mehr zuspitzenden Problematik der städtischen Entwicklung "Stadtplanung und Flächennutzungskontrolle... offenkundig nicht zu existieren (scheinen) und dies nicht nur (in Kairo) in den überbevölkerten Stadtrandgebieten von Shoubra oder Embaba. Auch im teuren Mohandessin fühlen sich zumindest viele Europäer wie auf einer permanenten, unkoordinierten Baustelle, um dann auf dem Weg zu den Pyramiden noch krassere Formen des wild wuchernden Stadtwachstums zu erleben: 'Spargel-Hochhäuser' auf Minigrundstücken neben kilometerlangen engen Straßen des informellen Wohnungsbaus. (In den Provinzstädten sieht das nicht anders aus). Dabei wurde Stadtplanung schon vor vielen Jahrzehnten erfolgreich praktiziert, wobei von den Kairoer Stadtteilen vor allem Heliopolis und Garden City zu erwähnen sind, die nicht nur systematisch geplant wurden, sondern auch bis heute ihre Struktur im wesentlichen erhalten haben." Allerdings waren dies lediglich punktuelle Ansätze, die sich einerseits nur auf Kairo bezogen, sich andererseits in den 50er und 60er Jahren auch dort nur in abgewandelter und kleinmaßstäblicher Form wiederholten. Das dokumentiert sich etwa noch heute in den erschreckenden Beispielen des sozialen Wohnungsbaus in Siedlungen wie Ain el Sira (siehe hierzu den Beitrag "Ain el Sira: ein 'Triumph der Phantasie'..." von Florian Steinberg). Ein Gesamtentwicklungskonzept für Kairo wurde daraus zunächst nur in Ansätzen (Master Plan 1953), für die anderen Städte des Landes gab es nicht einmal das. Tendenziell änderte sich diese Situation erst nach dem letzten Krieg. Auf der Welle des durch den Oktoberkrieg 1973 hervorgerufenen gesteigerten Selbstbewußtseins wurde zunächst ein ambitioniertes Wiederaufbauprogramm der Suezkanal-Städte verabschiedet. Besonders die drei großen Städte Port Said, Ismailiya und Suez waren schon durch den Sechs-Tage-Krieg von 1967 angeschlagen. Als Frontstädte im Oktoberkrieg 1973 wurden ihre Hafen-, Industrie- und Wohnanlagen jedoch so stark in Mitleidenschaft gezogen, daß ein großer Teil ihrer Bevölkerung evakuiert werden mußte. Jetzt wurden für alle Masterpläne entwickelt, für deren Durchführung aufgrund der ebenfalls in diese Zeit fallenden Öffnungspolitik großzügige Hilfsangebote (besonders aus den arabischen OPEC-Ländern) genutzt wurden. Gesamtstaatliche Bedeutung hatte dieses Programm allerdings eigentlich für die Reaktivierung einer der wichtigsten Einnahmequellen des Landes: Als im Zuge des Aufbaus 1975 auch der Suezkanal wiedereröffnet wurde, flossen nach achtjähriger Pause durch die Nutzungsgebühren dringend benötigte Gelder in die überstrapazierte Staatskasse. Für die Stadtentwicklung des Landes dagegen wurden nur marginale Probleme gelöst. So lebten nämlich selbst vor dem Krieg nur weniger als 3% der Gesamtbevölkerung Ägyptens in den drei Städten der Kanalzone und nicht einmal 6% der städtischen Bevölkerung des Landes. Sogar heute, 16 Jahre nach Kriegsende, hat die Bevölkerungszahl der Kanalstädte erst dreiviertel des Vorkriegsstandes erreicht. Allerdings begann man bereits damals parallel die Planung von "New Towns" zur Entlastung der Ballungszentren und zur Schaffung von Siedlungsflächen außerhalb des Fruchtlandes in der Wüste, obwohl wichtige Planungskapazitäten und Investitionen für die Kanalstädte gebunden waren. Der Engpaß wurde aber zumindest für den Planungsprozeß weitgehend mit Kapital und Sachverstand aus dem Ausland überbrückt, so daß bereits 1977 mit der Durchführung begonnen werden konnte (10th of Ramadan). Aber zunächst trugen auch diese Anstrengungen zu den Entwicklungsproblemen der Gesamtheit ägyptischer Städte wenig bei, da man sich ausschließlich auf Kairo konzentrierte, am Rande noch auf Alexandria. 10th of Ramadan, Sadat City und 15th of May (Helwan) waren die ersten, später kamen 6th of October, El-Obour, El-Badt und El-Amal hinzu, die diese Konzentration auf Kairo bezeugen (lediglich El-Almeriya für Alexandria). Alle sind inzwischen im Bau. Erst Anfang der 80er Jahre wurde das Konzept für den Bau neuer Städte auch auf das gesamte Niltal bis hinauf nach Aswan ausgedehnt. Inzwischen liegt zumindest für jede Gouvernoratshauptstadt die Planung vor, mit der Durchführung wurde bisher jedoch noch nirgends begonnen. Alle Projekte tragen die sehr phantasievollen Namen New Beni Suef, New Assiut, New Qena usw. Bis heute wird diese New Town Policy mit allem Nachdruck verfolgt, alle Alternativmodelle und Komplementärstrategien werden im Wohnungsbauministerium unterdrückt, obwohl bereits vor zehn Jahren deutliche Kritik aufkam. Diese Kritik richtet sich weniger gegen das Planungskonzept Stadtentwicklung in der Wüste anstelle von Stadtfraß im Fruchtland muß ja doch wohl eine notwendige Überlebensstrategie für Ägypten sein , als vielmehr gegen die Art seiner Durchführung. Kernpunkt der Kritik sind besonders die überall sehr hohen Infrastruktur- und Baustandards, die sich zu immens hohen Investitionskosten pro Einwohner summieren. Damit wird es für untere Einkommensgruppen nicht möglich, in diese neuen Städte zu ziehen. Gleichzeitig wird der Subventionsaufwand des Staates derartig hoch, daß er für den insgesamt zu erwartenden Bevölkerungszuwachs nicht zu finanzieren ist. Wie kann man die Fehlorientierung dieser Politik besser veranschaulichen, als wenn man sich vor Augen hält, daß über 15 Jahre nach Planungsbeginn (oder über 10 Jahre nach Baubeginn) in der Gesamtheit der neuen Städte heute vielleicht 100.000 Menschen leben, im gleichen Zeitraum die Gesamtbevölkerung des Landes jedoch um weit mehr als 10 Millionen (mehr als das 100fache) angewachsen ist? "Wo sind sie geblie-hie-ben?" Die Kritik empfahl also nicht nur, die Standards und damit die Kosten zu senken oder die Selbsthilfebereitschaft der Bevölkerung mehr ins Kalkül zu ziehen, um deren Einkommensmöglichkeiten zu berücksichtigen und auch ihr den Zugang zu den neuen Städten zu ermöglichen. Gleichzeitig wurde deutlich gemacht, daß ergänzende Instrumente für den Umbau oder die Erhaltung der "alten" Städte entwickelt und eingesetzt werden müssen. Denn es liegt auf der Hand, daß diese auch in Zukunft wichtige Funktionen haben und nicht einfach aufhören, sich zu entwickeln. De facto hat diese Kritik für die Entwicklung auch der alten Städte bzw. für deren Steuerung nicht viel gebracht. Nur pro forma sah man sich wohlgezwungen, gegenüber der internationalen Kritik zu reagieren, da man ja auf Unterstützung von außen weiterhin angewiesen war. So wurde 1982 zum ersten Mal in der Geschichte des Landes ein Stadtplanungsgesetz (Law 3/1982) erlassen, das zumindest einen legalen Rahmen für Stadtplanung und Flächennutzungskontrolle abgab. In der Präambel wurde darin der nationalen Stadtplanungsbehörde GOPP (General Organization for Physical Planning) eine Schlüsselrolle zugewiesen: Sie wurde verpflichtet, eine integrierte nationale Stadtentwicklungspolitik zu formulieren, die hierfür angemessenen Instrumente zu entwickeln sowie daraus abgeleitete Planung und Durchführung zu initiieren bzw. zu kontrollieren. Die Konsequenz ist zwar, daß seitdem eifrig geplant wird. Das erschöpft sich aber in weitschweifigen Datensammlungen, die Umsetzung in Perspektiven bleibt meistens auf halbem Wege stecken. Fast jede der größeren Städte von Tanta über Assiut bis Aswan hat inzwischen einen solchen Stadtentwicklungsplan, kaum einer jedoch ist von den Stadträten abgesegnet oder gar vom Minister (wie vom Gesetz vorgeschrieben) genehmigt. Entsprechend kann niemand die Durchführung der Pläne kontrollieren man kann es nicht nur nicht, offensichtlich wollen es die Verantwortlichen aber auch gar nicht, weil immer noch die neuen Städte die Köpfe vernebeln und Investitionsmittel blockieren. Als Fazit bleibt festzuhalten, daß die planende Verwaltung nicht in der Lage ist, Einfluß auf die Stadtentwicklung Ägyptens zu nehmen. Die Politiker wissen entweder nicht, wo der Schuh drückt, oder sie sind abhängig von den Interessen der Baulobby und Bodenspekulanten. So ergibt sich das schizophrene Bild, daß Milliarden für den Neubau von Geisterstädten investiert werden, während die Million des jährlichen Bevölkerungszuwachses weiterhin zum Wildwuchs und Untergang der alten Städte beiträgt. Um sich vor einer allzu voreiligen Pauschalverurteilung zu hüten, sollte man sich natürlich vergegenwärtigen, daß sich die Stadtplanung der Nachkriegszeit auch bei uns kaum als rühmlich darstellt. Auch hier konzentrierte sich in den 50er Jahren zunächst alles auf den Wiederaufbau, der das Gesicht der Städte total veränderte. Das änderte sich auch während der 60er Jahre nicht, als die klotzigen Stadterweiterungsprojekte wie Perlach in München oder Märkisches Viertel in Berlin nur den Boden dafür bereiteten, dann in den frühen 70er Jahren mit umfangreichen Kahlschlagsanierungen den letzten Rest der alten Stadtmitten zu beseitigen. Bis sich dann erst Anfang der 80er Jahre Ideen wie "behutsame Stadterneuerung" in der Praxis durchsetzten, waren seit Kriegsende über 30 Jahre vergangen. Dieser Schnellschuß gegen die deutsche Stadtplanung ist natürlich sehr oberflächlich, zumindest berücksichtigt er im Vergleich zweierlei nicht: Zum einen waren hier im Vergleich zu Ägypten die Probleme ganz andere. So war beispielsweise das Bevölkerungswachstum in der Bundesrepublik zu keiner Zeit mit dem Ägyptens vergleichbar. Selbst jetzt, bei zunehmender Wohnungsnot und verstärktem Entwicklungsdruck, stellt sich nie das Konkurrenzproblem zu landwirtschaftlichen Flächen. Zum anderen war hier die schnell aufblühende Wirtschaftskraft Grundlage dafür, gleichzeitig in alt und neu, in Wiederaufbau, Umbau und Erweiterung zu investieren. Auch wenn sich das Schwergewicht in den einzelnen Phasen unterschiedlich ausprägte, so wurde doch parallel dazu die Infrastruktur sowohl erweitert als auch von Grund auf erneuert. Der Vergleich mit der Bundesrepublik hilft also nicht viel weiter und kann nicht als Entschuldigung dienen. Er provoziert höchstens die Frage, warum man denn trotz nachgefragter Beratung nicht aus den Erfahrungen anderer lernen mag.
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"New Settlements" Ein neues Konzept für Kairo 2000?
Nr. 3/90, pp. 1015 Ach, wie war es doch vordem so schön... Sie haben ja sicher auch einmal in den Erzählungen aus 1001er Nacht geschmökert. Erinnern Sie sich an die 28. Nacht?
Vielleicht sind Kairos Frauen immer hoch wie Huris traut die Umstände haben sich ein wenig geändert, um dies aus eigener Erfahrung bestätigen zu können. Ganz und gar haben sich jedoch die Umstände für das äußere Erscheinungsbild der Stadt gewandelt: Der Nil ist sicher nicht mehr das, was er einmal gewesen sein soll, und die deprimierende Tristesse des sozialen Wohnungsbaus läßt den Glauben an die Schlösser nicht mehr so recht aufkommen. Die Segnungen der Neuzeit fressen das Erbe, ohne der Stadt neue Glanzlichter aufzusetzen. Die "umm il dunya" geht unter, die Mutter der Städte, die Mutter der Welt zerstört sich selbst. Na, na! Solch Spengler'sche Attitüde bei einem Stadtplaner? Und doch hat jeder laut gelacht, wenn ich erzählt habe, daß ich in Kairo als Stadtplaner arbeite. Wie das denn wohl gehe, wollte man nur zu gerne wissen. Ich konnte es nicht beantworten, zum Glück (?) habe ich zwar in Kairo, aber für andere Städte gearbeitet. Mit Kairo hatte ich also "nichts am Hut" (nur im Kopf), den haben sich schon vor vielen Jahren Franzosen aufgesetzt. Sie beraten also und planen, ich berichte nur und kommentiere: Schon vor einem knappen Jahr haben wir an dieser Stelle in anderem Zusammenhang versucht zu versichern, daß es durchaus viele gibt, die sich über die zukünftige Entwicklung der Hauptstadt ernsthafte Gedanken machen und konkrete Pläne entwickeln (s. vom selben Autor: "Zur Entlastung des Kairener Verkehrs: Was planen die Planer?"). So entstand auch zwischen 1981 und 1984 nach mehreren Vorläufern der vorläufig letzte Master Plan, nun für das Zieljahr 2000.
Ausgangspunkt der Planung 2000 ist eine Neudefinition der Rahmenbedingungen, an deren Fehleinschätzung die vorherigen Stadtentwicklungspläne gescheitert waren. Vier "essentials" werden formuliert:
Als wäre das Maß nicht heute schon voll, mag sich der Laie da sagen, und manch Zyniker darunter empfiehlt denn auch hinter vorgehaltener Hand einen neuen Krieg als einzigen Ausweg. Aber das hat bei uns in Deutschland das Bild der Städte auch nicht zum besseren gewendet. Und überhaupt sind Stadtplaner zum Glück ganz anders gestrickt: Sie waren schon immer fast alle ein wenig an der Erschaffung der Welt beteiligt, ihr Sendungsbewußtsein ist auch heute weitgehend ungebrochen. So formulieren sie denn auch ganz munter ihre Ziele für die Bewältigung der Zukunft im Großraum Kairo:
Genau! Erst einmal muß man vernünftige Zielvorstellungen haben! Aber Ziele gab es auch bei den früheren Planungen schon, und keines wurde erreicht. Und außerdem wären diese neuen Leitlinien ja sicher auch jedem PAPYRUS-Leser ohne vieles Grübeln eingefallen. Wie will man es aber erreichen, gibt es dafür ein Konzept? Es gibt nicht ein Konzept, es gibt das Konzept. Es ist eben das 1983er "Master Scheme", von dem die Planer bescheiden sagen, daß es realistisch und ambitiös sei realistisch, weil es auf ihrem fundamentalen Wissen über die Zusammenhänge der Realitäten basiert ("...it is the result of the in-depth knowledge of physical, economic and human realities..."), ambitiös, weil die Vorschläge sich durchaus mit den Herausforderungen messen können ("...the proposed projects are up to the level of the challenge..."). Es sind im wesentlichen drei Elemente, die die Grundpfeiler dieses Konzeptes darstellen:
Das Konzept dieser unabhängigen Siedlungseinheiten bezweckt das Aufbrechen der monozentralen Struktur Kairos. Es soll ein polyzentrischer Großraum entstehen, der sich aus kleineren Einheiten in der Größenordnung von Mittelstädten zusammensetzt. Diese Einheiten sollen eine gewisse Unabhängigkeit und Autarkie in Bezug auf Dienstleistungen und Beschäftigungsmöglichkeiten entwickeln, wo ihre Einwohner Jobs und wichtige Versorgungseinrichtungen in zumutbarer Entfernung von ihren Wohnungen finden. Das seinerseits wird natürlich den Stadtverkehr entflechten und dezentralisieren. Man muß nicht mehr notgedrungen in die Innenstadt, in der heute noch zentrale Einrichtungen und die größte Zahl von Arbeitsplätzen konzentriert sind. Die Homogeneous Sectors sind Siedlungseinheiten mit Ein- bis Zweimillionen Einwohnern, in denen praktisch alle Arten von öffentlichen und privaten Dienstleistungen (Schulen, Krankenhäuser etc. und Läden, Büros, Praxen etc.) zu finden sind. Hier können mindestens 80% der jeweiligen Bevölkerung Arbeit finden und ein richtiges Zentrum wird sich entwickeln. Sie haben bereits heute ein System des öffentlichen Nahverkehrs, das ausbaufähig ist und schnell verbessert werden kann, noch bevor das geplante U- und S-Bahnnetz fertiggestellt ist. Elf städtische Sektoren hat man definiert, mit präzisen Grenzen, die sich an Barrieren im Stadtgefüge orientieren wie z.B. Eisenbahnlinien, Stadtautobahnen oder Friedhöfen. Aber auch administrative Einheiten wurden bei der Abgrenzung berücksichtigt, weil das Sektorkonzept nicht nur theoretisches Gedankenspiel der Planer, sondern auch operationalisierbar sein soll. Fünf sogenannte "ergänzende" Sektoren runden das Konzept ab, in denen zum Schutz der Landwirtschaft oder anderer sensibler Bereiche städtische Entwicklung unterbleiben soll. Neu sei das Konzept keineswegs, sagen die Planer. Das Prinzip der unabhängigen Siedlungseinheiten sei eigentlich schon durch die Idee der Satellitenstädte in den alten Stadtentwicklungsplänen im Ansatz enthalten gewesen. Jetzt habe man dieses Prinzip nur umfassender angewendet und überhaupt sei dies eh' nur die Reflexion von Trends, die man etwa heute schon in Heliopolis, Giza, Maadi und Helwan beobachten könne.
Wichtige Komponente des Konzeptes der unabhängigen Siedlungseinheiten sind die New Settlements, "eines der wesentlichen innovativen Elemente des neuen Entwicklungsplans und gleichzeitig Schlüssel für seine Umsetzung", so der Originalton der Planer. Bei näherem Hinsehen ist das dann alles so neu doch nicht, eher altes, im Prinzip Richtiges ergänzt und neu verpackt. Allein der Begriff "New Settlements" ist neu, aber auch das nur um anzudeuten, daß es sich nach den New Towns wie 10th of Ramadan und Sadat City (die erste Generation von neuen Städten) und den Satellite Towns wie El-Obour und 6th of October (zweite Generation) nun um die dritte Generation handelt. Wie das im Laufe von Generationen dann so ist, lernt die nächste von der vorherigen oder auch nicht. So unterscheiden sich die New Settlements nach dem Konzept auch wirklich sehr deutlich von der ersten Generation der neuen Städte. Sie sind nicht mehr bis zu 100 km von Kairo entfernt, sondern bilden einen integralen Bestandteil der Agglomeration Kairo sie profitieren einerseits von den sogenannten "Fühlungsvorteilen" des Ballungsraums, können also an die Infrastruktur angeschlossen werden und diese mitbenutzen, sie sind andererseits jedoch so unabhängig, daß sie Kairo gleichzeitig entlasten. Sie bilden den Nukleus für bisher unterentwickelte homogene Sektoren. All dies war allerdings bereits Ansatzpunkt für die drei Satellitenstädte El-Obour, 6th of October und 15th of May, und es ist deshalb auch kein Zufall, daß genau die Hälfte der zehn New Settlements lediglich Erweiterungen der drei Trabanten darstellen (s. folgende Abb.: NS 610).
Unterschiedlich gegenüber der ersten Generation ist auch die anvisierte Richtgröße: Für die New Settlements nun nicht mehr 500.000 bis 1 Million Einwohner, sondern im Durchschnitt 250.000 gerade richtig, um die Kosten für ein befriedigendes Angebot bzw. Niveau von Arbeitsplätzen und Versorgungseinrichtungen in vertretbarem Rahmen halten zu können. Noch wichtiger an der neuen Planung ist die explizite Abkehr von zu hohen Standards, sei es in Bezug auf Grundstücksgrößen oder auch auf den Wohnungsausbau, die bisher für über 70% der Bevölkerung menschenwürdige Behausung finanziell unerschwinglich machten. Das bedeutet für die Planer positiver formuliert die Hinwendung zu Grundstücksstrukturen, die sich eher an den informellen Wohngebieten orientieren, im Gegensatz zu diesen aber von vornherein eine Mindestinfrastrukturausstattung erhalten (Wasser, Abwässer, Erschließungsstraßen). Auch sollen sich Baustrukturen und -prozesse mehr an den ökonomischen Verhältnissen der Bewohner ausrichten, nicht an den Amortisierungszwängen der Großunternehmer, wie man eben auch grundsätzlich dem Selbsthilfepotential der Bewohner mehr Spielraum geben will.
Das alles sind sehr vernünftige Vorschläge, die sich aus den schlechten Erfahrungen mit der ersten Generation von New Towns ableiten. Neu sind sie allerdings alle nicht. Schon in der breit angelegten "National Urban Policy Study" von USAID, deren Endbericht 1978 vorgelegt wurde, sind sie enthalten. Daraus abgeleitet sind sie unmittelbar zwischen 1980 und 1982 in die Planung von El-Obour, also die zweite Generation von New Towns, eingeflossen. Wichtige Elemente wie z.B. das "owner built housing" wurden hier bis ins Detail für die Durchführung vorbereitet. Trotzdem ist das Projektkonzept gescheitert. Und hier liegen auch die Gründe für das eigentliche Manko des neuen Konzeptes. Daß es nicht wirklich neue Ideen sind, kann man ihm nicht vorwerfen, wenn es dabei um grundsätzlich richtige und vernünftige Schlußfolgerungen geht. Sehr problematisch ist dagegen die Tatsache, daß man aus den Erfahrungen der zweiten Generation von neuen Städten und ihrem Scheitern keine Konsequenzen gezogen hat. Man hat pure technische Hilfe gegeben, also nur einen neuen Plan gemacht, ohne die politischen Implikationen zu berücksichtigen. Politik- und Prozeßberatung dazu fehlen, wie denn nun die teure Großbauweise zur Befriedigung der Spekulations- und Akkumulierungsbedürfnisse der kleinen Oberschicht zugunsten eines breiten und erschwinglichen Angebotes für alle Bevölkerungsschichten überwunden wird. All das betrifft allein den verflixten Neubaubereich, auf den sich ausschließlich aller Interesse konzentriert. Verfahrensvorschläge zur Erhaltung oder Erneuerung des alten, gewachsenen Kairo existieren weder im Bewußtsein der politisch Verantwortlichen, noch im Konzept der Planer. Wie sich denn nun die "homogenen Sektoren" schrittweise entwickeln, was dazu politisch, administrativ oder finanziell erforderlich ist, wird ebenso wenig ausgeführt wie ein Konzept zur behutsamen Stadterneuerung. So bleibt wohl zunächst weiter dem Zufall oder der Zeit überlassen, ob die Not der Bevölkerung oder die engagierte Fachöffentlichkeit im Lande in der Lage sind, eine Veränderung der derzeitigen stadtentwicklungs- und wohnungsbaupolitischen Leitbilder herbeizuführen. So lange werden noch weitere ältere Stadtquartiere verfallen, bis dahin werden wohl auch die letzten Paläste verschwunden und der Glanz des alten Kairo ganz erloschen sein. Bis dahin werden uns aber auch die wohligen Schauer verlassen haben, wenn wir versuchen, uns auch im weiteren Verlauf der 28. Nacht von Scheherazade beglücken zu lassen:
Quelle:
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Kairo, eine Metropole zwischen Glanz und Elend
Nr. 910/98, pp. 1015 Heute leben im Großraum Kairo fast ein Viertel aller Ägypter. Kairo ist Hauptindustriegebiet des Landes. In dieser Metropole konzentrieren sich mehr als die Hälfte aller Handels-, Kultur- und Dienstleistungsaktivitäten. Die Bewohner Kairos verzehren 42 Prozent der Lebensmittelproduktion und ziehen 40 Prozent aller öffentlichen Investitionen an sich. Das gestörte Gleichgewicht zwischen Kairo und dem Rest des Landes es drückt sich u.a. dadurch aus, daß alle Straßen und Bahnverbindungen zwischen dem Süden und dem Norden des Landes in Kairo münden trägt mit bei zur Landflucht, welche die für moderne Stadtplanung schon bestehenden Probleme noch verschärft: mangelnde Infrastruktur, ausufernde planlose illegale Bebauung, eklatanter Mangel an bezahlbarem Wohnraum.
Die Metropole besteht aus drei Städten, die zusammengewachsen sind: Kairo, Giza und Shubra El-Kheima. Kairo liegt an der Ostseite des Nils und ist in 34 Bezirke mit 70 Prozent
der Einwohner der Großstadt unterteilt.
Die letzte Volkszählung von Kairo (1986) ergab 8,6 Mio. Einwohner. Wenn man aber die großen mit Kairo zusammengewachsenen Nachbargemeinden und Satellitenstädte dazuzählt, kommt man auf ca. 10,7 Mio. Da eine Erfassung eigentlich nicht möglich ist, schätzt man den Einwohnerbestand des Großraums Kairo (GRK) heute auf ca. 15 Mio. Menschen. Der Großraum Kairo schließt sechs Kleinstädte und 87 Dörfer im Verwaltungsbezirk Giza und 74 Dörfer im Bezirk Kaliubeya, Satellitenstädte und neue Siedlungen, ländlich oder städtisch, die das Hinterland der Metropole ausmachen, ein.
Der zentrale Kern von Kairo erstreckt sich entlang der östlichen Nilseite, bestehend aus vielen unterschiedlichen Baustilen bzw. -epochen und hat sehr viele unterschiedliche Funktionen. Die alte islamische Stadt und die alte koptische Stadt machen die unterentwickelten Gebiete des Hauptstadtkerns aus. Das Geschäftszentrum, im 19. Jahrhundert als Erweiterung der alten Stadtgebiete entstanden, bietet die meisten geschäftlichen Aktivitäten der Stadt. Dort entstehen Banken, Versicherungen, Ministerien, Reisebüros. Zum zentralere Kern gehören auch das Industriegebiet Shubra und die Totenstadt am Rande der Altstadt (über 12 km lang und ca. 1.000 Hektar groß). Hinzu kommt eine große Fläche aus planlosen Siedlungen, die während der 60er Jahre entstanden.
Der erste Gürtel zieht sich zehn Kilometer um den zentralen Kern und besteht aus den in den vergangenen 75 Jahren entwickelten Vierteln: Imbaba, Dokki, Pyramiden und Giza am Westufer des Nils; Shubra El-Kheima, Mataria, Heliopolis, Nasr City, Maadi und Bassatin am Ostufer des Nils. In diesem Gürtel lebten 1986 ca. 5,3 Mio. Einwohner. Die Bezirke des 1. Gürtels unterteilen sich in drei Typen:
Die Rand- bzw. Peripheriezone, ca. 15 km vom Zentrum entfernt, besteht aus der alten städtischen Siedlung im Süden (Helwan), den Landwirtschaftsflächen des Niltals, wie El-Kanater, El-Kheirya im Norden, dem südlichen Teil von Giza und den neuentwickelten Satellitenstädten wie El-Obour, Badr und El-Salam. Dieser Gürtel umfaßte 1986 ca. 2,4 Mio. Einwohner (s. Tabelle 1). Die sehr große Einwohnerwachstumsrate der Stadt ist hauptsächlich auf die Landflucht zurückzuführen. Allerdings hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte das Verhältnis der Stadt- zur Landbevölkerung stabilisiert (die Stadtbevölkerung betrug 1986 43,9 Prozent gegenüber 43,8 Prozent 1976).
Die wichtigste Naturquelle im GRK ist der Nil. Er versorgt die ganze Region. Die zweitwichtigste Naturquelle ist das Ackerland mit 31 Prozent der Gesamtfläche. Hinzu kommen die verschiedenen Baumaterialien wie Kalkstein vom Berg Mukattam, Sand, Klinker und andere Gesteine aus der Wüste. 1977 waren nur 9 Prozent der Gesamtfläche des GRK städtisch, 50 Prozent Wüste, der Rest wurde landwirtschaftlich genutzt. Die Ausdehnung der Siedlungen hatte daher entweder auf Kosten der Wüste im Osten oder der landwirtschaftlichen Nutzung im Westen des Nils stattzufinden. 1982 bedeckten 45 Prozent der städtischen Siedlungen Wüste und 55 Prozent ehemalige Anbauflächen. Die Wahl zwischen der wenig spendablen Wüste und dem knappen sehr wertvollen Ackerland hat konsequenterweise dazu geführt, daß die Siedlungen in fast allen Fällen eine sehr hohe Bevölkerungsdichte haben. 1982 bestand ein Viertel der bebauten Fläche aus Dörfern. Man kann leicht unterscheiden zwischen "normalen" kleinen Dörfern mit Agrarfunktion im Norden des GRK und den künstlich aufgeblasenen Dörfern in der Umgebung der Ballungsgebiete. Zwischen den 30er und 50er Jahren sind durch Ausdehnung städtischer Siedlungen und neugeplante Bezirke die alten kleinen Dörfer einverleibt worden. Heute verbieten die geltenden Gesetze das Bauen auf Agrarland. So haben sich um die Dörfer ganze Gürtel aus illegalen und ungeplanten Bebauungen entwickelt, was eines der schwierigsten Umweltprobleme der Zukunft ausmacht. 1989 entsprechen die Entwicklungstendenzen der Bebauung sowohl der sog. "Dezentralisierungspolitik" als auch dem "Masterplan" der GRK, und zwar in folgenden Punkten:
Der Anteil der Familien, die Zugang zu einem Trinkwasseranschluß haben, erreichte in der Erhebung von 1986 95,8 Prozent in Kairo und 81,9 Prozent in Giza. 23 Prozent dieser Familien haben den Wasseranschluß außerhalb ihrer Wohnung und 10 Prozent außerhalb des Hauses, d.h. auf der Straße.
Ein vier Milliarden US $-Projekt für ein modernes Kanalisationsnetz und Abwasseraufbereitung ist seit über 12 Jahren im Bau und sollte bald fertig sein. Die Entsorgungsprobleme der ungeplanten Siedlungen und Behelfshausungen sind dadurch noch lange nicht gelöst.
Verkehrswesen Die erste spektakuläre "Errungenschaft" auf diesem Gebiet war die "Verbrückung" von Kairo. Zwischen 1986 und 1990 wurden 45 sogenannte "fly-overs" gebaut, häßliche Konstruktionen, die das traditionelle Stadtbild völlig verunstaltet haben. Die verkehrsmäßigen Vorteile dieser "fly-overs" sind sicherlich nicht zu leugnen, dennoch stellen deren katastrophale städtebauliche Folgen in keinem Verhältnis zu deren Nutzen. Die zweite Errungenschaft war der Baubeginn der ersten U-Bahn in Afrika und in Nahost. Die erste U-Bahn-Stecke (45 km lang, 33 Haltestellen, davon nur fünf unterirdisch) ist schon seit rund vier Jahren in Betrieb und befördert schätzungsweise eine Million Fahrgäste täglich. Der Bau weiterer Strecken läuft auf Hochtouren, der überlagert von den Kanalisationsbaustellen, die Straßenverkehrslage der Stadt momentan stark belastet.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann Ismail den Bau einer modernen franko-britisch aussehenden, an die Altstadt angrenzenden Stadt. Damit wurden "natürliche" Klassengrenzen in den Raum gesetzt, die ein Jahrhundert später kaum noch eine bedeutende Rolle spielten. Die Umsetzung des Zentrums bzw. der Zentren von Kairo über die Jahrhunderte diente dazu, die Raumtrennung nach Klassen allmählich aufzuheben. Im Business-Zentrum, der Stadtmitte (Downtown) aus dem vorigen Jahrhundert, geht es nach wie vor geschäftlich zu. Mohandessin nahm das Aussehen einer amerikanischen Stadt an, Garden City, Zamalek, Heliopolis und die Hochhäuser am Nil gehören zu den vornehmsten Gegenden, sind aber nur aus der Entfernung zu genießen. Aus der Nähe betrachtet werden die planlose Bebauung und die lieblos zusammengezimmerten Details der Architektur augenscheinlich. Wegen Wartungsmängeln (oft fehlt die Wartung völlig), der sich dahin schleppenden Bauzeiten und der Unterschätzung der Ingenieursleistung wird ein Bauwerk nie ganz fertig. Der Verfall setzt bereits vor Fertigstellung ein.
Viele nennen Kairo ein "Dorf mit 15 Mio. Einwohnern", andere nennen es die "Schwamm-Stadt", da es jeden Zuzügler aufnehmen kann ohne größer zu werden. Aber wo wohnen die Armen? Und wie wohnen sie?
"Shanty towns" Offizielle Stellen in Ägypten bezeichnen Ansiedlungen aus Hütten, Zelten, Kiosken etc. als "Shanty towns". 1986 lebten 1,1 Prozent der Bevölkerung in solchen Vierteln. Sie sind an einigen Müllhalden der Altstadt zu finden. Einige Zelte sind in versteckten Gassen aufgeschlagen, Hütten entlang der Eisenbahnlinien, Bewässerungskanäle und im sog. "Niemandsland" der Industriegebiete und in der Nähe von offiziellen Obdachlosenheimen, die ihren provisorischen Charakter längst aufgegeben haben. Einige dieser "Shanty towns" stehen seit 1963. In einem Raum müssen manchmal 13 Menschen leben. Messungen der Bevölkerungsdichte ergaben einmal das Rekordergebnis von 325.000 Menschen pro km². Einen anderen Typ der spontanen Behelfsbehausungen findet man auf den verwahrlosten Dächern der Mittelklasse-Häuser. Auch wurden historische Bauwerke, besonders in der mittelalterlichen Stadt besetzt. In einer Erhebung von 1986 wurden 3.652 Familien erfaßt, die in solchen Wohnverhältnissen vegetierten. (0,27 Prozent aller Familien in Kairo).
Die gängige Erklärung für Slums in der Fachliteratur lautet: "Wohnbedingungen, die der Gesundheit beträchtlich schädlich sind". Die ungesunden Bedingungen sind: totales Fehlen einer Infrastruktur, kein Wohnkomfort, hohe Bevölkerungsdichte. 10,8 Prozent aller Kairoer Familien (ca. 15.000 Familien) leben in einem Raum.
Friedhofssiedlungen Kairo verfügt über zwei große und einen kleineren Friedhof, die auf einer Fläche von ca. 1.000 ha liegen und sich über 12 km parallel zur Nord-Süd-Achse erstrecken. Die Gräber sind Häuser, die aus Ziegelsteinen gebaut wurden. Das Wohnproblem in den vergangenen 30 Jahren drängte immer mehr wohnungslose Menschen dazu, diese "Wohnstätten der Toten" zu besetzen. Die Anzahl der Menschen ist nie richtig erfaß worden, sie wird aber von den Medien auf 350.000 bis 1,5 Mio. geschätzt. Realistisch scheint mir eine Schätzung von einer Million.
Planlose Siedlungsgebiete sind keine "Shanty towns" oder "Slums". Deren Bauten müssen auch nicht unbedingt statisch unsicher sein, sie halten sich aber an keinerlei stadtplanerische Vorschriften wie Bauhöhe, Straßenbreite, Straßenführung, Hausabstände, dem Verhältnis von Grundstücksfläche zur umbauten Fläche, Einhaltung technischer infrastruktureller Vorgaben von Wasser, Kanalisation oder Elektrizität. Die Bauten sind meist schlecht, unsachgemäß und vor allem ungenehmigt ausgeführt. Darin besteht die Illegalität. Die Eigentumsverhältnisse sind umstritten. In den meisten Fällen ist vor allem die "Umfunktionierung" des Bodens strittig und illegal, weil auf Ackerland gebaut wurde. Ein bedeutendes Phänomen der letzten 30 Jahre ist, daß die Entwicklung der planlosen Siedlungsgebiete in organisierter Form und kommerzieller Absicht vorangetrieben wird. 1982 machte allein dieser Siedlungstyp 60 Prozent des gesamten Wohnungsbaus im GRK aus. Jüngere Daten fehlen.
Die ständige Erweiterung und Ausdehnung der planlosen Gebiete hat wirtschaftliche und politische Gründe:
Die staatlichen Aktivitäten begannen mit der großen Verstaatlichung 1962. Die neu entstandene staatliche Bauindustrie konnte den kleinen Baumarkt für billige und mittlere Wohnungen nicht ersetzen. Der Anteil der staatlichen Baufirmen wurde mit der Zeit immer größer, nicht zuletzt durch die großen staatlich geförderten Wohnungsbauprojekte. Dennoch lebte das Privatkapital weiter, nicht nur neben den großen staatlichen Firmen, sondern auch in staatlichen Subunternehmungen. In den 60er Jahren wurde der Einsatz von Privatkapital im Bausektor eingeschränkt. Die staatliche Bauindustrie boomte. Nach dem 73er Krieg brach Sadat diese Strukturen kategorisch auf. In der langen ägyptischen Geschichte begann ein bis dahin beispielloser Raubbau. Die Nachfrage nach Wohnungen stieg immens an:
Insgesamt gab es 45 große Firmen, die in alle Baugeschäfte der Superlative investierten und astronomische Gewinne erzielten.
Durch ihre Wendigkeit und Dynamik tragen die Firmen des Klein- und Mittelstandes die größte Schuld an der Eskalation planlos bebauter Gebiete in den letzten 30 Jahren. Diese Firmen nutzen die Korruption in den Ämtern schändlich für sich aus. Die kleinen und mittleren Beamten sehen sich, aufgrund der ihnen gegebenen Entscheidungsgewalt als Partner oder Teilhaber an jedem Bauvorhaben, das innerhalb ihres Machtbereiches stattfinden soll.
Die Bauern, die ihren Ackerboden durch die Landreform 1952 bekommen hatten, haben diesen Boden am Rande der Stadt als Bauland verkauft. Die Gewinne waren unwiderstehlich. Das absolute Einfrieren der Mieten seit den 50er und 60er Jahren führte zu paradoxen Mißständen am Wohnungsmarkt aller Klassen. Diese Mietbindungen sind in einer Zeit entstanden, in der der Staat eine totalitäre zentralistische Wirtschaftspolitik konsequent durchsetzte und dadurch die Inflation im Griff hatte. Seit dem Zusammenbruch des Nasser-Regimes vor ca. 25 Jahren schreitet die Inflation unaufhaltsam weiter und überrollt alles. Die Mietbindungsgesetze gelten aber immer noch, und der Staat ist nicht mehr im Stande, diese Gesetze aufzuheben, denn die wirtschaftliche Lage der meisten Menschen ist prekär. Die Miete für eine Wohnung nach den Marktgesetzen ist 50 bis 150 mal höher als die gebundene Miete für eine vergleichbare Wohnung. Das führt zu einem paradoxen Zustand:
Die ägyptische Gesellschaft von heute ist geprägt durch ein großes sozialpolitisches Gefälle. Die Klassenstruktur ist Resultat einer Entwicklung, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann, durch den Machtwechsel von 1952 beschleunigt wurde, sich ab 1975 manifestierte und bis heute prägend ist. An der Spitze steht eine zahlenmäßig geringe Elite von nur 14 Prozent der Gesamtbevölkerung, die zwei Drittel des Nationaleinkommens verbraucht. 86 Prozent der Bevölkerung müssen mit einem Viertel des Nationaleinkommens auskommen.
50 Mio. Menschen in 8,5 Mio. Familien haben ein monatliches Familieneinkommen zwischen 100,- und 500,- LE (umgerechnet 40,- bis 200,- DM). Zu dieser Gruppe gehören 70 Prozent aller Städter. 84 Prozent aller Unterkünfte im GRK sind illegal gebaut. 45,6 Prozent aller Einwohner im GRK (12,9 Mio.) leben in diesen planlosen und illegalen Siedlungen. Das macht in absoluten Zahlen 5,88 Mio. Menschen. Die illegalen Siedlungen nehmen ein Viertel der Gesamtfläche des GRK in Anspruch mit einer Bevölkerungsdichte von 73.000 Menschen pro km². Bis zu sechs Menschen leben in einem Raum. Nur 20 Prozent der Wohnungen sind mit einer Innentoilette ausgestattet. Die Straßen, die zu diesen Unterkünften führen, sind zu 30 Prozent nicht asphaltiert und haben keine Bürgersteige. Die planlose, unüberschaubare Bebauung macht es zudem fast unmöglich, Trinkwasser-, Abwasser- oder Gasleitungen zu legen. Allein die Stromversorgung dieser Gebiete ist sichergestellt. Zwei Drittel der Armen genießen den Luxus eines Elektroanschlusses. Von den öffentlichen Dienstleistungen sind sie aber weitgehend ausgeschlossen. Sie bekommen weder Post, noch können sie telefonieren. Für die Zukunft Kairos bedrohlich und erschreckend ist es, daß ein Drittel der Armen Kinder unter 12 Jahren sind. Nur 20 Prozent dieser Kinder besuchen die Schule bis zur 7. Klasse und schließen sie ab. 80 Prozent versuchen, durch Arbeit zu überleben. Nach Angaben des ägyptischen Bundesamtes arbeiteten 1984 1,5 Mio. Kinder unter 15 Jahren. Die Kinder machen 10,3 Prozent der arbeitenden Bevölkerung (14,3 Mio.) aus. Die Erhebungen von UNICEF liegen weit höher. Der Gesundheitszustand der Kinder entspricht ihren Lebensbedingungen. 55 Prozent leiden unter Anämie, 40 Prozent sind unterernährt. In den illegalen Siedlungsgebieten fehlen Sozial- und Kultureinrichtungen. Raum für kulturelle Aktivitäten bieten allein die Moscheen, die wie Pilze aus dem Boden schießen. In den letzten 30 Jahren wurden 60.000 Moscheen gebaut.
Die Nutznießer aller Zivilisations- und Komfortmaßnahmen sind 14 Prozent der Ägypter, die 74 Prozent des Nationaleinkommens verbrauchen. Sie besitzen Privatlimousinen, Telefone und wohnen luxuriös. Ihre Namen kommen in den Medien vor, und für sie interessiert sich das private und öffentliche Kapital. Gewiß, auch bei den Reichen gibt es Unterschiede.
Stadtentwicklung und Stadtplanung braucht das nachhaltige Engagement von Architekten und Ingenieuren. Sie spielen aber keine maßgebliche Rolle im Entscheidungsprozeß. Stadtplanung ist ein Politikum geworden. Sie reflektiert die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen eines Landes. Deshalb ist schon am Stadtbild der Entwicklungsstand eines Landes abzulesen. Literatur:
Zum 2. Teil über "Stadtplanung in Ägypten"
Zu weiteren Problemen der aktuellen Stadtentwicklung siehe auch die Rubrik
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