Touren
Felukkafahrt von Assuan nach Luxor
Nr. 4/84, pp. 1821 Wie in Kairo verabredet, liegt das Boot morgens für uns bereit am Kai von Assuan. Die "Lizil" ist 9 m lang, 3 m breit und der Giekbaum, an dem das Segel hängt, mißt 15 m. Das Plankendeck, das den ganzen hinteren Teil des Bootes vom Mittelschwert ab bedeckt, wird für die nächsten Tage unser Aufenthalt sein. Auf dem Deck liegen Schaumgummimatten, darüber Laken angenehm weich. Die Besatzung, Mahmud (17), Abdel Nebbi (20) und Ahmed (19), wartet auf uns und hilft uns mit unserem Gepäck an Bord. Die Sonne scheint, und es weht eine frische Brise, wie üblich aus Norden. Bevor wir Assuan verlassen, müssen wir uns alle, Boot, Besatzung und Passagiere, polizeilich registrieren lassen. In der Zwischenzeit bäckt Abdel Nebbi Fisch im Boot, im offenen Raum zwischen Mast und Schwert. Als wir nach einer guten dreiviertel Stunde zurückkommen, geht es los. Die Fahrt und das erste Essen. Der Fluß ist hier recht schmal. An beiden Seiten sieht man Wüste, dann und wann am Wasser entlang einen schmalen Streifen Grün mit vielen Dattelpalmen. Hier und da kleine Felseninseln. Da steht ein Reiher. Das Nachmittagslicht gibt dem Grün am Ufer einen leuchtenden Anstrich. Die Palmen wachsen sehr üppig hier und sehen bei weitem nicht so staubig aus wie in Kairo. Die Stämme scheinen violett-rot und tief-orange. Als die Sonne untergeht, steigt ein unglaublich großer Mond empor. Es kühlt jetzt sehr schnell ab. Eilig holen wir unsere Schlafsäcke hervor. Noch immer weht ein kräftiger Wind, und es ist aufregend, so im Dunkeln über das vom Vollmond leuchtende, glitzernde Wasser zu fahren. Um halb acht legen wir an einer Insel an. Wieder essen wir Fisch, diesmal mit Tomaten und Zwiebeln, lecker gewürzt, mit Reis und Brot. Wir beenden den Tag mit einem Schnaps und breiten unsere Schlafsäcke auf dem Deck aus. Die Mannschaft schläft unter dem Vorderdeck. Noch bevor die Sonne aufgeht, im nebligen rosa Morgenlicht, stößt der Schiffer das Boot ab. Das Wasser ist spiegelglatt, es wird von keinem Hauch gekräuselt. Langsam schaukeln wir stromabwärts. Mit einem langen Ruder korrigiert Mahmud den Kurs, wenn ein Motorschiff herankommt. Um sechs Uhr ist jeder wach. Die Mannschaft raucht Wasserpfeife. Eine Stunde später taucht einer nach dem anderen ins Wasser. Es wird tüchtig geseift und geprustet. Danach ein herrlicher heißer Kaffee. Mittlerweile ist Kom Ombo in Sicht. Es liegen sechs große Hotelschiffe den Kai entlang, aber trotzdem ist alles still. Schläft etwa noch alles? Zwischen acht und neun besichtigen wir den Tempel, und um halb zehn gleiten wir wieder über den Strom, der Wüste meistens ganz nahe. Eine Herde Kamele kommt ans Wasser, trinkt. Es ist so ruhig, wir fühlen uns als Teil der Umgebung. Die Kinder spielen, schneiden, kleben. Abdu zeichnet unser Boot. Wir hören nur das Knarren der Planken, das Klatschen des Wassers. Nachmittags gibt es noch immer fast keinen Wind. Unsere Ruhe wird jäh gestört. Plötzlich springt die Mannschaft auf und winkt mit weißen Kopftüchern einem Zuckerschiff. Wir werden ins Schlepptau genommen. Dieser Lauf der Dinge gefällt uns nicht sehr. "Ohne Wind machen wir nicht genug Kilometer", antwortet der Schiffer. Das Segel wird aufgerollt, und zwei Stunden lang hängen wir hinter dem ratternden Zuckerkahn. Die ersten Zeichen von Sonnenbrand machen sich bemerkbar. Um fünf werden wir abgehängt und ankern im Fluß vor Edfu. Wir essen, trinken Tee und Schnaps, werden auf ägyptische Namen umgetauft, dafür bekommen die Burschen holländische. Es ist angenehm, daß wir genügend arabisch sprechen, um uns gut zu verständigen, aber nicht genug, um all ihren Gesprächen wörtlich zu folgen. So behält jeder seine Freiheit. Die Nacht ist weniger kalt als die letzte. Nach dem Tee um sechs Uhr fahren wir nach Edfu. Der Horus-Tempel liegt 2 km vom Fluß. Ein Schnelläufer unter uns geht voran, wir folgen, zur großen Freude der Kinder, in einer Kutsche im Galopp. Um halb neun kehren wir zurück ins Boot. Es gibt wieder keinen Wind. Wir fahren paddelnd unter der Brücke durch und schaukeln weiter während des Frühstücks aus Kaffee, Tee, Marmelade, Brot und Schmelzkäse. Die Dörfchen jenseits des Flusses mit ihren azurblauen, sanftgelben oder bloß erdfarbigen Häusern, zwischen Palmen, doppelt zu sehen, einmal nach unten im Nil, sind herzerobernd schön. Am Nachmittag nimmt der Wind schnell zu und wir schießen über das Wasser. Am Abend zeichnen die Silhouetten der prächtigen Palmenwälder und Röhrichte sich scharf ab gegen das Türkis des Himmels. Ein faszinierendes Schauspiel. Später, als der Himmel rot ist, fliegen Scharen von Gänsen über das Wasser. Bei Sonnenuntergang lernt die Mannschaft Siebzehnundvier. Die Stimmung ist ausgezeichnet. Wir fahren im Dunkeln weiter, essen segelnd gebratenes Huhn mit Reis, Gemüse, Brot. Wir legen am rechten Ufer an, Esna gegenüber. Als wir aufwachen, haben wir gleich einen guten Wind. Um acht fahren wir auf die andere Seite, nach Esna. Wir wandern durch den Ort, der arm, aber gepflegt wirkt, zum Chnum-Tempel in der Mitte des Städtchens. Wir kaufen Bananen, Orangen und Süßigkeiten und spazieren zum Damm. Unser Boot liegt tief unten in der Schleuse, zusammen mit einem riesigen Hotelschiff. Um 10 Uhr gehen wir wieder an Bord. Es weht inzwischen stark. Alle Kleider bleiben an, schwimmen ist nicht möglich heute. Wir sehen ein Tier. Es ist größer als ein Salamander, aber kleiner als ein Krokodil, wohl ein Waran. Die Jungen wollen es mit der langen Stange töten. "La, la, la, la-a" schreien wir, und glücklich schwimmt es unverletzt, den Kopf über das Wasser erhoben, zur anderen Seite. Wir sehen übrigens auf der ganzen Fahrt, auch jetzt, eine Unzahl von Vögeln: Reiher verschiedener Arten, Wildgänse, Eisvögel, Löffler. Sie sind auf Sandinseln, im Fluß und am Ufer. Wir fahren durch ein weites Zuckerrohrgebiet. Abdu und Mahmud gehen von Bord. Sie klauen Zuckerrohr für uns. Mahmud wird gehänselt: wir fahren knapp am Ufer entlang, immer so, daß er gerade nicht aufspringen kann. Als es ihm endlich gelingt, ist er vom Rennen ganz außer Atem. Sie bleiben guter Laune und machen Scherze mit den Männern, die am Ufer angeln und den Frauen, die dort waschen und Wasser holen. Später wird wieder Karten gespielt und Essen gemacht. Wir sehen immer mehr Zuckerrohrschiffe und passieren eine große Zuckerfabrik. Vor der untergehenden Sonne gibt uns die riesige schwarze Rauchsäule einen Eindruck von der Hölle. Sehr dramatisch. Der Wind nimmt ab, und wir fahren leise weiter, an großen Röhrichten entlang, wo Bauern in farbenfroh bemalten Nachen Rohr schneiden. Später legen wir unweit des Dorfes von Abdel Nebbi an. Der schläft also zu Hause. Mit dem neuen Tag ist die Welt wieder von einem geheimnisvollen Nebel verhüllt. Die Berge jenseits des Flusses scheinen zart und wirken gar nicht so alt im ersten Sonnenlicht. Das Wasser schlägt mild gegen unser Boot und die Kähne, die die Bauern in der Nähe vertäut haben. Mahmud und Abdu machen ein Feuer am Ufer, woran wir uns wärmen. Bauern kommen vorbei, und wir plaudern. Es ist der letzte Morgen. Mit wenig Wind fahren wir langsam zum Ziel. Schon mit Schwermut im Herzen wegen der schönen Zeit, der Sonne und der Ruhe, die wir hinter uns lassen, verabschieden wir uns von Mahmud, Abdel Nebbi, Ahmed und dem Schiff und stürzen uns ins rührige und touristische Luxor. Hinweis: Diese Reise ... kostete ohne Trinkgelder inklusive Verpflegung LE 60,- pro Erwachsenen, LE 30,- pro Kind. Wir waren sieben Personen: 4 Erwachsene und 3 Kinder (5, 6, 12). ... Mitgenommen hatten wir warme Kleidung und Schlafsäcke, Spielzeug für die Kinder und diverse Getränke.
Zum Seitenbeginn
Schritte in dunkler Nacht
Nr. 56/88, pp. 8183 Tracy und ich waren per Anhalter zwischen Quseir und Marsa Alam unterwegs; am Roten Meer in Ägypten. Wir wollten zur Umm Rûs-Goldmine, Ausgangspunkt einer Wüstenwanderung Richtung Nil. Ein Fischer hatte uns mitgenommen und 50 Kilometer vor dem Ziel auf der holprigen Küstenstraße abgesetzt. Abenddämmerung. Weit und breit kein Fahrzeug. Dunkelheit brach herein. Die ersten Sterne flackerten am Himmel, durchdrangen den dünnen Dunstschleier, der sich über das Land gebreitet hatte. Himmel und Erde verschwammen allmählich ineinander. Finsternis. "Sollen wir uns nicht noch ein wenig die Füße vertreten, ehe wir hier auf dem Asphalt einschlafen?" Ich hatte auf Tracy's Frage gewartet. Schon schulterten wir unsere Rucksäcke und machten uns auf den Weg. Monotonie der Schritte. Tracy und ich: Jeder in Gedanken versunken, den Eindrücken des Dunkels und der Stille hingegeben. "Hörst Du das auch?", platzte Tracy in meine Träumereien, "Schritte, dicht hinter uns. Schon eine ganze Weile lang." Seltsame Sache. Wer mochte da so grußlos zu uns aufgeschlossen haben? Das war in diesen Breiten unter Wandersleuten nicht der Brauch. "Vielleicht haben die uns noch nicht bemerkt. Geben wir ihnen noch etwas Zeit", raunte ich zu meinen Kameraden und versuchte, mich von dem Schrecken zu erholen, der mir in die Glieder gefahren war. Wir liefen weiter als wäre nichts geschehen. Hin und wieder drehten wir uns im Gehen um und schauten angestrengt in die Finsternis. Doch zu sehen war nichts. "Was machen wir jetzt? Wir marschieren nun schon eine Viertelstunde, und die Typen bleiben hinter uns, genau auf Abstand." An Tracy's Feststellungen war nicht zu rütteln. Was tun? Der Weg zurück war abgeschnitten, und der nächste Militärposten, zu dem wir hätten flüchten können, lag 15 Kilometer voraus im Gelände. Uns einfach in die Büsche schlagen? Dazu fehlte es an Deckung. Und für einen längeren Sprint waren unsere Rucksäcke zu schwer. "Du, Tracy, wir müssen die dazu bewegen, das Versteckspiel aufzugeben.
Wenn wir eine ruhige Nacht verbringen wollen, sollten wir wissen, mit wem wir es
zu tun haben."
"Mann, ich halt' das nicht aus! Die laufen jetzt auch im Zeitlupentempo. Die wollen uns gar nicht einholen!", zischte Tracy nach einer Weile. Die Frage: Freund oder Feind? schien beantwortet. Unsere Gegner nutzten den Schutz der Dunkelheit, um uns zu verunsichern. Nur ihr Schuhwerk tönte durch die Stille; mit graueneinflößender Wirkung. Und was für Geräusche das waren! Kein zackiges Aufschlagen harter Sohlen auf dem Asphalt, sondern mehr sporadisches Schlurfen und Schaben, das von achtlos dahingeworfenen Schritten Kunde gab. Ihrer Überlegenheit völlig sicher, schienen die fünf oder sechs Gestalten hinter uns ganz und gar leger ihren Angriff vorzubereiten! "Tracy, das sind arme Leute, die uns da im Nacken hängen. Die haben Schibschibs an. Vielleicht ist das unsere Chance!" Schibschib, billige Plastikpantoffeln, in ganz Ägypten beliebt. So ähnlich, wie dieses Wort ausgesprochen wird, klangen die Geräusche hinter uns und zerschnitten die Stille. Scheeeb Scheb... Scheeeb Scheb.... Im Geiste sah ich ein Dutzend plastikbeschuhter derber, brauner Füße unter langen, wallenden Gewändern, die Enden der Plastik-Latschen mit jedem Schritt lässig über den Boden nachgezogen. Darüber aber, am anderen Ende der Galabejas, in Tücher und Turbane gemummte, scharf geschnittene und zu allem entschlossene Gesichter. Und mir fielen die Warnungen des Kairoer Militärs siedendheiß wieder ein: "Nehmt Euch in acht vor den Ababde, bettelarme, aber gefährliche Araber! Die heften sich an Eure Spuren und verfolgen Euch tagelang. Und wenn Ihr dann erschöpft seid, schlagen sie Euch mit ihren langen Krummknüppeln tot." Als plumpen Einschüchterungsversuch hatte ich das damals abgetan! "Was meinst Du mit Chance?", wisperte Tracy dicht neben mir.
"Die sind stehengeblieben. Siehst Du was?" Der Himmel hob sich fast
unmerklich von der schwachen, dunstverwischten Linie des Horizonts ab, doch so
angestrengt ich auch den fahlen Streifen dicht über dem Boden aufs Korn nahm,
ich konnte die Silhouetten unserer Verfolger nicht ausmachen.
Wir sprangen auf und rannten, was das Zeug hielt.
Morgendämmerung. Die ganze Nacht über hatten wir abwechselnd Wache geschoben. Tracy schlief neben mir, in voller Montur, rückwärts über seinen Rucksack gekippt. Farbloses Licht überzog die Wüste mit wachsener Blässe. "Kamele!" Im Feldstecherrund sah ich sie nicht weit von uns in einem flachen Wadi. Die schlurfenden Schritte, das Abstand halten..., mit einem Schlag alles geklärt! "Wir Idioten! Es waren Kamele!" Tracy hatte sich aufgerichtet.
Wenig später standen wir bei den Kamelen, schauten in ihre dunklen, tiefen Augen, die so voller Ruhe sind. Fladenbrot und getrocknete Datteln, fast unser ganzer Proviant verschwand in ihren Mäulern. Nach der Fütterung blieben sie in unserer Nähe, zupften hier und da an einem abgenagten Dornenbusch. Ein Gefühl der Begeisterung hatte uns ergriffen; umringt von stillen Tieren, in menschenleerer Weite! Wir verbrachten den ganzen Vormittag in dem steinigen Wadi. Bis die Kamele im Gewirr der Geröllbänke verschwanden. "Ich habe nur noch Käse und Trinkwasser. Damit können wir nicht auf Strecke gehen", sagte Tracy. Mit meinem Proviant stand es nicht besser, und so gaben wir unsere Wanderung auf, noch ehe sie richtig begonnen hatte, fuhren zurück nach Kairo. Dort trennten sich unsere Wege. Tracy flog nach Chicago. Er arbeitet in einer Luftfrachtfirma. Manchmal schickt er mir noch eine Ansichtskarte. Kurzurlaub in irgendeinem Teil der Welt. Ich blieb in Ägypten. Fasziniert von der Wüste, von ihrer Endlosigkeit und Stille, berauscht von ihren Nächten und vom Stillstand der Zeit. Das Erlebnis am Roten Meer, es hatte in mir etwas angestoßen, was nicht mehr verstummte. Ein Funke war übergesprungen und hatte ein Feuer entfacht. Bald darauf schloß ich mich einer Karawane an, zog mit großen Herden kreuz und quer durch den Sudan, lernte mit Kamelen umzugehen. Bis ich mich allein, mit eigenen Tieren, tief in die Wüste wagte. Auf der Suche nach Abenteuer und Nervenkitzel? Dafür ist in der Wüste selten Platz. Nein, auf der Suche nach dem Leben und nach den Grenzen des Daseins. Und die Kamele? Sie wurden zum Transportmittel meiner Träume.
Zum Seitenbeginn
Von Dakhla nach Farafra 112 Jahre "nachgewandert"
Nr. 11/85, pp. 2732 Ägypten. Gedränge im Niltal. Smalltalk in Tempeln und Palästen.
Verwirrspiel um Dynastien und Gottheiten. Faktenflut. Erschöpfung. Verfangen im
Labyrinth uralter Geschichten.
Ein Buch in meiner Hand. Gerhard Rohlfs: "Drei Monate in der Libyschen
Wüste." Gedruckt 1875 in Kassel. Das waren noch Zeiten. Rohlfs:
Hauptamtlicher Afrikaforscher des deutschen Reiches; großangelegte Streifzüge
über Sand und Geröll zwischen Nil und libyscher Grenze; Geld vom Sponsor. Da
stimmte die Ausrüstung. Feldbetten aus der Heimat, Zelte, Diener und Kamele.
Ein bißchen Orts- und Pflanzenbestimmung als Zeitvertreib. Und immer wieder die
Temperaturen gemessen. Langeweile kam so nicht auf, und die Angst war am Zügel.
Welchen Weg einschlagen? Bob und ich; wir entscheiden uns für die Strecke Dakhla Farafra. Ein Blick ins Buch. Rohlfs 1873 hin, 1874 zurück. Zweimal 190 km. Identische Reisebeschreibungen. Doppelte Sicherheit mehr als 110 Jahre danach. Ankunft in Qasr el Dakhla. Lehmziegelgesäumte Gassen menschenleer. Staub und Sand dämpfen den Tritt. Geborstenes Mauerwerk. Hitzegesprengte Ziegelornamente über Trümmerhaufen. Tauben nisten im Lehm der Hausgerippe. Ein Esel kreuzt unseren Weg. Das alte Minarett. Die Stufen hinauf. Unter uns die Stadt. Siesta permanente. Platt und still das Häusermeer. Keine Kamele, keine Karawanen. Weggeblasen ist die Aufbruchstimmung. Im Hitzeflimmer das schwarze Band der Western Desert Road. Neue Siedlungen in
der Wüste. Dort quillt Wasser aus der Tiefe; tränkt die Felder. Im Norden
schroffe Klippen. Träge schwappt die Mittagshitze gegen den Steilabfall. 250
Meter hoch. Irgendwo in der langen, zerklüfteten Felswand hatte Rohlfs den
Aufstieg geschafft. Runter vom Turm. Ein dunkles Loch im Mauerwerk. Licht. Ein
Mensch, ein Laden. Es gibt nicht viel. Wir kaufen Käse, Datteln und Brot. Dann
ein Hof, Schafe, Kinder, Frauen. Zehn Piaster Bakschisch. Trinkwasser. Auf
Köpfen balanciert. In Blechdosen. Wir verstauen es in den Rucksäcken.
Fünfzehn Liter pro Mann. Vorrat für vier Tage.
Nach einer halben Stunde die erste Verschnaufpause. Schultermassage. Blick
zurück. Schwarze Tupfer im Grau der Lehmziegelbauten. Noch einmal Abschied
nehmen.
Rohlfs hatte nicht weit von hier gelagert. Nach Unfällen und mühseliger Plackerei neue Kräfte gesammelt. Und diese Passage "Bab el Jasmund" getauft. Kartographen halten sich noch heute daran. Der Name, auf lateinisch und arabisch in die östliche Felswand geritzt. Wir finden die Inschrift nicht. Sonnenuntergang. Die Farben vibrieren. Transparente Luft verstärkt Kontraste. Töne und Nuancen im Wettstreit miteinander. Das Rotgelb der Sandfluten umspielt blaugraue Hügel, wogt gegen dunkles Violett der Felsgrate, erklimmt leuchtendes Weiß in den Flanken des Steilabfalls. Die Schatten wachsen, lassen die sandige Brandung von Minute zu Minute stärker anschwellen. Dann die Dämmerung. Schwindendes Licht. Konturen und Farben verblassen. Seidiger Schimmer glättet Wirbel und Kaskaden. Später das milchige Grauschwarz der Mondnacht. Kälte fällt vom Himmel. Handschuh über fröstelnden Fingern. Die Jacke zugeknöpft. Durch das Felsentor. Vor uns schlängelt sich der alte Pfad, folgt dem natürlichen Lauf des Geländes. An Hügelflanken entlang, durch dünengesäumte Täler, von Paß zu Paß. Bald darauf verliert sich die Piste im Gewirr bizarrer Kalkblöcke. Weit und breit keine Markierungen. Wir irren zwischen weißglimmenden Klötzen umher, tasten uns über das Dunkel der Schattenflächen. Das Felschaos will kein Ende nehmen.
Gegen 1 Uhr morgens ein Steinhaufen. Sandverwehte Spuren. Wir sind wieder auf der alten Trasse. Weitermarsch nach kurzem Schlaf. Der neue Tag bringt fühlbare Entlastung. Vier Kilo Nahrung und Trinkwasser sind verbraucht. Griff zum Wasserkanister, öfter als vorgesehen. Wasser im Körper drückt ja nicht auf die schmerzenden Schultern. Leichteres Gepäck gleich rascheres Vorwärtskommen. Trugschluß? Richtig gedacht? Dumpfe Angst vor Rechenfehlern. Rohlfs, von Farafra kommend, verlor bis hierher sechs Kamele. Haushalten mit dem Wasser. Oberstes Gebot. Am späten Vormittag passieren wir die letzten Felsklippen. Dahinter ein breites Schotterfeld. Nach ihm der Sand. Von einer Anhöhe aus erblicken wir endloses Dünengewirr. Grellgelbe Kessel, messerscharfe Rücken bis zum Horizont. Unser Pfad schwenkt ab. Auf eine breite, dunkle Schneise im riesenhaften Ozean. Schwarzblauer, stahlfarbener Schwefelkies zwischen hell-leuchtenden Dünenzügen.
Dunkler Glanz, durch gelbe Dünen auf beiden Seiten gehoben. Nur selten
schwappt ein heller Brecher über den platten Streifen und vermischt sich mit
dem rostig schillernden Untergrund.
Im Zwielicht zwischen Tag und Nacht laufen wir eine verlassene Start- und Landepiste entlang. Flugzeuge und Lastwagen haben helle Spuren in den schwarzen Kies gefräst. Als wären sie von gestern. Unweit zerbeulter Benzinkanister und verblichener Verpflegungspackungen ein Grabstein. Hier machen wir Pause, bereiten unser Abendessen. Am nächtlichen Sternenhimmel der helle Schimmer des Zodiaklichts. Immer wieder Blick hinauf in die lautlos strahlende Pracht.
Aufforderung zum Dinner. Wie gerne wären wir gefolgt. Ja, Rohlfs hatte es gut. Wüste, genommen in Herrenreitermanier. Fein. In Gedanken sehen wir üppig gedeckte Tafeln vor uns. Und träumend stellt die Phantasie aus der eintönigen Datteln Käse Brot Vesper gewagte kulinarische Kompositionen zusammen. Wasserkanister statt Champagnergläser. Wir prosten uns zu. Schwören, nach der Rückkehr in Kairo den Träumen vom köstlichen Essen die Taten folgen zu lassen. Einstweilen jedoch geschmackliche Abwechslung nur durch im Tagesverlauf schwankende Trinkwassertemperaturen. Gegen 23 Uhr Mondaufgang. Wir stapfen wieder durch die Stille. Bis nachlassende Kräfte die Nachtruhe erzwingen. Die ersten Sonnenstrahlen wärmen uns, als wir am Qur Zuqaq aus den
Schlafsäcken kriechen. Qur Zuqaq: Glashügel. Wir wundern uns. Was für ein
Name für diesen Kalkbuckel! Wie der Schlußstein in einem riesigen Mauerwerk
riegelt er das lange Tal ab, durch das wir während der Nacht gewandert waren.
In den Pausen Warten auf Bob. Um mich herum Stille. Herzklopfen. Blut rauscht in den Adern. Seit Dakhla laufen wir in diesem Vakuum. Weit und breit kein Zeichen von Vegetation. Die Stille preßt gegen das Ohr, zerfetzt kaltblütig das Gemüt. Wann endlich ein Geräusch? Die Sinne, in gespannter Erwartung auf diesen Augenblick gerichtet. Bob taucht auf. Flackernde Hitzewellen umzingeln seine Gestalt. Verwischte Grenzen zwischen Körper und Raum. Dann ist er bei mir, kippt mit dem Rucksack in den Sand. Neue Erfahrungen. Auf sich gestellt sein. Ohne Mätzchen. Er klagt nicht. Farafra rückt nicht von alleine näher. Wieder die Dünen entlang. Über grauen Kreidemergel. Weißes Licht verbrennt die Farben.
Rohlfs ausgeruht. Landschaft vom Kamelrücken gelassen verdaut. Irgendwo Übernachtung. Vor Sonnenaufgang sind wir wieder auf den Beinen.
Dunkeldrohende Wolkenstreifen am Himmel. Abwägen der Wasserreserven.
Trinkwasser, nur noch für eineinhalb Tage. Angst treibt uns voran. Gegen 9 Uhr
Wind. Grell-leuchtende Schleier. Sand driftet über die wellige Weite. Nur
keinen Sturm! Wir brauchen die Sicht. Dicht hintereinander hasten wir weiter.
Kurs Nord-Nordwest. Unruhe, Anspannung, Tücher über geplatzten Lippen. Taub
schlägt die Zunge gegen trockenen Gaumen.
Wir finden die Stelle. Das Wasserloch. Mit einem tonnenschweren Betondeckel
verschlossen. Wehe dem, der auf Bir Dikka die letzte Hoffnung setzt. Abgemattet.
Würgen an Käse und Datteln. Ab und zu ein wenig Wasser. Schal. Aus dem
Kanister. Über uns das Wiegen der Blattfächer. Äste reiben sich im Luftstrom.
Vergessen geglaubtes Rauschen. Die Hand gleitet über Palmzweige und
Blattprofile. Leben. Wir sind froh.
Am Morgen kreischende Raben. Verschlafen! Hastig packen wir zusammen. Nur noch wenige Schluck Wasser. Schritt für Schritt über loses Schottergestein. An den Gunna-Hügeln und an einem Palmgarten vorbei. Bob humpelt. Ein rosa Luftballon steigt vor uns in den Himmel. "Wie jeden Tag um diese Zeit," sagt der Oasenmetereologe. Händedruck. Wir sind am Ziel. Wenig später führt uns ein Soldat zur Quelle Ain el-Balad am Ostrand von Farafra, wo sich sprudelnde Wassermassen aus 200 m Tiefe in ein großes Betonbasin ergießen. Wir reißen die verschwitzten Klamotten vom Leib und springen hinein. Schwimmen inmitten der Wüste! Wir können es kaum fassen. Eben noch geizen mit den letzten Tropfen Trinkwasser und nun umspült vom prickelnden Naß! Labsal für die geschundenen Glieder. Erleichterung, Stolz auf das Vollbrachte. Rohlfs und seine Helfer waren später wieder von Farafra nach Dakhla gezogen. Wir denken nicht im Traum daran, es ihnen noch einmal gleichzutun. Das Buch G.Rohlfs', "Drei Monate in der Libyschen Wüste" von 1875 wurde im letzten Jahr (1984 Anm. KFN) wieder aufgelegt.
Zum Seitenbeginn
Von Kairo nach Abu Simbel
Teil 1 Nr. 3/87, pp. 4447 Wie Lawrence of Arabia die Wüste zu erforschen, alten Kamelrouten nachzureiten, ursprünglich wie die Beduinen zu leben das mag man sich wohl manchmal schon gewünscht haben. Mit Kamelen durch die Wüste. Ohne Reiseleitung, Animateur und Helfertroß. Möglich ist das in Ägypten. Zweihundert arabische Vokabeln, mäßiger finanzieller Einsatz, Zähigkeit und Selbstvertrauen genügen für ein Abenteuer wie zu Karl Mays Zeiten. Bob, Walter und ich. Drei Mann, ein Traum. Gemeinsam wollen wir von Oase zu Oase ziehen. Auf alten, längst verwaisten Wegen. Über hitzeflimmernde Geröllflächen. Durch Wadis und Gebirge. Eintauchen in die Stille und endlose Weite der Wüste. Für einen Monat oder zwei. Leben frei und ungebunden wie die Beduinen. Nachtflug Richtung Orient. An Schlaf ist nicht zu denken. Nur noch wenige Stunden. Dann wird aus Plänen Wirklichkeit. Falls alles wie am Schnürchen klappt. Unsere Hauptsorge: Auf Anhieb brauchbare Kamele für das Vorhaben finden. Tagelanges Palaver, wortreiche Vertröstungen, zum Abwarten und Teetrinken verurteilt sein darauf sind wir nicht eingestellt. Im Morgengrauen Landung in Kairo. Hundemüde. Ausruhen? Verweilen? Langsames Heimischwerden in der arabischen Welt? Wir wollen sofort ans Werk! Das Gepäck bleibt im Hotel. Ein Taxi bringt uns zum Kamelmarkt im Stadtteil Imbaba. Der Markt quillt über vor Kamelen. Anfang Oktober. Hauptsaison für Schlachtviehkarawanen aus dem Sudan. Die meisten Tiere bieten einen erbärmlichen Anblick. Ausgemergelt und erschöpft vom langen Marsch, zu trostlosen Pulks zusammengepfercht, umstellt und abtaxiert von Routiniers in wallenden Gewändern, harren sie dumpf und teilnahmslos auf ihr Schicksal. Nur gelegentlich kommt Bewegung in die Herden. Wenn aufgekauftes Vieh für den Gang zur Schlachtbank abgesondert wird. Dann ertönen die Rufe der Treiber. Und das harte Klatschen ihrer Knüppel schreckt die Tiere aus der Lethargie. Staub wirbelt auf, vermischt sich mit den Rauchschwaden abseits schwelender, benzinübergossener Kadaver, legt sich wie ein Leichentuch über das Gewühl und das Gewoge der todgeweihten Leiber. Die beschwerliche Reise vom Südrand der Sahara fordert bis zuletzt einen hohen Tribut. Wir suchen den ganzen Vormittag nach geeigneten Lastkamelen, drehen Runde um Runde auf dem überfüllten Markt. Vieles will bedacht sein, und das richtige Tier für den Metzger ist noch lange nicht unsere erste Wahl. Als einziger im Trio mit Karawanenerfahrung achte ich besonders auf makellose Fußballen, intakte Brustschwielen, Räudebefall und Satteldruckstellen. Erst am zweiten Tag haben wir Glück. In einer neu eingetroffenen Herde entdecken wir drei Bullen, die den Gewaltmarsch durch die Wüste ohne nennenswerte Schäden überstanden haben. Musa Abu Al Kasim, Kamelhändler und Besitzer der Herde, macht nicht viel Aufhebens um unsere Kaufabsichten, verzichtet sogar auf das landesübliche Feilschen. "Je siebenhundert Pfund für die beiden Großen, vierhundertfünfzig für den Kleinen. Das ist der Schlachtpreis", sagt er beiläufig und gibt uns Zeit, in den Umsatztabellen des Marktaufsehers zu blättern. Der Preis stimmt. Wir zögern nicht lange, kaufen die Tiere und von den sudanesischen Kameltreibern noch Packsättel dazu. Wohin mit den Kamelen? Auf dem Markt können wir nicht bleiben und ein Hotel, das die kleine Karawane aufnehmen würde, gibt es in Kairo nicht. Sollen wir außerhalb der Stadt am Rande der Wüste kampieren und dort unsere Vorbereitungen für den Abmarsch treffen? Warum noch überlegen. Es bleibt ja keine andere Wahl. Wir verlassen den Markt und bahnen uns mitsamt den strohbeladenen Vierbeinern einen Weg durch den tosenden Verkehr hinaus nach Giza. Einen Steinwurf von den Pyramiden entfernt finden wir Quartier. Um uns die monumentalen Zeugen einer jahrtausendealten Kultur. Welch ein geschichtsträchtiger Ort als Ausgangspunkt für die bevorstehende Wanderung! So wie wir heute, mögen zu Zeiten der großen Kameltrecks ungezählte Karawanen im Schatten der gigantischen Grabmäler gelagert haben, ehe sie zur Durchquerung der Libyschen Wüste aufbrachen. Und während unsere Kamele geräuschvoll Zuckerrohr, Stroh und getrocknete Bohnen zermalmen, gleitet das Auge über die himmelhoch getürmten Steinblöcke, bis es sich im würfeligen Schichtgefüge der kolossalen Bauten verliert; schweift schließlich über dunstblasses Grün der Nilgärten und tastet an gelbgleißenden Sand- und Schotterwällen entlang, die gleich neben den Pyramiden den Auftakt zur Wüste bilden. Die Wüste. Ihre Leere übt einen eigentümlichen Sog aus, drängt mich beständig, nach fernen Horizonten zu greifen. Ich könnte sofort loslaufen, hineinstürmen in dieses Vakuum. Geht es meinen Begleitern ebenso? Wir arbeiten wie die Teufel, um endlich startklar zu werden. Zeit bleibt da nicht, um Eindrücke und Stimmungen in Worte zu fassen. Drei Tage vergehen, bis Proviant beschafft, Sattelkissen genäht, Sättel und Satteltaschen angepaßt sind. Dann ist es soweit. Spätnachmittag, Aufbruchzeit der Lastkarawanen seit altersher. Im Licht der untergehenden Sonne mischen wir uns mit den Tieren unter die wenigen verbliebenen Touristen und laufen eine Ehrenrunde um die Pyramiden, ehe wir mit einsetzender Dunkelheit in die Wüste entschwinden. Jetzt endlich fühlen wir uns frei und können aufatmen. Lärm und Gedränge des Niltals sind vergessen. Unser Beduinenleben hat begonnen. Anfangs bietet die Landschaft wenig Abwechslung. Steinübersäte Flächen, welliges Hügelland bis zum Horizont. Dazwischen vereinzelte Sandfahnen. Auf ihnen schreiten wir entlang, wann immer möglich zur Entlastung der schwerbepackten Kamele. Sie schleppen 450 kg Gepäck. An Reiten ist da nicht zu denken. Unser Ziel: Birket Qarun, der antike See Möris in der Fayoum-Senke. Achtzig Kilometer Luftlinie von Kairo entfernt, vierundvierzig Meter unter dem Meeresspiegel, von Nilwasser gespeist. Einen Karawanenweg dorthin gibt es nicht. Und auch keinen Schatten. Die Sonne, sie brennt stärker als erwartet. An zehn Uhr wickeln wir uns in unsere Tücher. Nur gut, daß wir für die Wanderung Kleider in Landestracht tragen. Turban und Galabiya lassen genügend Luft an die schweißnassen Körper und schützen zugleich vor den sengenden Strahlen. Unser Wasserkonsum: Satte sechs Liter pro Mann und Tag. Kein einziger Tropfen davon für die Körperpflege. Die glühende Hitze macht uns arg zu schaffen. Ärger als befürchtet. Hätten wir uns länger akklimatisieren sollen, ehe wir uns solchen Strapazen aussetzen? Wären wir doch bald am See! Schwimmen im kühlen Naß, von mehr träumen wir nicht. Wir stampfen Schritt für Schritt über das sonnengleißende Terrain, bis mit einem Male eine steilabfallende Geländestufe uns den Weg versperrt. Grandioser Blick auf das unter uns liegende Land. Blauschimmernd der See in der Ferne. Davor breite Terrassen, dunkelfarbene Plateaus, wild ineinandergeschobene Hügelreihen. Nach Osten hin einige Tafelberge, umströmt von breiten, buschbesetzten Wadis. "Das ist ja das gähnende Nichts!" Walter hat neben mir gleichgezogen und starrt mit weitaufgerissenem Mund in die Tiefe. Enttäuschte Erwartungen. Hat er sich die Wüste anders vorgestellt? Seine Vorbereitungen: Walt Disney's "Die Wüste lebt" und David Lean's "Lawrence von Arabien" einmal pro Woche. Mentales Training mittels Videokassette im heimatlichen Köln; Fertigkost aus Hollywood, zu schwach gewürzt, um auf Dauer zur Stärkung des Durchhaltewillens geeignet zu sein. "Du bist hier nicht in Disneyland", sagt Bob mit leichtem Stirnrunzeln und sucht nach einem Abstieg von der Klippe. Er muß es wissen, er kommt aus Amerika. Walter fällt zurück. Der dritte Wandertag! Wächst ihm die Wüste über den Kopf? Wir laden das leichter gewordene Gepäck um und setzen ihn auf ein Kamel. Zur Aufmunterung. Die hält nicht lange vor, denn auch das Reiten will gelernt sein. Der direkte Weg zum See ist zu gefährlich. Tückische Sümpfe begrenzen sein Nordufer. Darin wollen wir nicht mit Mann und Kamel versinken. Also nach Westen; durch das Auf und Ab der Felsplateaus. Zwei Tage verrennen wir uns in den Bergen ohne nennenswertes Vorwärtskommen. Das ständige Klettern ermüdet die Tiere. Mitten in einem Steilhang rutscht ein Tier aus, verliert das Gleichgewicht und stürzt. Gottseidank kann es sich an der Schräge halten. Keine Verletzungen, keine Verluste. Klüger geworden ziehen wir hinunter in die öden Niederungen am Seeufer, tasten uns über sandige Flächen an weitläufigen, schollenartig zerklüfteten Krustenbereichen entlang. Die berüchtigte Sebchah salzige Schlammsümpfe, in ziemlicher Entfernung vom Wasser noch metertief. Keine Spuren vor uns, die den Weg durch dieses Gelände weisen könnten.
Hoffentlich trägt der Grund. Ich gehe als Erster, stochere mit einem Ast im
Boden und halte nach verdächtigen Zeichen Ausschau. Plötzlich ein Ruck an der
Leine. Ich drehe mich um und sehe das Tier wie eine Marmorstatue senkrecht in
den Boden sinken. Der Bulle, starr vor Schreck, zuckt nicht einmal mit den
Wimpern!
Nach fünf Stunden ist die Rettungsaktion geglückt. Verdreckt und abgemattet
liegen wir uns in den Armen. Walter stöhnt: "Meine Hände! Mir reicht's
ich will nach Hause!"
Sandsturm auf den letzten Metern. Seit dem frühen Morgen staubverhangener Himmel, trübes Licht. Sand und Unrat wirbeln durch die Gassen. Walter kann es kaum erwarten wegzukommen. Endlich die Erlösung! Es ist noch Platz für ihn im Bus. Abschied in aller Kürze. Er denkt nur noch an die Heimat; an Dusche, Bier und Currywurst.
Zum Seitenbeginn
Teil 2 Nr. 4/87, pp. 6061 Bob und ich sind umringt von staunenden Gesichtern, beantworten pausenlos dieselben Fragen. Woher? Wohin? Wie teuer? Kamera, Uhr, Kamel... Nichts bleibt untaxiert. Wir freuen uns, nach Tagen der Einsamkeit wieder unter Menschen zu sein. Hilfsbereite Hände schleppen Futter für die Tiere, Proviant und Trinkwasser herbei. Doch der Sturm läßt uns nicht heimisch werden, zerrt unaufhörlich an den Kleidern, bläst uns den Staub in die Gesichter. Nur weg von hier! Wir wollen raus aus der Stadt; zu den Ruinenfeldern des antiken Dionysias, äußerster Vorposten der römischen Provinz und Ausgangspunkt einer 2000 Jahre alten Karawanenstraße. Sie führt zur Bahariya-Oase, zweihundert Kilometer weiter im Westen. Inmitten der Trümmerhaufen ein gut erhaltener Tempel. Spätptolemäisches Gemäuer aus hartem Kalkstein; zwanzig mal siebenundzwanzig Meter, zehn Meter hoch. Hier ist genügend Windschutz. Und Polizei, die uns den Weg in die Wüste versperren will. Nach längerem Katz-und-Maus-Spiel gelingt es, uns im Schutze der Dunkelheit aus dem Staub zu machen. In diesem Moment nach der alten Straße Ausschau halten? Dazu fehlen Sicht und Nerven. So stapfen wir zwei Tage über wegloses Ödland, ehe die von Kamelen- und Menschen getretenen, gewundenen Bänder der Karawanenstraße vor uns liegen. Es mögen etwa zweihundert schmale Furchen sein, die sich in die wenigen Kies- und Schotterflächen eingedrückt haben. Langsam verblassende Zeugen des einst umfangreichen Handels zwischen Niltal und den Oasen der libyschen Wüste. Kein Kameldung, keine frischen Spuren. Seit dem Bau der Western Desert Road wird der antike Weg nur noch selten von Beduinen begangen. Wir folgen dem sich in südwestlicher Richtung dahinschlängelnden Pfad. Er führt durch flaches, monotones Terrain. Tag für Tag über Schotter, Sand und platten Fels. Selten eine markante Erhebung. Nur gelegentlich überspülen grellgelbe Dünenfelder die Trasse und zwingen uns zu mühevollem Auf und Ab. Wenn der starke Nordost nur nicht wäre! Er pfeift uns schon seit dem Fayoum um die Ohren, schaufelt Kälte aus dem Kaukasus heran. Eisiger Wind und sengendes Licht. Grippewetter. Schweiß auf der Sonnenseite; Gänsehaut dort, wo der Wind uns kalt erwischt. Bald husten und spucken wir um die Wette. Während der Nacht flaut der Wind nicht ab, fegt über das deckungslose Gelände. Das Lager, am Morgen zugeweht vom Sand. Verklebte Augen, staubgraue Haare, Sand in Nase, Mund und Ohren. Schweigend machen wir uns auf den Weg. In den Mittagspausen hocken wir um den Kocher, bereiten unsere Standardkost:
Ölsardinen, Reis und Zwiebeln. Dazu ein Glas Pulvermilch mit viel Zucker. Beim
Anblick dieser Leckerbissen schlägt die Phantasie so manchen Purzelbaum.
Allein! Was nun? Ein Beduine bietet sich als Führer an und fordert dafür ein Vermögen. Ich bin müde, sehne mich nach einem Bett. Erst einmal richtig ausspannen und neue Kräfte sammeln. Casino Alpenblick, das einzige Ausländerhotel der Oase. Sallah Sherif, sein
Besitzer, empfängt mich mit offenen Armen.
Abends Treff im "Nite Club". Lehmboden, wackelige Holztische, Bänke vor zernarbten Wänden. Eine verstaubte Glühbirne baumelt von der Decke; trübes Licht im hohen Raum. Aus dem Radio die Rufe des Mueddin. Danach religiöse Musik bis Mitternacht; leise Gesänge untermalen das Gemurmel. Sallah ist ganz in seinem Element. Aus einem dampfenden Topf die Mahlzeit. Röhrennudeln mit Tomatenmark. Wie jeden Abend. Fünfunddreißig Piaster kostet der Spaß. Nur die Touristen essen. Ein paar Männer aus dem Ort erzählen Anekdoten; der fremden Frauen wegen. Bald kreist die Pfeife in der Runde, würzt die Luft im dämmrigen Lokal. Olivfarbene Uniformen in einer Ecke. Zwei Polizisten. Schläfriges Blinzeln unter abgewetzten Mützen. Sie nehmen keinen Anstoß. Die Pfeife trudelt, tanzt von Hand zu Hand. Blicke in die Ferne. Monte Rosa, Eiger, Matterhorn. Für manche gehen sie jetzt auf. Heiße Köpfe, enge Schläfen. Warten. Wann, das Alpenglühen? Zwei Tage! Länger halte ich es im Hotel nicht aus. Diese Typen, jung und doch schon müde Krieger. Sie lassen sich im Omnibus durch die Wüste kutschieren, als wären sie auf einer Kaffeefahrt. Und verbrauchen sich durch träges Warten. Niemand, der aus diesem Kreis ausbricht. Vom Beduinen, der mit mir gehen wollte, bisher keine Spur. So ziehe ich alleine los. Die Kamele hören mittlerweile auf ihre Namen. Getauft hatte ich sie in Kairo. Den großen Braunen: "Hassan", den Weißen: "Fiffi" und den preiswerten Mageren ohne Höcker: "Bakschisch". Rufe ich einen der Drei, so dreht der bedächtig seinen Kopf zu mir und trottet auf mich zu. Manchmal nur ein paar Schritte. Kleines Entgegenkommen, große Hilfe. Das Hüten meiner "Herde" ist dadurch leicht gemacht. Keine stundenlange Verfolgung eigenwilliger Ausreißer; genügend Zeit für Navigation, Reparaturen und Vorwärtskommen.
Zum Seitenbeginn
|
Teil 3 Nr. 56/87, pp. 6065 Richtung Farafra. Wir wandern weitab von der Asphaltpiste. Manchmal reite
ich. Bis scharfkantiger Kalkstein am Rande der Weißen Wüste höchste
Konzentration erfordert. Meilenweit weißbläuliche, messerscharfe Schollen.
Hassan humpelt. Wundgelaufener linker Vorderfuß. Zum Glück ist es vorne. Wir
halten auf einen Hügel mit Palmgebüsch zu. Die Quelle Ain el Wadi. Wasser!
Genügend Zeit, den Bullen zu besohlen. Aus einem Lederstück schneide ich einen
Riemen und einen passenden Flecken zur Abdeckung der Wunde. Die Kniefesseln
werden angelegt, der Kopf mit Hilfe einer an zwei Büschen festgezurrten Leine
fixiert, damit das Tier während der Arbeit unter Kontrolle bleibt. Mit einem
selbstgefertigten Stecheisen durchstoße ich mehrmals flach die Laufsohle um die
wunde Stelle herum, ziehe dann durch die Löcher den Riemen und verknote den
Lederflecken. Hassan läßt die Operation ohne Protest über sich ergehen. Nach
einer dreiviertel Stunde ist es soweit.
Die Weiße Wüste: Hundert Meter hohe Klippen aus reinem Kalk, Felslabyrinthe, grell-leuchtende Tafelberge und bizarre Monolithen unter blauem Himmel. Dazwischen flache Senken mit spärlichem Bewuchs. Überall Weidewege, frische Spuren. Beduinen sehe ich nicht. Einen halben Tagesritt weiter südlich, vor hohen, senkrecht aufsteigenden Felsen, ein künstlicher See. Überschüssiges Wasser aus einem neuen Bewässerungsprojekt. Anbaumethoden wie am Nil. Kostbares Naß wird so verplempert. Trotzdem, ein schöner Anblick mitten in der Wüste. Und genügend Futter für die Tiere. In Sichtweite von Qasr Farafra rutscht Bakschisch auf schlüpfrigem Lehm aus.
Spagat, Muskelzerrung. Ein Hinterbein schwillt dick an; als würde es mit Wasser
aufgefüllt.
Viel Zeit geht auf der Suche nach einer Karawanenstraße verloren. Schließlich finde ich bei Ain Tinin eine vielspurige Trasse, die anfangs über sanfte Schotterwellen und später durch tiefe, mit Agul (Alhagi manniferum) bewachsene Felsschluchten führt. Endlich ein Hochplateau. Der Pfad ist kaum noch zu erkennen. Statt dessen Überreste jungsteinzeitlicher Siedlungen. Unvermittelt der Südrand des Plateaus. Dreihundert Meter fällt hier die Klippe jäh bergab. Zu steil, um mit den Tieren den Abstieg zu wagen. Tief unten ein großes Bewässerungsgebiet, gespeist aus künstlich angelegten Brunnen. Kanäle durchziehen das Areal im Schachbrettmuster. Kleine Seen und überflutete Felder. Getrübte Fernsicht. Wolkenbildung über dem begrünten Land. Wir folgen dem Verlauf der Klippe, finden einen Talweg, der sich in die Ebene nach Qasr Dakhla schlängelt. Am Ostrand eine schmale Wasserrinne. Neun Tage seit dem letzten Brunnen. Windstille und drückende Hitze während dieser Zeit. Die Kamele saufen wie die Löcher. Wir rücken ein in die Stadt. Ungläubiges Staunen. Nur Wenige wagen sich mit Fragen heran. Mehr und mehr vermummte Gestalten versammeln sich auf den Straßen mit alten Repetiergewehren über den Schultern. Die Bürgermiliz. Kaum zu glauben! Die denken, ich käme aus Libyen! Man führt mich zur Polizeistation, prüft meine Reisedokumente. Stundenlange Telefonate. Gegen Abend darf ich weiterziehen; nach Mut, dem Verwaltungszentrum der Oase. Der Polizeichef der Provinz will mich sehen. "As'salama aleikum." Ein Soldat salutiert mit lautem Hackenschlag und lacht mich fröhlich an. Verschmutzt und verlaust trete ich vor einen großen Schreibtisch. Dahinter ein enttäuschtes Gesicht. Was hatte der gepflegte Herr in Uniform erwartet? Einen Bud-Spencer-Typ; einen blonden Bezwinger der Wüste im Safari-Look? Zerplatzte Träume, Ernüchterung; ich lese es in seinem Gesicht. Mich entschuldigen, daß ich keine gebügelten Hemden, kein Mundwasser und auch kein Deodorant im Ranzen mit mir führe? Kommt nicht in Frage! Soll er mich so nehmen, wie ich bin. Nicht anders als die Söhne der Wüste will ich behandelt werden. Man läßt mich weiterziehen. Anderthalb Monate bin ich nun schon unterwegs. Die Zeit? Sie spielt keine Rolle mehr. Abu Simbel noch in weiter Ferne. Davor El Kharga, die letzte der großen Oasen. Ich wähle den direkten Weg zu ihrer Südspitze. Zweihundertzwanzig Kilometer ohne Pfad. Flaches Ödland, windstill. Ende November, große Hitze. Das Thermometer klettert auf 36°C im Schatten. Jeden Tag. Luftspiegelungen um uns herum. überall blaßblaue Seen und helle Streifen. Als wolle sich der Himmel in das Land ergießen. Nur die durstigen Tiere fallen darauf herein. Wollen ab vom Kurs, hin zu den imaginären Wasserstellen. Erst die Peitsche bringt sie wieder zur Vernunft. Ankunft in Qasr Dush. Die Kamele sind erschöpft. Rast. Stroh und Hafer. Das macht sie wieder fit. Ein Mann lädt mich zum Essen ein; vor seiner Haustür. Wir sitzen im Staub bei Fladenbrot und Spiegelei. Lauschen. Geschichten aus betagtem Munde. Von den großen Trecks in den Sudan. Die Salzkarawanen, von hier aus ziehen sie heute noch. Hunderte von Kamelen, schwerbepackt auf dem berühmten Pfad: "Darb el Arba'in", die Straße der vierzig Tage. Früher trieb man Sklaven aus Schwarzafrika auf ihr entlang. Zu Fuß, in Ketten, Handelsgüter balancierend auf den Köpfen. Nur die Starken kamen durch. Warten auf kühlen Wind aus Norden. Für die letzte Etappe bis Abu Simbel. Dreihundertzehn Kilometer, die Hälfte davon über steinige Felsplateaus. Wege, schon lange nicht mehr begangen. Drei Brunnen auf der Strecke. Meine Karten stammen aus dem Zweiten Weltkrieg. Bis heute kann sich viel geändert haben. Ich vertreibe mir die Zeit, besichtige das antike Kysis außerhalb der Oase. Ein großer Tempel, errichtet um Christi Geburt. Einsam in der Wüste auf einem Hügel. Ringsum Sand- und Schotterfelder. Einige grüne Flecken in der Ferne. Dahinter, halbkreisförmig, endlose Klippen. Das Plateau, das ich erklimmen muß. Unterhalb der alten Mauern ein kleines Dorf aus weißen Zelten. Französische Archäologen. Reise in die Vergangenheit. Krüge, Scherben, Gräber. Hieroglyphen in versiegelten Gefäßen, an Ort und Stelle dechiffriert. Man lädt mich ein. Geballter Sachverstand versammelt sich an weißgedeckter Mittagstafel. Kühl und kultiviert die Konversation. Gepflegte Kleidung, dezentes Make-Up bei den Damen. Das Dinner, vom grobschlächtigen ägyptischen Personal unbeholfen serviert. Stil und feine Lebensart. Täglich. Unverkrampft die Treue gehalten. Ich komme gerne wieder. Nach Tagen endlich Wind. Vollmond. Aufbruch mitten in der Nacht. Durch verbotenes Terrain. Nur keine schlafenden Hunde wecken! Bir Nakheila. Der erste Brunnen; versandet, grasbewachsen. Windzerzauste Palmen in bleigrauem Nebel. Sand driftet über die wellige Weite. Nur keine Panik. Erst zwei Tage unterwegs. Noch genügend Wasser in den Kanistern. Ich schneide in aller Ruhe Futter für später und lagere im Windschutz des Palmgebüschs. Immer wieder Blick hinauf in die rauschenden Kronen. Da! Was ist das? Trauben voller Datteln keine vier Meter über mir! Reife Früchte im wildschwankenden Grün; luftgetrocknet in der Sonne, weich und zuckersüß. Fast hätte ich sie übersehen. Es ist das erste Mal, daß mir die Wüste Nahrung gibt. Dunqul-Nord, der Brunnen Nummer zwei. In einem trostlosen Wadi gelegen. Ich erreiche ihn drei Tage später. Karteneintrag von 1944: "Ergiebiges Brackwasservorkommen". Ausgetrocknet! Das darf nicht wahr sein! Ich brauche dringend Wasser. Nicht für mich, für die Kamele. Seit sie nicht mehr so bei Kräften sind, werden sie schneller durstig. Noch eine letzte Chance: Dunqul-Süd. Nur fünf Kilometer weiter. Zwanzig Gallonen pro Stunde soll der Brunnen liefern. Zwei Stunden. Ungewißheit zerrt an meinen Nerven. Endlich die Oase! Auf halber Höhe eines Berges drei Palmengruppen, zwei Akazien, Agul und Binsengras. Ein kleines Paradies mit imposanter Fernsicht Richtung Süd. Der Brunnenschacht leer! Nicht zu fassen. Ich klettere hinab und durchwühle den staubigen Grund. Es bleibt dabei. Bin ich am Ende? Noch hundertachtzig Kilometer bis zum Assuan-Stausee. Kurz
davor die neue Asphaltstraße vom Nil nach Abu Simbel. Ballast abwerfen?
Eilmarsch bis zur Straße mit vermindertem Gepäck? Wie gelähmt starre ich auf
die unter mir liegende, endlose Fläche. In der Ferne zwei Berge. Genau auf
Kurs. Selbst ein Blinder könnte sich nicht mehr verlaufen. Aber: Würden die
entkräfteten Tiere durchhalten? Das ist die Frage.
Erst kurz vor dem Abmarsch tränke ich die Tiere. Die ganze gesammelte Menge
auf einmal. Natürlich ist das nicht genug. Hassan und Fiffi schauen mich mit
großen Augen an und schnuppern an dem leeren Eimer.
Das Gelände ist flach wie eine Kuchenplatte. Dann der See. Noch fünfundzwanzig Kilometer bis Abu Simbel. Während die Tiere saufen, überlege ich: Zu den Tempeln den weglosen Uferbereich oder die Karawanenstraße entlang? Im Schlamm noch einmal versacken, so kurz vor dem Ziel? Wir gehen zurück zum Pfad. Schon aus der Ferne sehe ich die Herden. Peitschenschwingende Männer in wehenden Tüchern. Mehrere hundert Kamele. Welch ein Anblick! Herzschlag; bis in den Hals. Aufgewühlte Erinnerungen. An meine Zeit als Kameltreiber. Vier Jahre zuvor war ich in solch einer Karawane mitgeritten. Von Kordofan bis Abu Simbel. Dreiunddreißig Tage Entbehrungen, elende Plackerei. Und doch die Erfüllung eines Traumes. Damals. Ich muß die Männer aus der Nähe sehen! Vielleicht ist ein Bekannter unter ihnen. Ich schwinge mich auf Hassan und reite auf das Ende des Pulks zu. Die Karawane stoppt. Die Blicke der Männer sind erwartungsvoll auf mich
gerichtet. Jemand singt. Kameltreiberlieder Zerstreuung von der schweren
Arbeit, Ablenkung von der Monotonie der Wüste. Oft ein und dieselbe Melodie
während der langen Reise.
Und um Preise für erträumte Gegenstände. Kein Wunder bei den Hungerlöhnen. Ein einfacher Kameltreiber bekommt DM 400 vom Händler, der Karawanenführer das Doppelte. Die Kosten der Heimfahrt? Aus eigener Tasche. Nur fürs Essen kommt der Händler auf. Chayreddein sitzt neben mir. Er schnitzt Holzknebel mit seinem Dolch. Für neue Kniefesseln. Frohgelaunt. Oft huscht ein Lächeln über sein tiefschwarzes Gesicht. Ein anderer in der Runde flechtet Schlingen aus dünnen Hanfsträngen und dreht Seile, ihre Enden mit den Zehen haltend. Aswad, der Führer, zurrt seinen ausgeleierten Sattel mit einer neuen Verspannung aus Plastikschnüren zurecht. Die Zeit des Gebets. Rituelle Waschungen. Leere Zuckersäcke als Teppiche. Tiefe Verbeugungen und frommes Gemurmel gen Osten. Zehn Zeilen aus dem Koran, ständig wiederholt. Dann die Dunkelheit. Während der Koch mit einem Ast im dampfenden Hirsebrei und im brutzelnden Kamelfleisch rührt, rücken wir näher an das Feuer. Kamele versammeln sich ums Lager und legen sich geräuschvoll zur Ruhe. Manche wollen dicht an die Flammen. Wir drängen sie zurück auf die Ränge, die billigen Plätze. Halb über unseren Köpfen bald dumpfes Gurgeln, rauhes Mahlen. Magensaft und halbverdautes Futter quellen aus der Tiefe der Tierleiber in die halbgeöffneten Mäuler und werden noch einmal grünlich durchgekaut. Flackernder Feuerschein auf den hin- und hermahlenden Kiefern. Weich leuchten dunkle Mandelaugen unter hohen, wilden Brauen. Matt schimmernde, gelbliche Zähne. Darüber die durch Hasenscharten gespaltenen, bärtigen Oberlippen. Spiel von Licht und Schatten auf bewegten Tierschädeln. Als wären die Kamele an unseren Gesprächen beteiligt. Fragen Antworten. Sinnestäuschung, Traum? Stimmung wie zur Geisterstunde. Das Essen. Wir hocken im Kreis um eine Schüssel. "Kissera" Hirsebrei mit Soße. Dazu das Fleisch. Greifen und Kneten mit der rechten Hand. Anschließend süßer Tee. Es ist schon nach Mitternacht. Blick hinauf in den strahlenden Sternenhimmel. Irgendwann schlafe ich ein. Halb fünf in der Früh das Morgengebet. Eine halbe Stunde später Frühstück. Hirsebrei mit Soße. Über Nacht hat eine Kamelstute ein Fohlen geworfen. Ein schönes kräftiges Tier. "Wir nehmen es mal mit", sagt Chayreddein und verstaut es in einem Packtuch an seinem Sattel. Gewöhnlich werden Kamelbabies den Geiern überlassen. Zu schwach für den langen Marsch. Zuviel Schmutz und Arbeit für die Männer. "Du kommst doch noch mit uns bis zur Mittagspause?", fragt Aswad. Ich kann nicht widerstehen. Zungenschnalzen. "Ho, ho, ha ho, ho, ha...", Rufe der Treiber. Die Karawane setzt sich in Bewegung. Wir reiten hinaus in die offene Wüste. Um mich herum hundertfaches, gedämpftes Schaben und Schleifen. Laufgeräusche. Sandiger Grund. Kamel auf leisen, elastischen Sohlen. Mittagsrast. Wind fegt heran. Weiße Sandschleier umwirbeln die Herden. Kein Futter. Die Männer besohlen lahmgelaufene Tiere. Für die Hinterfußreparatur sind zwei Leute erforderlich. Das gefesselte Tier muß auf die Seite geworfen werden. Nur so gelangt man an die Hinterfüße. Während der gefahrvollen Arbeit machen brünstige Bullen Jagd auf Stuten. Im Galopp donnern sie über den Wüstenboden und versuchen, die Kühe mit den Schultern niederzudrücken. Oft geben sich die Verfolgten rasch geschlagen und setzen sich hin. Die Bullen besteigen sie sofort. Nachwuchs wird das wohl nicht mehr geben. Die Schlachthöfe sind nur noch wenige Tagesreisen entfernt. Abschiedsmahl. Wieder Hirsebrei mit Soße, die Standardkost der
Sudankarawanen. Ich verteile Ölsardinen und Milchpulver für den Tee.
Nach Abu Simbel! Vier Tage lasse ich mir Zeit für diese kurze Strecke. Viele Pausen in der Nähe des Sees. Das Futter für Hauwihja? Milchpulver und Zucker, in Wasser gelöst; mit einer abgeköpften 5 cm³ Einwegspritze verabreicht. Schon nach der ersten Fütterung folgt mir die Kleine wie ein Hund. Abu Simbel ist erreicht. In aller Frühe die letzten Meter zu den Tempeln. Zusammen mit den Kamelen. Auf der Hut vor den Tempelwächtern. Gruppenbild vor den berühmten Fassaden! Wie oft hatte ich davon während der Wanderung geträumt! Doch zweieinhalb Monate und 1.350 erlebnisreiche Kilometer relativieren das Ergebnis. Der Weg, er hat mir mehr bedeutet als das Ziel.
Zum Seitenbeginn
Mit Kamelen in die Wüste Portrait eines Kölners: Dr. Carlo Bergmann
Nr. 12/91, pp. 110115 Einer, der mit Kamelen in die Wüste zieht, raus aus der Zivilisation, raus aus der Sterilität der Städte. Wer denkt da nicht an Freiheit, an Weite, wen packt nicht die Sehnsucht nach Erfüllung heimlich gehegter Träume, wer wollte da nicht mit? Kamelmarkt im Kairoer Stadtteil Imbaba. Wir kommen zu spät. Die Erregung ist
vorüber, die jeden Kauf begleitet, solange Blicke hin und her gehen und auf ein
Wort des Einverständnisses gewartet wird. In entspannter Stimmung stehen die
Händler mit ihren Treibern zusammen; bereden das Geschehene. Abenteuerliche
Gestalten sind besonders die Männer aus dem Sudan. Unter den gewundenen
Schlingen des weißen Turbans wirken die schon sehr afrikanischen Gesichter noch
dunkler. Um den Hals, das Ende kühn über die Schulter geworfen, der
unvermeidliche Schal und am Oberarm, im langen Ärmel der Galabeya,
Handwerkszeug und Waffe zugleich, das Messer.
Sie nennen den Fremden 'Abu Gamal', Vater der Kamele. Das klingt nach Respekt für den Europäer, für einen, der sich auskennt. Wird in Kairo auch vornehmlich Schlachtvieh angeboten, sieht er sich dennoch nach 'Brauchbarem' um "wenn ich ein gutes Tier entdecke, kaufe ich es" , unterscheidet das zottige, hochgebaute Bergkamel vom Kamel aus dem Niltal und dieses wiederum von den langrahmigen Sudankamelen. Er prüft Brustschwiele und Zustand der Füße; der Höcker darf nicht zu groß sein, um dem Sattel Platz zu lassen, er kennt die Zeichen für Alter, Krankheit und Belastbarkeit. (Wobei es sich, was im Sprachgebrauch mit 'Kamel' bezeichnet wird, durchweg um Dromedare handelt.) Die Tiere stehen in Gruppen um verstreutes Grünfutter. Auch über sie ist Ruhe gekommen. Selten nur stoßen sie ihre knarrenden Schreie aus, die sich in Angst zum Gebrüll steigern. Einige haben sich zu Boden gelassen; neben einer Stute in der ganzen Armseligkeit seiner ersten Stunde ein Neugeborenes, das Fell noch feucht verklebt. Dieses bedächtige Einknicken der Vorder- und Hinterläufe beim Niedergehen beeindruckt jedesmal. Und immer, selbst im Liegen, tragen sie den Kopf erhoben, überblicken mit hängender Unterlippe still und herablassend eine Welt, in der doch über ihr Wohl und Wehe der Stock des Treibers entscheidet. Und trabt eine Herde von ihnen frei durch die Stadt das geschieht trotz des Verkehrs heute noch weht mit ihren langausgreifenden Schritten die ungebundene Weite ihrer Wüstenheimat durch Kairos Straßen. Eine Katze zerrt an frischen Innereien einer geschlachteten Ziege. Die Sudanesen leisten sich ein Festmahl. Nach 32 Tagen, in denen sie um 900 Tiere über eine Strecke von 1.400 km trieben, ist das wohlverdient. Das sind 40 oder auch 6070 km am Tag, meist zu Fuß. Rücksichten werden auf den Menschen kaum genommen. Wer als frommer Muslim seine Gebete einhält, muß die Karawane im Dauerlauf einholen. Wer krank wird, bleibt im nächsten Dorf zurück. Und das am Ende für einen Hungerlohn und selten mehr als den Hirsebrei dreimal am Tag. Am Abend, nach dem Absatteln, strecken sich die Männer in ihre Galabeya oder bei großer Kälte in eine sackleinerne Decke gewickelt zu kurzer Nachtruhe auf die blanke Erde. Diese Kraft und Ausdauer ist den hageren Gestalten nicht anzusehen. Und Carlo Bergmann, der mit ihnen ging? Theaterwissenschaften, Kunstgeschichte, Philosophie nebenher, als Hauptstudium Betriebswissenschaft. Er schreibt unter seinen Kommilitonen die beste Diplomarbeit. Nach seiner Promotion findet er eine gut bezahlte Anstellung in der Autoindustrie. Das Bedürfnis zu arbeiten, sich anzustrengen, Leistung zu erbringen, zeichnet ihn aus. Der 8-jährige Junge, der 1956 vom Leben auf dem Land und besonders von den Tieren schwer Abschied nimmt, als die Eltern mit ihm und dem jüngeren Bruder nach der Landreform das in der Nähe von Leipzig gelegene Gut verlassen, um in Köln eine neue Existenz aufzubauen, steht nun als Mann am Anfang einer Karriere; hat durch Heirat Zugang zur einflußreichen Gesellschaft. Am Ziel seiner Wünsche ist er damit nicht. Etwas begehrt in ihm auf. Das in seiner Umgebung vorherrschende Interesse um nichts als Vermehrung von Geld und Macht notfalls auf Kosten anderer nach dem nationalökonomischen Grundsatz, daß der wirtschaftliche Standard nur gehalten werden kann, wenn ein Unternehmen expandiert, stößt ihn mehr und mehr ab. Aber nicht nur darüber diskutiert er nächtelang mit seinen Kölner Freunden. Eine Felukkafahrt den Nil hinauf dieses schwerfällig anmutende, altertümliche Segelboot wird auch heute noch von den Einheimischen benutzt führt ihn auf Landausflügen in die archaisch-dörfliche Welt der Fellachen. Er ist beeindruckt. Die Klischeevorstellung vom 'Kulturland Ägypten' wird durch eigene Anschauung und Erfahrung ersetzt. Von der Reise zurück, bewirbt er sich mit Erfolg um ein Stipendium, das die Industrie für ein Gaststudium an der Amerikanischen Universität in Kairo ausschreibt. In dieser Zeit unternimmt er eine erste Wanderung in der Wüste. Nur mit Rucksack und Kompaß ausgestattet, ist jedoch die Sorge vor Erschöpfung und Wasserverlust ein ständiger Begleiter. Aber diese karge Landschaft geht ihm nicht mehr aus dem Kopf. Ein Forschungsvorhaben führt ihn in den Sudan. Er soll die Lage der Unternehmer und Gegebenheiten für Investitionen erkunden; interviewt Straßenbauer und kommt zu der Einsicht, daß volkswirtschaftliche Aspekte nicht nur dem Aufbau eines Landes dienen, sondern auch Zerstörung bedeuten von Kultur und Tradition. Das wirft einen weiteren Schatten über seine beruflichen Aufgaben. Die im Sudan heimische Kamelzucht gewinnt dagegen seine ganze Aufmerksamkeit; das heißt Haltung und Pflege der Tiere, die ihm, wie er hofft, die nicht vergessene Wüste erschließen könnten. Er macht sich den 'Herrn der Kamele', Sheikh Hassan, zum Freund, lernt reiten und erhält die Zustimmung, eine Karawane nach Kairo zu begleiten. Denn nur im täglichen Zusammensein und unter extremen Bedingungen schult sich der Blick für Stärken und Schwächen der Tiere, für Krankheiten, für ihre erstaunliche Sensibilität. Nur so entwickelt sich das Verhältnis, das befähigt, in jeder Situation 'klarzukommen', zum Beispiel wundgelaufenen Füße Ledersohlen aufzunähen und zwar so, daß sich die Stiche nicht anschließend entzünden. Als Carlo sonnenverbrannt und um einige Pfunde leichter, aber in ausreichend guter körperlicher Verfassung, Ägyptens Hauptstadt erreicht, weiß er genug. Er kauft drei Kamele und zieht mit ihnen in die Libysche Wuste, dem östlichen Teil der Sahara; läßt ein Leben oder auch eine 'Zukunft' hinter sich. Aussteiger? Kaum in dem Sinn, der viele junge Menschen aus undefinierter Unlust auf die Suche nach einem nebelhaften Glück ziellos in die Weit treibt. Einsteiger eher, in eine konsequente Auseinandersetzung mit sich und mit Lebensbedingungen, die ihn trotz allen äußeren Glanzes das Gefühl gaben, innerlich zu verarmen. Nie zuvor in unserer Geschichte wären wir so frei, unseren Lebensweg nach eigenen Vorstellungen zu bestimmen, weitgehendst entbunden von Zwängen gesellschaftlicher Schichtung, von finanziellen Nöten, von Diskriminierung weltanschaulicher Art, von festgeschriebenen Traditionen. Weshalb also spricht Carlo vor seinen Freunden vom 'Sargdeckel', der lebendig begräbt? "Ich habe keine besonderen Talente", sagt er, "was ich auch mache, wie tüchtig ich bin, es zwingt mich in den Sog des 'normalen'. Eine Gesellschaft, die die Steigerung des Umsatzes als die treibende Kraft ansieht, muß alles daran setzen, Wünsche und Vorstellungen gezielt zu wecken, um den notwendigen Konsum berechnen und sichern zu können. Das zwingt uns als Konsumenten vorgefertigter Ansprüche alle auf eine Bahn, so sehr sich die einzelnen Wege auch voneinander unterscheiden mögen. Selbst wer nach eigenen Einfällen zu 'werkeln glaubt, bedient sich ohne daß es ihm recht bewußt wird, der Fertigteile eines 'Bastelzubehörs'. Sackgasse für Phantasie und Kreativität. Nur ein außerordentlich befähigter Mensch ist in der Lage, sich diesem allumfassenden Angebot zu entziehen, Zwischenräume, d.h. 'Marktlücken' zu entdecken, um seine Eigenständigkeit zu bewahren." Ein heftiger Sandsturm fegt über die Ebene, dem die kleine Karawane unbeirrt entgegenzieht. Der kräftige, aber auch angriffslustige weiße Kamelhengst Hassan, den Carlo am Seil hinter sich herführt, geht gleichmäßig ausgreifend den Stuten voran. Gegen Abend läßt der Wind nach, und die Sicht klart auf. Carlo hat einen guten Lagerplatz gefunden. Er hebt die schweren Satteltaschen von Hassans Rücken und stellt sie als schützenden Wall um seinen ausgerollten Schlafsack. Er gräbt ein Silo aus, um Hirse als Futtervorrat für eine später geplante Tour an die libysche Grenze einzulagern. Der Sturm hat ihm zugesetzt, er ist erschöpft und der unaufhörlich nachrieselnde Sand macht ihm zu schaffen. Liegt das Getreide nicht tief genug, wühlt es der Fuchs oder der Fennek auf. Bis zur rasch einfallenden Dunkelheit sind noch die allabendlich anstehenden Arbeiten zu verrichten, und die Senken füllen sich bereits mit Schatten. Zu dem, was die Kamele an Agul oder Kameldorn grasen, hartes, niederes Buschwerk, das auch auf trockenen Böden wächst, schüttet Carlo einige Kilo Zusatzfutter in den Eimer. Das letzte Tageslicht reicht gerade noch, um einen Armvoll abgestorbenes Wurzelholz zu sammeln. Trotz der knappen Zeit sind Carlos Bewegungen überlegt und ohne Hast. Auf dem schnell sich entzündenden Feuer rührt er, nun schon im Dunklen, eine Suppe an. Er ißt mit Bedacht, spült den sorgfältig gelehrten Topf, trinkt das Wasser anschließend. Er leistet sich weder Spül- noch Waschwasser. Zum Zähneputzen benutzt er eine trockene Bürste. Dennoch muß er morgen einen Brunnen erreichen. Die Kanister sind leer und die Tiere müssen getränkt werden. Dabei tut es gut, sich selbst eine Kanne Wasser über den Kopf zu schütten. Als Nachtisch Trockenobst. Traum von Würstchen mit Senf. Aber Konserven sind schwer, und da die Kamele nicht unbegrenzt belastbar sind, muß das Gepäck genau berechnet werden. Beim ausflackernden Feuer verstaut Carlo Topf und Löffel in die dafür vorgesehene Tasche und kriecht in seinen Schlafsack. Wer wäre nach einem anstrengenden Tag nicht versucht, sich der Nachtruhe mit Haut und Haar, mit Geist und Körper hinzugeben! Carlos Schlaf bleibt leicht. Wie sonst hätte er in der Ostwüste damals das Rudel Hyänen frühzeitig gehört! Oder einer der Stricke, mit denen die Kamele für die Nacht gefesselt sind, löst sich, und das Tier verliert sich unauffindbar. Schlangen, Skorpione... Ein Mensch allein in der Wüste, während die Sternbilder lautlos über ihn
hinwegrollen, bis die Dämmerung für einen neuen Tag grau über den Horizont
steigt ein einsamer Mensch?
Zieht er doch wieder allein, ersetzen ihm die Kamele die Menschen. Er kennt die Eigenart der Tiere, weiß, wie jedes behandelt werden muß. Er liebt es, wenn sie sich abends mit gehobbelten (gefesselten) Knien dicht ans Feuer robben. Die massigen Körper im Licht der unruhig flackernden Flammen und das gleichmäßige Mahlen beim Wiederkäuen gibt ihm das Gefühl der Geborgenheit und des Friedens. Die Sahara ist kein Sandkasten, sie ist voll geologischer Abwechslung. In dem Teil, der 'Weiße Wüste' genannt wird, hat der Wind phantastische Formen aus dem Kalkstein gesägt: Riesenpilze, abnorme Tiergestalten, skurrile Fabelwesen. Salzhaltige Bodenschichten glänzen wie Eis, Polarlandschaft unter Afrikas Sonne; ein kristalliner Felsen: Motive, die zum Photographieren reizen, und die dazu notwendige Ausrüstung trägt Hassan in einer seiner Satteltaschen. Die bereits auf Zelluloid gebannten Schätze würden einen Bildband füllen! Leicht erkennbare Spiele der Natur. Der aufmerksame Beobachter aber sieht mehr. Carlo folgt den alten Karawanenwegen und wird zum Spurensucher für Geschichte und Geschichten, die Sand und Zeit verwehen. In einer Landschaft, wo es keine Wegweiser, keine Warnschilder und auch keine Vorschriften gibt, ist der Mensch ganz auf sich angewiesen. Sinne und Wahrnehmungen werden geschärft. "Hier zählt mein Auge", sagt er, "eine falsche Einschätzung liegt allein in meiner Verantwortung." Er lernt geringste Abweichungen unterscheiden, entwickelt ein Gespür für die Lage der alten Rastplätze, entdeckt Felsinschriften, Graffiti, den verschütteten Eingang einer verlassenen Salzmine, Teile einer römischen Offiziersausrüstung, eine Getreidemühle aus prähistorischer Zeit, die Mahlfläche wie Seide glattgeschliffen. Wenn er nur den Ort fände, wo im 6. Jahrhundert v.Chr. das Heer des persischen Feldherrn Kambyses von einem Sandsturm begraben wurde, mit allen Soldaten, Pferden, Wagen, Waffen, Zelten... Die Archäologen werden aufmerksam. Durch Carlo Bergmann bietet sich die Gelegenheit, auch abgelegene Wüstenzonen geschichtlich anzugehen. "Du wirst noch berühmt", sagen seine Kölner Freunde. Carlo zuckt die Schultern und lacht. Er kann mit der Bemerkung nichts anfangen. Die übersättigten und abgestumpften Sinne wieder auf ihre ursprüngliche Empfindsamkeit zurückzuführen. Wahrhaft sehen, hören, riechen, schmecken, tasten; sich selbst erleben! Was ist dagegen Ruhm. Ein Tagesereignis! Dennoch, keiner klinkt sich ohne Verlust aus der menschlichen Gemeinschaft, keiner ist lebensfähig ohne Anerkennung und Bestätigung. Entdecktes, Erlebtes mitteilen, das möchte auch er. Seinen Namen nennen hören, ihn in Verbindung bringen zu einem Menschen, der ihm nahesteht. So kreisen in der Länge seiner Tage seine Gedanken um das Glück, um das kleine Glück, wie er es für sich bescheiden nennt. Im Herzen geboren muß es doch auf Erden gelebt werden mit Bindungen und Abhängigkeiten, die ihn auch wieder beenden. Widersprüchliches als Unruh seiner Sehnsucht. Allein auf sich gestellt, fürchtet er nicht etwas Unvorhergesehenes, fern jeder menschlichen Hilfe einen Unfall, eine Krankheit? "Angst vor Krankheit, vor dem Tod überkommt mich in Köln eher als hier", sagt Carlo. "Die Wüste ist ein wertfreier Raum. Wo der Maßstab unserer Begehrlichkeit Tod und Leben nicht gewaltsam trennen, behält der Gedanke an das Ende seine Natürlichkeit. Hier wird nicht vor Augen geführt, wovon wir Abschied nehmen. Was wir haben, was wir sind, liegt in uns selbst." Gehen. Das regelmäßige Knirschen der Kamelhufe im Sand und am Ohr unablässig der Wind. Vor sich Weite, die sich unbegrenzt aufrollt, als sei die Welt ohne Ende. Keiner macht sie ihm streitig, diese karge Unendlichkeit und leise erst: Töne, eine Melodie, Stimmen steigen auf, finden sich zusammen, werden zum Chor, zum brausenden Gesang:
Beethovenverehrer Carlo!
Kein Mensch kann seiner Willkür leben. Aber in einem Gemeinwesen, wo Wahl und Entscheidung des Bürgers mitbestimmt werden von Regeln, Vorschriften, Verpflichtungen Trends und Interessenverflechtungen, die oft nicht einschaubar oder im Sinne der Allgemeinheit notwendig sind, sich dabei doch jeder Einflußnahme entziehen, wo selbst Freiheit geplant und organisiert wird, müssen unsere Fähigkeiten und individuellen Bedürfnisse verkümmern. "Die Wüste hat klare Gesetzmäßigkeiten die mich in die Lage versetzen, nach eigenem Urteil zu handeln. Die Wüste", sagt Carlo, "gibt mir meine verlorene Mündigkeit zurück."
Zum Seitenbeginn
Bahn-Trekking
Nr. 1112/99, pp. 5054
Pünktlich um 12.37 traf der mit dreifacher Schallgeschwindigkeit von Nordwest nach Südost streichende Kernschatten des Mondes in München ein und verließ die Stadt wie vorgesehen um 12.39 Uhr. Erfüllt von dem Eindruck des zwei Minuten lang aus dem Kosmos strahlenden festlichen Lichtes von Sonnencorona und Venus starrten wir alsbald auf die sich über die östliche Landschaft hinweg entfernende schwarze Wand, wie sie binnen Sekunden Dörfer und Felder aus ihrem aschfahlen Licht entließ. Das Ereignis der letzten europäischen Sonnenfinsternis in diesem Jahrtausend wie auch die Präzision ihres Verlaufs bestimmten die Gespräche der Menschen hier in Bayern und wenig später auch schon in Kairo, dem Zielort unserer sechstätigen Bahnreise, die wir drei Stunden nach dem Ende der Sonnenfinsternis antraten. Nicht im Entferntesten erreichten die irdischen Zugzeitpläne auf Europas "anfälligem Metallgeflecht" zwischen Genf und Aleppo die Präzision des himmlischen Fahrplans: ICE 967 traf am Morgen des 12.8. wegen Bauarbeiten im Bahnhof St.Pölten mit 3 Minuten Verspätung in Wien West ein, EuroNight 371 Ister aus Budapest wurde am Morgen des 13.8. durch Hochwasser und abgehende Muren zwischen den Karpatenstädten Brasov und Busteni aufgehalten und erreichte Rumäniens Hauptstadt Bukarest 110 Minuten verspätet. Der Anschlußzug 499 Bosfor Ekspresi ist angesichts der durch Bomben zerstörten Donaubrücke zwischen Novi Sad und Belgrad eine Ersatzschienenverbindung und tritt nach Verlassen des rumänischen Grenzbahnhofs Giurgiu Nord über eine imposante, zweistöckige Straßen- und Eisenbahnbrücke über die Donau in das eingleisige bulgarische Streckennetz ein, dessen Magistralen alle nach Westen, nach Sofia ausgerichtet sind, nicht aber in die Richtung, die der Ersatzzug des Jahres 1999 anstrebt: nach Südosten, zum türkischen Grenzbahnhof Kapikule: Eine Nacht lang leiten Bulgariens Bahner den für die Nebengleise viel zu langen Bosfor Ekspresi von der Donaustadt Ruse (früher: Roustschouk) über Gorna Orjachovitza, Stara Zagora und Dimitrovgrad nach Svilengrad-Kapikule. Wartezeiten bis zu einer Stunde wegen Zugkreuzungen nehmen die meisten Reisenden als angenehm, weil dem Schlaf förderlich, wahr. Das Zeitgefühl löst sich in den nächtlichen Kukuruzfeldern der Balkanregion lautlos aus dem Anspruchssystem heraus, das das deutsche Auslandskursbuch so suggestiv als obwaltende Reiseweltordnung darstellt. Den letzten europäischen Bahnhof, Istanbul Sirkeci, erreichten wir 9½ Stunden nach Plan. Da die Schienen hier enden, überquerten bereits die noblen Reisenden der zwanziger Jahre den Bosporus mit dem Schiff und traten schon damals durch die eleganten Türen des asiatischen Bahnhofs Istanbul Haydarpasa in die nahöstliche Schienenwelt ein. Man bedenke, daß den Schienenverbindungen in jener Zeit eine so große politisch und wirtschaftlich begründete Bedeutung zukam, daß es den diplomatischen Kurieren, Archäologen und femmes fatales jener Zeit gestattet war, in nur zwei Zügen, nämlich dem Orient Express und dem Taurus Express, von Paris nach Kairo zu reisen. Heute endet der Orient Express in Budapest, und unser Toros Ekspresi kehrt seit den siebziger Jahren bereits in Gaziantep um, auf halbem Weg seines ehemaligen Laufs von Istanbul nach Baghdad bzw. Kairo. Von dieser großen Zeit kündet heute lediglich der einmal in der Woche mitlaufende Kurswagen Istanbul-Aleppo, den jeweils montags eine Rangierlok im südtürkischen Bahnhof Fevzipasa abhängt und zur Weiterleitung nach Syrien in einen Güterzug integriert. Dabei entsteht die in Europa nicht mehr übliche Zuggattung eines GmP (= Güterzug mit Personenbeförderung). Unsere Fahrt ging in Fevzipasa in den Zustand zeitloser Fahrplanunabhängigkeit über. Auch körperlich registrierten wir Reisenden außer uns beiden zwei Studenten aus Estland den Wechsel zum GmP, da wir während des heutigen Tages in jeder Station, blind für den Sinn der einzelnen Bewegungen, dem stotternd-stossenden Rhythmus quietschender Rangierfahrten ausgesetzt waren. Talwärts von Fevzipasa nach Syrien schlingernd ging unser Blick aus dem offenen rückwärtigen Waggonende über 65 nachfolgende rumpelnde Güterwagen. Im 9 km entfernten Islahiyeh, wo die türkische Ausreisekontrolle erfolgt, verkaufte man uns für 100.000 Türkische Lira (ca. 13,- DM) das internationale Billet Islahiyeh-Aleppo. Nach weiteren 26 km überschritt der GmP die von türkischen Soldaten und Stacheldraht gesicherte türkisch-syrische Grenze und lief unmittelbar dahinter in den syrischen Bahnhof Meidan Ekbes ein. Dem kurdischen Paßbeamten Samih Ahmed war es ein Anliegen, uns nach erfolgter Visakontrolle in seine Wohnung im Stockwerk über dem Grenzabfertigungsbüro zu einem Mittagessen im Kreise seiner Familie und Freunde einzuladen. Während er seine Uniform mit einer weißen Galabaya vertauschte, nahmen wir auf dem Boden Platz. Auf einem großen Silbertablett wurden heiße mit Reis gefüllte Artischocken, warme Hammelbouillon und Fladenbrot hereingetragen, dazu gab es frisches kaltes Wasser. Nach dem Essen machte man es sich Tee trinkend auf bunt bestickten Kissen bequem. 4.377 km seit dem Ausgangsort unserer Fahrt waren wir in den Genuß spontaner arabischer Gastfreundschaft geraten, die uns den kleinen Unterschied zwischen der Grenzabfertigung sagen wir: in St. Margarethen, Furth i. Walde oder Hegyeshalom deutlich werden ließ. Eingetroffen war der GmP in Meidan Ekbes um 10.25 Uhr. Als uns unser Gastgeber, gefolgt von seinen Kindern und dem Stationsvorsteher, plaudernd zum Kurswagen nach Aleppo begleitete und den Lokführern durch Händeklatschen das Zeichen zur Weiterfahrt gab, war es 16.30 Uhr (1939 betrug die Aufenthaltszeit im Bahnhof Meidan Ekbes knapp 20 Minuten). Die Weiterreise ins 124 km entfernte Aleppo wir durften im Lokführerstand mitfahren und der Zug legte uns zuliebe mehrere Fotostops ein (!) gestaltete sich als ein die Geschwindigkeit von 40 km/h nicht überschreitendes Bahn-Trekking: Schwankend, quietschend rollten die Waggonräder über 1910 verlegte Krupp-Schienen durch aride Gebirgszüge, über geländerlose Viadukte, durch Olivenplantagen und Sonnenblumenfelder. Auf Ortsdurchfahrten im Schrittempo verscheuchte das Signalhorn der Lok Gänse, Schafe und Menschen, die zwar um den Zugverkehr wußten, aber erst, als das Dieselungetüm vor ihnen auftaucht, die Strecke freigaben. Angesichts der im Fahrtwind schlaff wehenden Vorhänge, unter der Wirkung der einlullenden Wiegerhythmik des Waggons und der im Wageninneren vorherrschenden Mischung aus Landluft und süßlichem Dieselgestank fühlten wir, daß wir uns durch Zeiträume bewegten, die sich nur den entspannten Sinnen der Reisenden, nicht aber den Umdrehungen von Uhrzeigern erschließen. Gegen 21 Uhr erreichten wir Aleppos Baghdad Station. Wir vier Reisenden sprangen mit unserem Gepäck auf den Schotter zwischen den Bahnsteigen. Als der Kurswagen Istanbul-Aleppo vom Güterzug in das abendliche Bahnhofsvorfeld hinausgezogen und der Bahnhof zugeschlossen wurde, war es Montag, der 16. August sechs Stunden nur noch bis zum Beginn des verheerenden Erdbebens im Großraum Istanbul. Der Toros Ekspresi sollte danach bis auf weiteres nicht mehr verkehren.
Man weiß, daß noch im Jahr 2000 eine neue, auf alter Trasse und als Schnellfahrstrecke vorgesehene Schienenverbindung von Ismailiya nach Rafaa dem Verkehr übergeben werden wird. Eine neue Eisenbahn-Drehbrücke bei Ferdan sowie die Bahnhofsbauten stehen schon. Wann wird man am Schalter des Hauptbahnhofs Kairo wieder einen Fahrschein nach Beirut oder gar Istanbul lösen können?
Zum 2. Teil der "Touren"
Zum Seitenbeginn
|