Staat und Religion
Die Anatomie des ägyptischen Staates der Gegenwart
Nr. 11/86, pp. 1518 Der Nahe Osten erfreut sich in den westlichen Medien eines regen Interesses. Es handelt sich in der Regel um eine aktuelle Berichterstattung über diese an spektakulären Ereignissen gewiß nicht arme Region. Besonderes Augenmerk widmet man Ägypten, das allgemein als der politische und kulturelle Mittelpunkt der arabischen Welt gilt. Eine wirklich überzeugende Analyse der Herrschaftsstrukturen und -formen in Ägypten existierte bisher auf dem deutschen Buchmarkt noch nicht. Nun aber beschäftigte sich ein Autor mit diesem Themenkreis: Peter Pawelka veröffentlichte 1985 im C.F. Müller-Verlag eine umfassende Studie mit dem Titel "Herrschaft und Entwicklung im Nahen Osten: Ägypten". Im Folgenden soll anhand dieses Werkes und seines wissenschaftlichen Ansatzes versucht werden, in groben Zügen die in Ägypten vorherrschenden Herrschaftsformen zu skizzieren. Zunächst beschreibt und vergleicht der Autor verschiedene politische Systeme, um dann zu dem Schluß zu kommen, daß in Ägypten wohl am ehesten von einem neo-patrimonialen Herrschaftssystem gesprochen werden kann. Unter Patrimonialismus versteht er "eine personale Herrschaftsform, deren Legitimationsgrundlage traditionale Loyalität und materielle Leistungen bilden". Im Mittelpunkt dieses politischen Systems stehe eine Persönlichkeit, die alle politischen Entscheidungen durch ein Netz personaler Beziehungen lenke. Die führenden Politiker und Beamten der Autor bezeichnet sie als Elite seien direkt oder indirekt von der herrschenden Persönlichkeit abhängig. Der Staat trage die Verantwortung für die Kontrolle und Sicherung einer sozialen und kosmischen Ordnung. Daher sei die intensive Sorge des Staates um das gesellschaftliche Wohlergehen ein Wesensmerkmal des patrimonialen Systems. Zwei weitere Eigenschaften dieser Staatsform sind die bürokratische Struktur, die den gesamten Kontakt zwischen der politischen Elite und der Gesellschaft monopolisiert und die Bemühungen des Staatsapparates, die Herausbildung autonomer gesellschaftlicher Organisationen zu verhindern. Nach diesen allgemeinen Definitionen wendet sich der Autor den besonderen Gegebenheiten Ägyptens zu. Er stellt fest, daß für die Neuordnung des politischen Systems in erster Linie der politische Sieg Nassers über Großbritannien und Frankreich im Verlauf der Suez-Kanal-Krise entscheidend gewesen sei. Dieser Sieg habe Nasser die Legitimation verliehen, die aus dem präsidentiellen System eine patrimoniale Herrschaft erwachsen ließ. Nasser entwickelte sich zu einer charismatischen Führerpersönlichkeit für Ägypten und für die gesamte arabische Welt. Eine ähnliche Legitimation erwarb sich Sadat durch die Rückkehr des Sinai und in gewisser Weise auch durch den Frieden mit Israel. Mubarak hatte bisher keine ähnliche Chance, es sei denn, man wertet die im Taba-Konflikt anstehende Lösung als weiteren Sieg. Sowohl Sadat als auch Mubarak fehle es laut Pawelka an jenem Charisma, das Nasser auszeichnete. Im Verlauf der vergangenen dreißig Jahre habe sich das Präsidentenamt weit über seine verfassungsrechtliche Verankerung hinaus entwickelt. Der Präsident sei Quelle jeder politischen Grundsatzentscheidung und ideologischer Denkanstöße. Die Präsidenten umgaben und umgeben sich mit einer Elite. In ihren Strukturen entspricht diese Elite den bürokratischen Zentralgewalten des Osmanischen und des Persischen Reiches. Die Herrscher waren von vier administrativen Systemen umgeben, dem Hof, der zentralen Verwaltung, den hohen Militärs und der hohen Geistlichkeit. Die Führer dieser Bereiche wurden jeweils von dem Herrscher ernannt. Eine ähnliche Struktur der Aufteilung der politischen Herrschaft habe sich in der Sadat-Zeit entwickelt. Dem Hofbereich entspricht heute der persönliche Beraterkreis des Präsidenten. Der traditionelle religiöse Bereich ist heute noch der schwächste. Mit Mubarak kam noch ein fünfter Bereich hinzu, die vom Präsidenten geförderten verschiedenartigen Gruppen der Gesellschaft, wie Gewerkschaften, Verbände, Wirtschaft und soziale Institutionen. Zwischen den Präsidenten und ihren Eliten entwickelte sich ein gewisses Klientel- oder Mandatsverhältnis, denn die Präsidenten übertrugen nur Personen ihres Vertrauens die wichtigen Ämter. Damit kontrollierten sie wiederum den gesamten Staatsapparat. Pawelka stellt somit fest, daß diese personalen Beziehungen zwischen den Präsidenten und ihren Amtsträgern die entscheidende Struktur der politischen Herrschaft in Ägypten bilde. Woher kommt diese Elite? Sie stammt nicht mehr aus dem Großbürgertum und den reichen Landbesitzerkreisen, sondern aus der Mittelschicht. Allerdings haben zwei Drittel der Führer einen Universitätsabschluß. Die Berufsstruktur ist breit gefächert, neben Juristen wurden insbesondere in der Nasser-Zeit Ingenieure, Naturwissenschaftler, Manager und Verwaltungsspezialisten in den neuen Führungskader aufgenommen. Dennoch hatten die Militärs in der Nasser-Zeit eine besondere Stellung inne. Damals waren Offiziere noch mit 35% im Kabinett vertreten. Sadat leitete eine "Demilitarisierung" der politischen Elite ein. In seiner Zeit verringerte sich die Zahl der Offiziere im Kabinett auf knapp 16,5%. Sadat konzentrierte das Militär auf seine Funktion als Garant des Staates. Mubarak setzte diesen Weg fort. Welche Rolle das Militär jedoch unter Krisenbedingungen spielt, haben die Aufstände in diesem Frühjahr gezeigt. Für begrenzte Zeit rückte es wieder voll in die politische Elite ein. Heute ist eine neue Gruppe, die der Partei- und Mandatsträger, Teil der Elite geworden. Mit der Schaffung eines Parlaments und einer beratenden Versammlung (Shura-Council) eröffnete Sadat ein neues, erweitertes Betätigungsfeld für die Elite. Das patrimoniale System konzentriert sich stark auf Prozesse der Machtbalance. Um Machtkonzentrationen innerhalb der Elite zu verhindern, die den Spielraum der Präsidenten einschränken würden, wurden Zuständigkeiten und Funktionen auf mindestens zwei oder mehrere Ministerien oder Ämter aufgeteilt. So konnte der jeweilige Präsident alle Gruppen gegeneinander ausbalancieren. Auch das Parlament und das Shura-Council sind in diesem Zusammenhang zu sehen, denn beide Einrichtungen können dazu dienen, elitäre Macht- und Positionskämpfe bereits im Vorfeld zu neutralisieren und den engeren Bereich des Präsidentenamtes davon freizuhalten. Positiver Nutzeffekt einer Machtbalance ist die Tatsache, daß einschneidende Veränderungen der politischen Richtung unwahrscheinlich sind, es sei denn, sie gehen direkt vom Präsidenten aus. Negativ macht sich diese Machtbalance durch eine hochgradige Unbeweglichkeit bemerkbar, weil niemand ohne andere handeln kann. Erneuerungstendenzen lassen sich so unter Kontrolle bringen und notfalls kalt stellen. Neben der abhängigen Elite bildet eine weitgefächerte Bürokratie das Fundament der patrimonialen Herrschaft. Bürokratie und Ägypten sind seit Jahrtausenden untrennbar miteinander verknüpft. Was wunder, wenn Peter Pawelka der Meinung ist, daß es sich bei der Revolution von 1952 um eine bürokratische Revolution gehandelt habe. Ausgehend von den Militärs mußten diese sich jedoch weitgehend auf die vorhandene Bürokratie stützen, um ein Chaos nach der Machtübernahme zu verhindern. Säuberungen wurden daher auf eine verhältnismäßig kleine Gruppe von Spitzenbürokraten, Männer der alten Ordnung, in neuralgischen Sektoren, beschränkt. Das Militär wurde Teil der Bürokratie, sozusagen eine "bewaffnete Bürokratie". Offiziere wurden in Schlüsselstellungen der Verwaltung und der verstaatlichten Industrie eingesetzt. Ihre Zahl war jedoch mit nur 6% der gesamten Beamtenschaft relativ gering. Lediglich im Sicherheitsbereich, im Innenministerium, in den Provinzverwaltungen und im Präsidialamt war ihre Zahl höher. Erst in den 70er Jahren erfolgte eine Professionalisierung des Militärs und damit eine Ausgrenzung aus dem Bürokratiesystem. Besondere Beachtung verdient die Tatsache, daß auch die bürokratische Elite einen sehr hohen Bildungsstand inne hat. Schon in der Nasser-Zeit betrug die Akademikerrate 97%. Überwiegend kam diese Bürokratie-Elite aus dem Mittelstand. In patrimonialen Bürokratien besteht die Tendenz, möglichst viele Entscheidungen ins Zentrum der Macht zu verlegen. Auch die häufig beobachtete Tatsache unklarer Normierung im bürokratischen Prozeß ist ein charakteristisches Merkmal patrimonialer Bürokratie. Alle Interessengruppen, von den Gewerkschaften bis zu den religiösen Vereinigungen, wurden einer effektiven bürokratischen Kontrolle unterworfen und ihre Organisationen erhielten bürokratische Strukturen. Selbst die politischen Parteien wurden zu einem Werkzeug der Bürokratieklasse. Auch die in der Sadatzeit erfolgte Liberalisierung war ein Werk der Bürokratie. Sie organisierte die staatstragenden Parteien, steuerte die Rekrutierung ihrer Mitglieder und verordnete den Aufbau von Oppositionskräften. Für das patrimoniale Konzept typisch ist die Tatsache, daß sich die Bürokratie intensiv um die wirtschaftliche Entwicklung und um die Wohlfahrt der Menschen kümmert. Man versucht, dies in Ägypten durch Protektionismus und eine intensive Subventionspolitik zu erreichen. Hervorgehoben werden muß auch die polypenähnliche Ausdehnung der Bürokratie. Gab es 1952 nur etwa 350.000 Beamte, ohne Militär, Staatsunternehmen und Lehrpersonal, so stieg diese Zahl bis zum Beginn der 80er Jahre auf 2,1 Millionen Beamte an. Ursache dafür war unter anderem eine Übernahmegarantie für alle Studienabgänger. Heute versucht man, dieses Wachstum zu bremsen. Kurz sei noch auf die Verhaltensweisen der Bürokratie eingegangen. Die Furcht vor einer "falschen" eigenen Entscheidung zwingt den Bürokraten, sich an die obersten Vorgesetzten zu wenden. Die bürokratische Struktur fungiert so als permanenter Rückkoppelungsmechanismus der Machtkonzentration. Im System hängt die Karriere sehr stark vom persönlichen Vertrauen der politisch Einflußreichen ab. Nicht selten überlagern politische Beziehungen und personale Loyalität Kriterien wie Kompetenz, Leistung, Fleiß und Verantwortungsbewußtsein. Dies kann zum Teil so weit gehen, daß die Führungsspitze in gewissem Sinn selbst Korruption und Bestechung toleriert, denn mit einer "geplanten Korruption" läßt sich das Herrschaftssystem gut absichern. Damit soll die Skizzierung des derzeitigen ägyptischen Herrschaftssystems abgeschlossen werden. Über die Parteien, die Legislative und die wirtschaftlichen Kräfte und ihr Hineinwirken in das Herrschaftssystem dieses Landes wird an anderer Stelle berichtet werden. Literatur:
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Religion und staatliche Ordnung im Islam
Nr. 1/87, pp. 2426 Der moderne Islam sieht sich vor Aufgaben gestellt, die früher nicht oder nicht in dem Maße wie heute denkbar waren. Die Mehrheit der muslimischen Theologen betrachtet den Islam als universelles Lebensprinzip, durch das, neben religiösen und spirituellen Aspekten, auch alle anderen Seiten des menschlichen Lebens geregelt werden. Dazu zählt man unter anderem die sozialen, wirtschaftlichen und auch politischen Angelegenheiten der Menschen. Gern wird in diesem Zusammenhang der Satz zitiert: "Der Islam regelt das gesamte Leben des Menschen, von der Wiege bis zum Grab." Umstritten ist allerdings der machtpolitische Aspekt des Islam. Fest steht hingegen, daß der Islam zur Zeit des Propheten und der ersten Kalifen auch eine politische Ordnung darstellte, insofern, als religiöse und politische Herrschaft in einer Hand vereinigt waren. Im frühen Islam war es undenkbar, daß die Herrschaft von jemandem ausgeübt wurde, der nicht gleichzeitig das Vertrauen der religiösen Kräfte besaß. Dementsprechend waren die Kalifen zugleich weltliche und geistliche Herrscher. Die politische Herrschaft wird ebenso wie jedes religiöse Postulat auf Koran und Sunna zurückgeführt, darunter den sogenannten "sozialen Imperativ", wonach "das Gute zu befehlen und das Schlechte zu verbieten" sei (z.B. in Sure 22, Vers 41). Eine Idealvorstellung zu allen Epochen der islamischen Geschichte war es, daß der "beste Muslim" den Staat regieren soll. Der beste Muslim ist durch Wahl zu bestimmen, wie es im ersten islamischen Jahrhundert der Fall war. Allerdings war die Freiheit der Entscheidung bald nicht mehr gegeben. Dies bezeugt die Überlieferung von der Einsetzung Yazids als Nachfolger des Omayyadenkalifen Muawiya. Muawiya habe gegen Ende seines Lebens die Delegierten der wichtigsten Provinzen zu sich gerufen, damit sie den Gehorsamseid auf Yazid ablegen. Ibn Al-Muqaffa, auf den diese Überlieferung zurückgeht, habe sodann gesagt: "Dies ist der Beherrscher der Gläubigen!" Dabei zeigte er auf Muawiya. Sodann: "Dies ist sein Nachfolger!" Und er zeigte auf Yazid. Und schließlich: "Und dies ist für denjenigen, der gegen diese Entscheidung opponiert!", wobei er auf sein Schwert zeigte. Im Laufe der weiteren islamischen Geschichte tauchte eine immer größere Unsicherheit über die Form der Herrschaft auf, weshalb es später de facto zu einer Trennung zwischen Staatsangelegenheiten und Religion kam. Dennoch war stets die Vorstellung hinsichtlich der Einheit von Din (Religion) und Daula (Staat) präsent. Dieser Gedanke ist freilich auch in anderen Kulturen und Religionen nichts Fremdes. Beispielsweise gab es bis in die Neuzeit im christlichen Europa vehemente politische Machtansprüche der Kirche (Investiturstreit, Bischöfe als Landesfürsten, Kirchenstaat etc.). Dies trotz des bekannten Bibelspruchs, "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist." Erst Rationalismus und Aufklärung sorgten für das Entstehen säkularistischer Ideen, wodurch die Herrschaftsbestrebungen der Kirche beschränkt wurden. Offensichtlich gehört es zu den Wesenszügen einer jeden religiösen Bewegung, ihr "Himmelreich auf Erden" durchzusetzen. Die termini technici für die islamische Staatstheorie sind Kalifat (chilafa) und Imamat (Imamiyya). Der Kalif wird als Nachfolger oder Stellvertreter des Propheten (= chalifat ar-rasul) angesehen, nicht aber als Stellvertreter Gottes. Eine ähnliche Funktion erfüllt der Imam (wörtl.: Führer, Leiter); der Begriff des Imamats wurde besonders von schiitischen Dogmatikern ausgebaut. Die beiden Begriffe schließen den Willen der Umma (= der islamischen "Nation") ein; erst ein Konsensus (Idschmaa) innerhalb der Umma rechtfertigt den Herrschaftsanspruch. Der islamische Herrschaftsanspruch findet seinen Ausdruck in der Scharia, wo eindeutige Richtlinien für die Ausübung der Herrschaft und die geforderte Qualität des Herrschers festgelegt sind. Erst die Einhaltung der Scharia macht aus einer zivilen Herrschaft eine religiöse Herrschaft. Allfällige mangelnde Kenntnisse des Herrschers über das islamische Gesetz können durch die Beistellung eines Rates von Gelehrten ausgeglichen werden. Dieses Prinzip der Shura (= Beratung) hat Eingang in die modernen Verfassungen der meisten islamischen Länder gefunden. Eine weitere Beratungsfunktion erfüllt der Mufti und das ihm unterstellte Büro für Entscheidungsfragen, dessen Aufgabe gleichfalls in der Koordinierung der Regierungs- und Verwaltungspraxis mit den Normen der Scharia besteht. Da die Scharia als das abgeschlossene und unveränderliche Gesetz Gottes angesehen wird, muß jede Rechtsbestimmung oder Entscheidung, die damit vereinbar ist, eo ipso als gut und gerecht gelten. Die Scharia stellt ein genuines islamisches Rechtswerk dar, welches ohne "importierte" Rechtsbestimmungen auskommt. Das ist der Grund, weshalb viele orthodoxe Muslime in Ägypten die Meinung vertreten, die Einführung der Scharia sei geeignet, die ökonomischen, kulturellen und politischen Probleme des Landes zu lösen. Vor kurzem hat der Scheich der Azhar, Gad al-Haqq Ali Gad al-Haqq in einem Interview (in der Zeitschrift "at-Tasawwuf al-Islami" Nr. 95 vom Dezember 1986) zu einigen Themen Stellung genommen, die oben angeschnitten wurden. Darin erklärte Scheich Gad al-Haqq das Prinzip der Shura zum "eigentlichen Kernpunkt der islamischen Herrschaftsordnung". Dieses Prinzip ist "tiefgreifender als das europäische Demokratieverständnis, welches die islamischen Länder imitiert haben." Auch der Prophet Muhammad habe sich der Shura seiner Gefährten unterworfen. Was die "derzeit in Kraft befindlichen und international üblichen Verfassungs- und Grundgesetze" betrifft, so hätten diese durchaus ihre Berechtigung, und "es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn die islamischen Staaten Teile davon, die mit dem Shura-Prinzip im Einklang stehen, übernehmen". Erwartungsgemäß erteilt der Scheich al-Azhar allen Säkularisierungsbestrebungen in Ägypten eine klare Absage. Derartige Pläne seien "gegen den Islam und seine Bestimmungen" gerichtet und würden "zionistisches Gedankengut" in sich tragen. Demgegenüber habe der Islam "nichts gegen das Mehrparteiensystem einzuwenden", denn "bereits nach dem Tode des Propheten hat es zwei Parteien gegeben": die Ansar (= Anhänger des Propheten in Medina) und die Muhagirun (= die ersten Mekkaner, welche die Hidschra des Propheten mitgemacht hatten). Der Scheich Al-Azhar bestätigte schließlich die immer wieder vorgebrachte Ansicht, die Einführung der Scharia stelle "die Lösung für alle chronischen und verworrenen Schwierigkeiten" dar, denn sie umfasse neben "wirtschaftlichen und finanzpolitischen Regelungen" auch ein ausgebildetes "Herrschaftssystem".
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Recht aktuell: Integrale Anwendung der Scharia
Nr. 56/85, pp. 5256 Seit einiger Zeit wird in der ägyptischen Presse die Wiedereinführung (richtig: die umfassende Anwendung) der Scharia angesprochen (Anm. 1), darunter in zwei Interviews des Großscheichs von Al Azhar (Anm. 2). Nach Presseberichten (Anm. 3) wird sich das ägyptische Parlament voraussichtlich im Mai dieses Jahres mit dieser Frage befassen. Der nachfolgende Beitrag soll einige Informationen zur Thematik vermitteln.
Anmerkungen:
Literatur:
(Das komplizierte und aufwändige Fußnotensystem der Vorlage wurde verkürzt und durch die Literaturliste ersetzt. Anm. KFN.)
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Säkularisation und Islam Einführung der Scharia
Nr. 1/87, pp. 2731 Die Einführung der Scharia (= des islamischen Rechts) wird immer vehementer von meist fundamentalistisch eingestellten Bevölkerungskreisen in Ägypten gefordert. Allerdings wächst auch die Zahl der Kritiker, die sich vor allem deshalb dagegen aussprechen, weil, ihrer Meinung nach, mit der Übernahme sämtlicher islamischer Regeln und Bestimmungen als Staatsgesetze ein religiöser Staat entstehen würde, in dem ausschließlich religiöse Würdenträger die Politik des Landes zu bestimmen hätten. Diese Befürchtung wird auch von vielen mäßigen Muslimen geteilt. Dennoch gibt es relativ wenige Persönlichkeiten, die auch in der Öffentlichkeit gegen die Einführung der Scharia, und damit für die Fortsetzung eines gemäßigten säkularen Staatskurses auf demokratischer Grundlage Stellung nehmen. Einer dieser wenigen ist Dr. Farag Ali Foda, dessen im Vorjahr erschienenes Buch "Vor dem Fall" (qabla s-suqut) die heißen Themen Scharia und Säkularisation behandelt. Das Buch wurde ein erstaunlicher Erfolg: 17.000 Stück sind bisher verkauft. Ein weiteres Buch unter dem Titel "Die abwesende Wahrheit" (al-haqiqa al-ghaiba) befindet sich zur Zeit in Druck. Farag Foda (geb. 1945, Agrarökonom, verheiratet, vier Kinder) erklärte sich PAPYRUS gegenüber zu einem umfassenden Gespräch bereit. Nachstehend eine Zusammenfassung dieses Interviews.
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Nachlese zu Säkularisation und Scharia Teil I
Nr. 2/87, pp. 5759 In unserem letzten Heft haben wir über die Säkularisierungsbestrebungen in Ägypten berichtet (an Hand eines Interviews), und ebenso, in allgemeiner Weise, über das Verhältnis von Staat und islamischer Religion. (Siehe "Säkularisation und Islam Einführung der Scharia" sowie "Religion und staatliche Ordnung im Islam" Anm. KFN.) Im Laufe der vergangenen Wochen sind nun eben diese beiden Themen zu Tagesthemen in der öffentlichen Meinung des Landes und in den Medien geworden, so daß auch wir aus Aktualitätsgründen die Diskussion über die Schlag- und Reizworte "Säkularisation" und "Sharia" weiterverfolgen wollen. Im Dezember kam es zum ersten Mal zu einem Treffen zwischen Verfechtern der Säkularisation ('Ilmaniya) und Vertretern traditioneller islamischer Kräfte, und zwar in Form eines Seminars, das die Wochenzeitung "al-Liwa al-islami" veranstaltete. Sprecher der Säkularbewegung waren dabei Dr. Wahid Rifaat, Jurist und stellvertretender Vorsitzender der Wafd-Partei, sowie Dr. Farag Fouda, unser Gesprächspartner vom vergangenen Monat. Da die Veröffentlichung dieses Treffens bei Redaktionsschluß dieser Ausgabe noch nicht vollständig vorlag, behalten wir uns ein Resümee und eventuelle diesbezügliche Ergebnisse für unseren nächsten PAPYRUS vor. (Siehe "Nachlese zu Säkularisation und Scharia Teil II" Anm. KFN.) Eine vermittelnde Position zwischen Säkularisten und Sharia-Anhängern nimmt der bekannte muslimische Publizist und Philosoph Khaled Muhammad Khaled ein, der sich gleichfalls vor kurzem zu diesem Thema gemeldet hat (u.a. in den Wochenblättern "an-Nur" und "al-Wafd"). Darüber hat Khaled Muhammad Khaled bereits früher ein Buch unter dem Titel "Verteidigung der Demokratie" geschrieben, in dem er Vergleiche zwischen dem europäischen Begriff der Demokratie und islamischen Staatsideen anstellt. Dabei kommt er zum Schluß, daß die Demokratie durchaus dem islamischen Shura-Prinzip (= Beratung) entspricht, die demzufolge auch von modernen staatlichen Gemeinschaften mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit als staatliche Grundform anzunehmen ist. Die Vorstellung der Demokratie gehöre nämlich "zu den größten Gottesgaben und zu den großartigsten Errungenschaften des Menschen". Er führt weiters sieben Grundprinzipien an, die sowohl in der islamischen Sharia als auch im westlichen Demokratie-Verständnis verankert sind, nämlich:
Diese Prinzipien müssen auch in einem "islamischen Staat" voll zur Geltung kommen, da sie ja, nach Khaled Muhammad Khaled, von der Sharia abgeleitet sind. Die sieben Punkte haben mittlerweile auch Vertreter von gemäßigten und fundamentalistischen islamischen Gruppierungen als mit dem islamischen Recht vereinbar erklärt, darunter der jetzige Murshid der Ichwan al-Muslimin, Muhammad Hamid Abu Nasr. Die Forderung nach Einführung der Sharia wird durch diese Annäherung an geläufige westliche Vorstellungen und Formulierungen viel von ihrer Schärfe genommen. Dementsprechend dürfe die Sharia auch nicht mit Gewalt durchgesetzt werden, denn Gewaltakte seien dem Islam eigentlich fremd, was somit selbst ein Verstoß gegen die Sharia wäre. Änderungen auf politischer und sozialer Ebene müßten vielmehr von innen heraus kommen, auf dem Wege des "guten Wortes", der "vernünftigen Anleitung" und des "guten Beispiels". Voraussetzung für die Einführung der Sharia inklusive aller Strafmaßnahmen und Sonderbestimmungen sei die "innere Bereitschaft", die zur Zeit aber noch nicht vorhanden ist. Erst wenn diese innere Voraussetzung gegeben ist, kann man, schreibt Khaled Muhammad Khaled, darangehen, auch die "äußere islamische Lebensführung und Gesetzgebung" formal zu übernehmen. Kürzlich wurde im islamischen Wochenblatt "an-Nur" (Nr. 252 vom 7. Januar 1987) eine Volksbefragung des "Nationalen Zentrums für Sozial- und Kriminalforschung" über die Einführung der Sharia veröffentlicht. Die detaillierte Auswertung der Umfrage ist auch in Buchform erschienen (auf 340 Seiten), jedoch nach Mitteilung der Zeitung aus unerfindlichen Gründen nicht in den Vertrieb und Buchhandel gelangt. Die Volksbefragung wurde in zwei Teilen durchgeführt. Der erste Teil betraf
die Durchschnittsbevölkerung in Ägypten, wobei sich die enorm hohe
Befürwortungsquote von 96% ergab.
Die Pro-Rate, geordnet nach Berufsgruppierungen, sieht folgendermaßen aus:
Die Befürwortungsquote der Frauen (75%) lag deutlich unter derjenigen der Männer.
Diejenigen Befragten, welche die Sharia für alle Bevölkerungsgruppen anwenden wollen, gaben als Begründung an:
Als Vorzüge der Sharia wurden von den Befürwortern folgende Punkte genannt:
74% der Befürworter sehen keinerlei Nachteile für die Einführung der Sharia. Eine Minderheit fürchtet jedoch den Mißbrauch der Sharia (7%), den Protest von manchen Bevölkerungsgruppen (6%), das Auftreten von Mängeln bei der Durchführung, die Entstehung von religiösem Fanatismus und die Unmöglichkeit einer schnellen Abänderung (je 3%).
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Nachlese zu Säkularisation und Scharia Teil II
Nr. 3/87, pp. 2930 Zu den zur Zeit in Ägypten am meisten diskutierten Themen gehören nach
wie vor die Einführung der Scharia und die Forderung nach Verankerung des
Prinzips der Säkularisation im ägyptischen Staatswesen.
Die Kontroverse zwischen den beiden Richtungen scheint sich gegenwärtig zu
verstärken, was auch in den hiesigen Medien zum Ausdruck kam.
Scheich Kishk ruft zur baldigen Einführung der Scharia auf, denn die heutige Gesellschaft sei krank und entbehre einer wirksamen Therapie. Die beste Medizin für die Gesellschaft kann aber nur das Gesetz Gottes (ar' Allâh) sein. Die Hindernisse für die Anwendung der Scharia in Ägypten seien gering, da nach Meinung der breiten Öffentlichkeit die Scharia ein besseres Leben für alle Bevölkerungsgruppen garantieren wird. Auch Christen würden ein besseres Leben im Schutz der Scharia genießen. Die Anwendung der Scharia darf jedoch nicht mit gewaltsamen Maßnahmen erzwungen werden. Das gleiche gilt für die Frage um die Einsetzung der rechtgeleiteten islamischen Herrschaft (qiyâda islâmîya raîda). Die allgemeine Mäßigung dürfe nur für den Fall überschritten werden, wenn der Unglaube unter den Herrschenden offensichtlich ist und es dafür sichtbare Zeichen Gottes (burhân min Allâh) gibt. Im allgemeinen lehnt der Islam gewaltsame Methoden ab. Der Kampf soll heute mit modernen Mitteln ausgefochten werden, nämlich in den Medien und in friedlichen Diskussionen, wo in gemäßigter Weise auf die Vorteile der Scharia hingewiesen werden soll. Um seinen Forderungen Gehör zu verschaffen, ist Abdelhamid Kishk zu einem Treffen mit dem Präsidenten bereit. Überhaupt sei es Pflicht der Ulama, die Herrscher an das Jenseits und an den Tod zu erinnern. Die neuentstandene säkulare Bewegung in Ägypten sei im Grunde gegen den Islam und seine Lehren gerichtet und ist deshalb abzulehnen. Um den säkularen Bestrebungen in Ägypten und in anderen Ländern der islamischen Welt Einhalt zu gebieten, propagiert Scheich Kishk die Neuerrichtung des Kalifats (das 1924 von Kemal Atatürk formell abgeschafft worden war) und schlägt die Gründung eines islamischen Staatenbundes vor. Dieser Staatenbund soll nach dem Muster der USA den Namen "Vereinigte Islamische Staaten" tragen (al-wilâyât al-islâmîya al-muttahida). Der neue Mufti von Ägypten, Scheich Muhammad Sayyed Tantawi, erklärte in einem Interview mit der Tageszeitung "Al-Ahram" (vom 11. Januar 1987), daß die Vorbereitungen hinsichtlich der Einführung der Scharia zu seinen wichtigsten Amtsgeschäften gehöre. Allerdings gab er keine näheren Details bekannt und ließ sich auch auf keinen Zeitplan festlegen. Der Führer (murid 'âmm) der Muslimbrüder, Muhammad Hamid Abu Nasr, wies ebenfalls auf die Dringlichkeit der Einführung der Scharia hin (in der Zeitschrift "al-Umma al-Islamiya" vom Januar bzw. Februar 1987). Diese Forderung stelle das vorläufige Hauptziel der "Ichwan al-Muslimin" dar. Um ihren Wünschen auf politischer Ebene Nachdruck zu verleihen, plane man derzeit die Gründung einer eigenen politischen Partei, die vermutlich "Shura" heißen wird. Abu Nasr tritt für die Kooperation mit allen islamischen Kräften, darunter auch mit den Sufi-Orden ein, die das gleiche Ziel und den gleichen Ursprung hätten. Um eine Veränderung der gegenwärtigen Herrschaftsverhältnisse zu erreichen, dürfe keine Gewalt angewendet werden. Sollten die Muslimbrüder irgendwann einmal in Herrschaftspositionen gelangen, dann würde man auch Andersgläubige, vor allem die Kopten, zur Mitarbeit einladen und ihnen einen Anteil an der Macht und in der Verwaltung zugestehen. In einem Grundsatzartikel in der Zeitschrift "Al-Azhar" (Februar
1987) nahm der Azhar-Professor Fawzy Muhammad Tayel zum Thema Säkularismus aus
islamischer Sicht Stellung.
Demgegenüber vertritt der Islam die Auffassung, daß religiöse und profane Lebensbereiche dicht beisammen liegen und deshalb nicht getrennt werden könnten. In den islamischen Ländern habe es keinerlei Konflikte zwischen der staatlichen Autorität und den religiösen Institutionen gegeben. Beide Autoritäten seien vielmehr in einem einheitlichen System integriert gewesen, weshalb der Säkularismus überflüssig sei. Der Säkularismus ist so wie die Systeme des Kapitalismus, des Kommunismus usw. ein von Menschen erdachtes Gedankengebäude. Diese Bewegung kann daher nicht in Relation zur göttlichen Ordnung gesetzt werden, als deren letzter Ausdruck der Islam anzusehen ist.
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Nachlese zu Säkularisation und Scharia Teil III
Nr. 4/87, pp. 4648 Der Ruf nach Einhaltung säkularer staatlicher Prinzipien auf der einen und die Forderung nach Einführung der Scharia auf der anderen Seite bestimmten in den vergangenen Wochen und Monaten die Diskussionen in der breiten ägyptischen Öffentlichkeit. Unter anderem kam es zu einer ersten intellektuellen Konfrontation zwischen den Vertretern beider Richtungen, die in der Folge im islamischen NDP-Organ "al-Liwa al-islami" sukzessive abgedruckt wurde (Nummern 256261). Als Vertreter der säkularistischen Bewegung fungierten dabei Dr. Farag Fouda (siehe "Säkularisation und Islam Einführung der Scharia" Anm. KFN.) und Dr. Wahid Rifaat, der stellvertretende Vorsitzende der "Neuen Wafd-Partei". Die bekannten Schriftsteller und Publizisten Youssef Idris und Zaki Naguib Mahmoud, die ebenfalls als Anhänger des Säkularismus gelten, lehnten eine Teilnahme an diesem Seminar ab. Sprecher für die islamische Gegenpartei waren neben anderen Dr. Ahmad Omar
Hashem, Professor an der Azhar-Universität, und Dr. Gamal Ed-Din Mahmoud, ehemaliger
Generalsekretär des "Hohen Rats für Islamische Angelegenheiten".
Wie aus der obigen Zusammenfassung der Diskussion zwischen Säkularisierungsvertretern und ihren Gegnern hervorgeht, gab es kaum gemeinsame Anhaltspunkte oder gar Kompromisse. Auch in nächster Zukunft dürfte sich keine Kompromißbereitschaft in dieser Hinsicht abzeichnen. Das lassen die Reaktionen in der ägyptischen Presse auf diese Begegnung vermuten. In teilweise sehr polemischen Artikeln meldeten sich mehrere muslimische Persönlichkeiten wie Scheich Shaarawi, Scheich Muhammad Al-Ghazzali, Dr. Tayyeb An-Naggar u.a. zu Wort, die jeweils Säkularisierungstendenzen rundweg ablehnen. (Siehe "Nachlese zu Säkularisation und Scharia Teil II" Anm. KFN.) Die Anhänger der säkularen Richtung haben sich demgegenüber kaum geäußert. Die von Dr. Farag Fouda angekündigte Stellungnahme in der "Liwa al islami" ist bis dato (bis zum Redaktionsschluß dieser PAPYRUS-Ausgabe) nicht erschienen. Auch das in der März-Nummer der Zeitschrift "At-Tasawwuf al-islami" publizierte Diskussionsseminar über die Säkularisation brachte im wesentlichen nicht Neues. Das Schlagwort von der Einführung der Scharia ist schließlich in den vergangenen Wochen zum Wahlkampfthema geworden. So haben sich die Muslimbrüder mit der Ahrar- und Umma-Partei zu einer gemeinsamen Wahlliste zusammengeschlossen, um dadurch der Hauptforderung nach lückenloser Einführung der Scharia Nachdruck zu verleihen.
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