Die Revolution in Ägypten
Die ersten schlimmen Tage der Ägyptischen Revolution waren gerade vorbei, wir waren mitten drin, da fragte neben allen anderen Radio- und TV-Stationen die Redaktion der Zeitschrift Brigitte bei mir an, ob ich einen Blog schreiben könnte zu den aktuellen Ereignissen in Kairo. Da meine Arbeitsstelle, das Goethe-Institut, seine Pforten geschlossen hatte, wir als Familie auch nicht unmittelbar die Absicht hatten auszureisen, hatte ich Zeit und sagte zu. Im Laufe der Ereignisse, im Fortgang der Jahre 2011 und 2012 sind durch den Blog alte Kontakte neu belebt worden, Menschen haben sich bei uns gemeldet, haben mitgeschrieben, haben die Informationen kommentiert und geschätzt. Um nicht den Reportagen der Zeitungen und Medien gleichzukommen und besonders das Leben in Ägypten während, bei und nach der Revolution weiter aus der privaten Perspektive zu beleuchten, habe ich - wenn es mir interessant schien, wenn wieder etwas "am Kochen" war - weitergeschrieben, später dann mehr auf Einzeltage und -ereignisse bezogen. Im Februar 2012 hat die Zeitschrift Brigitte den Blog von ihren Seiten genommen. Manche haben das bedauert, und ich möchte, damit die Dokumentation nicht umsonst war und in den Tiefen des Internetzes verschwindet, die Dokumentation, soweit fertig nun überarbeitet - meinem Mann Thomas sei Dank!!! - in das KairoFamilienNetz-Archiv stellen. Allen Begleitern, Lesern und Interessenten danken wir für ihre Unterstützung, die Ermutigungen, Kommentare und wünschen viel Spaß beim Lesen und Interesse an diesem Rückblick. Kontakt auch weiterhin:
1. Der Inhalt - chronologisch gegliedert: Sonntag, 23. Januar 2011
2. Der Inhalt - wie er fortlaufend für den Blog geschrieben wurde:
Es geht uns gut, und es ist ruhig um uns herum. Trotzdem ist die Stimmung bedrückend, und ich würde die ganzen Berichte in den Medien am liebsten gar nicht hören. Aber es kommen gleichlautende Anrufe und Fragen auch über unsere Webseite, das KairoFamilienNetz, und ich beantworte alles persönlich, auch weil ich mich über jeden freue. Ich finde derzeit besonders beängstigend, dass Journalisten nicht mehr sicher sind, dass Ausländer verfolgt werden, dass mein Arbeitgeber, das Goethe-Institut, sich überhaupt nicht meldet, dass hingegen andere Institutionen ganz klar morgen ihre Leute ausfliegen. Ich solidarisiere mich auf der anderen Seite mit allen, die hier sind, weil sie – wie wir – hier leben, verheiratet sind, eine Aufgabe und Arbeit haben. Ihr könnt auch nicht einfach ausreisen! Ihr tut es nicht. Eine Evakuierung durch die Botschaft ist nicht angesagt worden. Mir jedenfalls nicht. Ich bin sonst, wie alle anderen geneigt, hier zu Hause abzuwarten, was morgen passiert, und dann gegebenenfalls alle Pläne zu ändern. Ein Arztfreund ist recht optimistisch, eine andere Deutsche pessimistisch. Und wie macht man alles richtig? Unsere Bindung ist groß, und ich bin traurig über die Wendung gegen Ausländer, die diejenigen trifft, die hier leben, so wie in allen Gesellschaften Fremde als Teil der Gesellschaften leben. Es war so toll, was hier an Stimmung und Enthusiasmus bis Dienstag war! Ich denke, dass das trotzdem den Ägyptern niemand mehr nehmen kann. Ein großer Schritt! Wir hören, morgen ist ab 10:00 Uhr früh bereits Ausgangssperre. Morgen früh ist WDR2 am Telephon, und ich muss früh raus. Dann geh' ich jetzt ein paar Stunden schlafen und hoffe, dass es gut geht, und wir vielleicht morgen Abend oder übermorgen sagen können, die Lage beruhigt sich, und wir können uns hier im normalen Rahmen bewegen. Ich kann mir etwas anderes gar nicht vorstellen! Gute Nacht an alle und einen guten Freitag aus Kairo! Freitag der Entscheidung? – 4. Februar 2011 Es ist trübe draußen. Sehr, sehr ruhig. Innerlich sind wir unruhig. Man achtet auf jeden Mucks auf der Straße, aber da ist nichts. Jörg Armbruster hat vorhin im Morgenmagazin im Fernsehen sehr richtig gesagt, es gebe keinen Bürgerkrieg. Eine Schlacht um den Tahrir ist es. Dort finden sich jetzt schon wieder ruhig Menschen ein. Panzer scheinen den Platz abzuschirmen. Es gab gestern Schriftstellerinnen auf dem Platz. So auch Nawal es-Saardawy, die große Frauenrechtlerin. Sie ist weit über 80 Jahre alt und war mit ihren Söhnen dort. Dieses Foto rührt mich sehr. Es gibt sie weiter, diese vielen positiven Menschen. Und dagegen gibt es die Schläger, die schwarzen Gestalten, die Menschen jagen. Wir werden zu Hause bleiben und warten weitere Informationen ab. Ob sich heute etwas entscheidet? Ich muss mit Margot Kässmann feststellen, der Druck der Medien ist enorm. Auch ihre Macht und daher die Angst vor ihnen. 4. Februar 2011 – friedliche Demonstration der Hoffnung Die Menschen sind schon vor dem Gebet auf den Tahrir-Platz gekommen. Militärische und zivile Kontrollen durchsuchen jeden. So wie am Dienstag, und das funktioniert. Ein gutes Zeichen zum jetzigen Zeitpunkt. Unheimlich und unbekannt bleibt, wo die Schläger sich möglicherweise versammelt haben. Ob und wann sie eventuell noch zuschlagen. Viele Prominente, Schauspieler, Sportler und Intellektuelle sollen auch auf dem Platz sein. Ich könnte schon wieder selber losziehen. Aber das lasse ich heute dann doch lieber mal sein. Ich habe noch eine Stunde Schlaf nachgeholt. Die Nacht war sehr kurz. Am Sonntag soll um 9:30 Uhr ein Gottesdienst in der Deutschen Evangelischen Schule (DEO) sein. Ich höre von anderen Freunden, die auch hier auf Zamalek sind. Die Botschaft meldete sich bei mir. Ich hatte mich nicht richtig registriert. Es gibt da für alle Auslandsdeutschen einen Link mit Namen Elefand, der uns auf eine Krisen- und Anrufsliste der Deutschen Botschaft katapultiert. Für Kairo gibt es auch eine Telephonnummer der Deutschen Botschaft, die 24 Stunden besetzt ist: 02-2728200. Die Sonne kommt raus, und es ist frühlingshaft warm in Kairo. Es kommen so viele Mails über das KairoFamilienNetz und jetzt auch schon Kommentare hier im Blog! Die Welt schaut auf uns, und das Volk hätte es verdient, heute endlich den Diktator loszuwerden. Versucht man hinter den Kulissen, ihm einen Abgang zu ermöglichen? Es ist absurd, dass die Regierung hier ihr Volk vorführt als den Missetäter seines jetzt schon enormen wirtschaftlichen Schadens! "Mob" nennt die Diktatur diese Menschen, die nichts anderes sehnsüchtig suchen, als endlich ein Leben mit einer selbstgewählten Perspektive durch die Politik. Ob uns das dann alles so gut gefällt, steht auf einem anderen Blatt. Aber das ist eben jetzt ihr Weg, und da gehen sie sicher nicht mehr zurück. Wir warten ab mit der ganzen Welt. Ach ja, ein ungemein beeindruckendes Musikstück möchte ich hier noch allen empfehlen. Es lohnt sich auch als Dokument der so besonderen Demonstrationen hier: The most Amazing video on the internet. Glückwunsch und Danke an Tamer Shaaban! 5. Februar 2011 – es ist noch lange nicht geschafft! Dieser Abend, diese Nacht gehört dem Volk! Sie sind froh auf dem Platz, in der Stadt, im Land. Die meisten jedenfalls. Sie haben den Frieden auf dem Tahrir erzwungen und gelebt. Es war ausnehmend eindrucksvoll, noch besser als am Dienstag, wie heute noch mehr Menschen auf dem Platz zusammengerufen, -gestanden, -gelaufen, -geholfen haben. Bravo! Ich werde morgen erst ins Café gehen, dann auf den Tahrir. Es ist uns für den Moment ein tonnenschwerer Stein von der Seele gefallen. Die Umstände habt Ihr alle im TV gesehen. Das muss ich nicht wiederholen. Die Journalisten waren auch wieder da, und ich werde sehen, wen ich morgen treffe. Ich freu' mich schon! Man kann also hier jeweils nur 20 Liter Benzin tanken. Die Tankstellen waren gestern immer noch befüllt und man wartete geduldig. Morgen kann man auch wieder einkaufen, und ich sehe mal, was es so gibt. Wir machen was aus dem, was da ist: Gemüse, Obst und Brot gab es noch gestern gut. Aber teuer! Noch werden wir eine Weile alles teilen müssen und ein bisschen verzichten und ein bisschen suchen und ein bisschen teilen. Wir, die wir mehr haben, müssen auch an die denken, die jetzt noch weniger haben. Mein Motto: Im Frieden einer Revolution kann auch das gelingen. Aber Frieden muss es sein. Und Vorsicht: wir sind immer noch im Umbruch. Es ist noch nicht geschafft! Ich fühle mich sehr motiviert, mit den jungen Leuten, die ich in meinen Deutsch-Kursen unterrichte, das Alte im neuen Gewande zu üben: Argumentieren, formulieren, diskutieren und Sprache auf ein Ziel ausrichten, dabei Provozieren und Deeskalieren. – Hört sich theoretisch an, ist aber ganz praktisch. Das haben sie hier mit ihrem Verhalten und mit ihren Texten und Reden gemacht. Jetzt machen wir das mal im Hinblick auf das, was noch alles kommen wird. Ich möchte noch etwas sagen zu den Menschen, die hier gestorben sind: Ihr Tod ist ein komplettes Drama. Das jedes einzelnen! Ohne die Schläger und die Gewalt könnten viele dieser Toten noch leben. Sehen wir das mal ganz klar. Ich habe heute den weinenden Scheich gehört, der das Freitagsgebet gehalten hat – so wie meine Kollegin Elham einen weinenden Vater geschildert hat. Trauer, das ist, was ich dabei empfinde. Diese jungen Leute, sie gehören zu Euch, und sie haben mit ihrem Leben bezahlt für die Teilnahme an dieser Revolution. Der Preis könnte nicht höher sein! Ehrt sie und ehrt die Väter und Mütter und Familien, indem Ihr Ägypter etwas Gutes macht aus Euren – wie ich finde – ungeheuren, mir oft verborgen gebliebenen Fähigkeiten zur Gemeinsamkeit und sogar zur Ordnung! Wer hätte das vor zwei Wochen gedacht? Schafft etwas Gutes, etwas Neues für Euch! Und zwar nicht jeder für sich alleine (altes System), sondern gemeinsam (neues System)! Dann lohnt ihr es ihnen und ehrt sie für ihren Einsatz! Das gefällt mir besser, als sie zu "Märtyrern" zu erheben. Sie geben Euch eine Verpflichtung auf, eine Aufgabe! Geht es an! Morgen ist der Tag, an dem der Diktator nicht mehr Gesprächspartner ist, wie es aussieht. Das System verändert sich ganz langsam, aber deutlich von innen und von außen. Ich werde erleben, wie es im Alltag in Kairo jetzt aussieht. Und ich danke allen für die Teilnahme an unseren Geschehnissen hier und die vielen Signale der Solidarität und Zuneigung. Danke!! 5. Februar 2011 – kein Abgang aber ein Abgesang Es ist Samstag, der 5. Februar. Heute Abend hätte ich eigentlich vier Stunden Oberstufenunterricht. Was die Mädels und Jungs wohl alle machen? Ich war morgens in Zamalek. Es ist geschäftig und ruhig. Die Hälfte der Läden ist auf, die andere Hälfte noch zu. Eine Bank hat offen. Maison Thomas, ein Café und Lebensmittelladen, bekommt angeblich morgen seine Waren zurück. Das Personal ist jedenfalls wieder da. Es gibt auch Waren, die ausgeliefert werden, ich sehe frisch gebackenes Brot, Obst und Gemüse ist reichlich vorhanden. In unserem Café Simonds ist viel los. Ich lese erst mal in Ruhe Zeitung. Die Egyptian Gazette, eine gemäßigte Zeitung auf Englisch, druckt Leserbriefe mit dem Tenor: "Zurück zur Arbeit, zurück zu Stabilität", Mubarak solle erst mal bleiben, weil er für Stabilität steht. Ich weiß nicht so recht. Nach und nach kommen die Bekannten. Allen geht es gut. Alle sind erleichtert. Gestern haben einige deutsche Beamte in Kairo wohl noch Ausreiseanweisung bekommen. Das ist jetzt nun wirklich nicht mehr nötig! Da hätte man besonnen mal bis Sonntag warten können, und dann wäre immer noch Zeit gewesen. Denn das Schlimmste war der Donnerstag. Aber so läuft die Bürokratie und nicht der praktische Verstand. Wir sind uns einig, es sieht gut aus und ungefährlich. Auf jeden Fall sehen wir nirgends seltsam herumstreichende dunkle Männer mehr auf den Straßen. Erfreulich! Aber viele Diskussionen wenden sich jetzt der Zukunft zu. Politisch und praktisch. Wann wird die Schule wieder beginnen? Was könnten wir tun in der Zwischenzeit? Kann die Schule nicht in virtuellen Klassen arbeiten und den Kindern in ihren Fächern Aufgaben zusenden? Fände ich gut. Die viel thematisierten "Muslimbrüder" möchte ich aus dem Alltag des Kairolebens noch mal ansprechen: Das sind hier in Ägypten – soweit ich das beurteilen kann – Leute, die sich im konservativen politischen Bereich bewegen. Ein Kommentator gestern meinte, in Deutschland würde man sie politisch in eine Ecke der CSU einordnen. Sie sind gut organisiert, sagt man, und sie nehmen sich mancher sozialer Fragen an, mit denen die hiesige Bevölkerung ja tatsächlich ganz anders allein gelassen ist, als wir in Deutschland. Sie sind Muslims und keine Islamisten. Sie reihen sich bei uns in das Spektrum ganz verschiedener Gruppen ein. Die wichtigste Gruppe ist derzeit die der jungen, gut ausgebildeten, aber arbeitslosen Akademiker, die eindeutig zur "Generation Facebook" gehören. Es gibt daneben noch ältere Konservative, es gibt ein paar Öko-Bewegte, es gibt eine riesige Masse unpolitischer Mittelschichtler und ganz armer Leute, und dann gibt es auch die Reichen, die vielleicht der NDP (der staatstragenden Mubarak-Partei) angehören oder anders organisiert sind. Kurz: es gibt viele Gruppen momentan. Jedenfalls schließen sich diese Muslimbrüder sehr brav der Bewegung Facebook an, und alle wollen dasselbe: den Wechsel. Wenn es normal weitergeht, werden die Muslimbrüder mit eigenen Vertretern in einer neuen Regierung im Übergang sitzen und sich dann zur Wahl stellen, wie alle anderen auch. Man denkt, sie könnten bei einer Wahl so zwischen 15 und 20 Prozent der Stimmen bekommen. In dem Moment aber, wo sie politisch vertreten sind, müssen sie auch politisch agieren, und dann wählt der Wähler, ob und wie ihm das gefällt. Das passiert dann bei den nächsten, und übernächsten Wahlen. Wie sich das dann entwickelt, ist eine andere Frage. Ob uns das dann alles gefällt, ist auch eine andere Frage. Aber geht es jetzt darum? Das Regime Mubarak hat sie kriminalisiert, was falsch war, denn dadurch radikalisiert man sie auch. Es ist gut, dass sie jetzt da sind, dass sie sich wie andere auch beteiligen. Sie sind Teil der Gesellschaft und daher nicht ausschließbar. Und sie werden beweisen müssen, was sie hier Gutes und Nützliches tun können. Genau wie alle anderen auch. Wenn ich interpretiere, was gerade gestern Karl-Theodor zu Guttenberg auf der Münchner Sicherheitskonferenz gesagt hat, dann können wir nicht gegen Muslimbrüder (oder andere) agieren, weil wir vermeintlicherweise denken, dass sie in unsere politische Kultur nicht passen, sondern entgegen dem, was Diktatur macht, müssen wir darüber dem wählenden Volk die Entscheidung überlassen und danach uns entscheiden, wie wir weiter kommunizieren. Also bitte erst mal auch weg von dieser Panik vor den "Muslimbrüdern"! Eigentlich wollte ich ja nicht politisch kommentieren, aber es ist auch Inside Egypt aus der Distanz der Ausländerin in der Mitte der Gesellschaft. Sorry an alle, denen das jetzt zu viel war! Viele Fragen bewegen die Menschen auf der Straße, an den Bildschirmen und in den Familien, aber man ist geneigt, gar nicht so viel auf einmal anzugehen. Alles Schritt für Schritt. Zurück in den Alltag, arbeiten, Geld verdienen. Nach der Arbeit kann man ja noch demonstrieren gehen. Vor allem möchte man wachsam bleiben und das Ziel nicht aus den Augen lassen. Der Wechsel ist in Sicht, aber noch nicht erreicht. Sonntag, 6. Februar 2011 – der 13. Tag der Proteste – es ist wieder Stau... Ich stehe früh auf und höre gleich gemäßigtes Hupen und Geschrei von der Straße. Die Autowäscher debattieren mit den Müllleuten. Gegenüber stehen Angestellte vor dem Friseur. Mein Fahrer kommt und bringt mich in die DEO (die Deutsche Evangelische Oberschule). Wir feiern in der Kapelle Gottesdienst. Viele sind wir nicht, vielleicht 25, aber fröhlich. Das Singen, Zuhören, Einkehren tut gut. Ebenso die Gemeinschaft und die Gespräche, die beim anschließenden Frühstück im Garten noch bewegter werden. Irgendwie sind wir alle auch zufrieden mit uns, dass wir (es) "ausgehalten" haben und jetzt in unseren Häusern hier sind. Hier können wir ab morgen unsere Arbeiten wieder aufnehmen. Aber heute ist noch Sonntag! Auf dem Tahrir sammeln sich derweil weiter Menschen. Vereinzelt sieht man Grüppchen auf die Nilbrücken zulaufen. Viele lachen und haben Fahnen dabei. Die Fahnen werden an den Straßen in den laufenden Verkehr hinein verkauft – sie gehören eigentlich zu den nationalen Fußballspielen. Aber man ist flexibel. Das Nationalgefühl ist jetzt größer denn je. Auch die Autofahrer scheinen einander freundlicher gesonnen. Man lässt anderen die Vorfahrt, man grüßt sich, man lässt andere in Ruhe einparken, ohne zu hupen. Nur die Polizei steht etwas abseits, scheint ihre alten Freunde neu suchen zu müssen in der Masse. Und es ist wieder Stau! "Malesch"! ruft einer. "Fattal, fattal"! – meint: Entschuldigung, dass ich mich hier so reinquetsche (mit dem Auto). Dann fahr' du zuerst! Man ist entspannt und großzügig. Die Straßen sind relativ sauber, die Müllabfuhr mit Eselskarren und Müllautos arbeitet. Ich sage meinem Fahrer, dass ich dächte, die Ägypter könnten jetzt das Land, für das sie so kämpfen auch besser sauber halten. Er stimmt zu und meint, die Müllabfuhr würde mit einer neuen Regierung auch besser funktionieren. Ich sage ihm, dass ich nicht so sehr an die Müllabfuhr dächte, sondern an die Leute selber. Er schluckt, nickt und steckt sein olles Taschentuch zurück in die Tasche. An den Tankstellen stehen noch Schlangen. Sameh, mein Fahrer, kann aber voll tanken. Er erklärt mir, dass man auf keinen Fall wolle, dass die Leute Benzin in Kanistern kauften und irgendwohin trügen und irgendeinen Schwarzverkauf anzettelten oder gar Feuerchen legten. Das wolle man mit der Vollversorgung mit Benzin gewährleisten. Hört sich gut an. Vor den Banken stehen lange Schlangen, viele Leute. Die Türen sind zu, und sie lassen immer nur eine begrenzte Anzahl Menschen eintreten. Die anderen müssen warten. Tun sie. Vor einigen Banken stehen Geldtransporter, die vom Militär bewacht werden. Das Geld kommt also. Waren werden allenthalben an Läden ausgeliefert und abgeladen, die Brotleute backen, Costa Coffee an der Ecke hat wieder auf. Auf dem Tahrir haben morgens zuerst die Christen einen Gottesdienst gefeiert, später die Muslims gebetet. So was habe ich überhaupt noch nie erlebt hier! Bei den jeweiligen Gebeten schützten neben den Militärs auch die jeweils anderen die gerade Betenden. Toll! Nach dem Attentat auf die Kirche in Alexandria sei das schon so gut geworden, sagt mir eine Freundin. Sie erzählt auch, wie ihre Tochter, eine Ärztin, in den gewalttätigen Zeiten durch die "schwarzen Männer" aller Medikamente, die sie zu der Krankenversorgung am Tahrir bringen wollte und ihres privaten Geldes beraubt worden ist. Immerhin ist sie selber aus der Aktion unverletzt rausgekommen. Jeder hat was zu erzählen, und auch am Straßenrand stehen überall Leute, die erzählen. Die Demonstranten am Tahrir sind unbeirrt, unbewegbar und absolut sicher, dass sie bleiben, bis sie sicher sein können, dass sie nicht wieder betrogen werden können. Zuviel Misstrauen gegen das Regime ist aufgestaut. Das kann man nicht vergessen, und man muss ihnen Recht geben. Einer der Demonstranten sagt: "Ich bin hungrig und arbeitslos. Jetzt kann ich wenigstens etwas tun, und Zeit habe ich ja." Sie stehen hier für alle anderen, die jetzt wieder mit der Arbeit beginnen, und sie bekommen von größeren und kleinsten Gönnern, die in den Küchen der Fastfood-Restaurants rund um den Tahrir kochen lassen, durch deren Hinterausgänge Essen, Tee und Wasser gebracht. Ihre Zelte stehen als blaue leuchtende Landmarken auf dem völlig zertrampelten Platz. Das wird immer der Ort ihrer großen Taten dieser Tage bleiben. Sie warten. Der ungewollte Präsident muss ihr Land verlassen, damit sie ruhig nach Hause gehen können. Dann werden sie für ihr Essen wieder selber sorgen müssen. Für sich selber, für ihre Landsleute und die in der Welt, die sich hier mit Herz und Verstand eingeklinkt haben, für die, die hier waren, werden sie die Helden dieser Tage sein. Zu Hause ruft WDR 2 an. Ich gebe ein positives Interview in das Sonntagsprogramm. Und noch einmal geht es in den leichten Regen raus zu einem netten Besuch. Mein Fahrer erzählt auf dem Weg wie ein Wasserfall. So habe ich ihn noch nie erlebt. Ein sonst eher ruhiger Mensch. Viele Dinge haben mit "Arm und Reich" in dieser Gesellschaft zu tun. Ich frage ihn, ob es ihn stört, "nur" Fahrer bei uns zu sein, die wir doch für seine Verhältnisse viel haben. Er verneint. Es komme auf die Menschen an. Er sei froh, Arbeit zu haben. Er würde aber auch immer selber entscheiden, ob er mit Leuten arbeiten wolle oder nicht. Sie Ägypter seien sehr emotional und freundlich, aber nicht dumm! Weil sie so freundlich gewesen wären und weil sie der Repression nichts Gemeinsames entgegensetzten, seien sie unterdrückt worden. Aber sie hätten schon lange gewusst, dass es falsch war. Nur seien sie zuvor nie "gemeinsam" gewesen. Er verzieht das Gesicht und haut mit der Hand aufs Lenkrad. "Haram"! – Schande, dass es so lange gedauert hat! Der Abend bricht schon herein, und ich sehe auf dem Liveticker, dass auf und um den Tahrir viele Dinge geschehen. Offenbar ist wieder ein Journalist festgenommen worden. Ayman Noor, der beliebte und bekannte Oppositionelle, der vier Jahre vom Regime ins Gefängnis gesteckt worden war, um ihn zum Schweigen zu bringen – vergeblich –, war auf dem Platz. Ein junges Paar hat sich da Ja-Wort gegeben, der Rat der Weisen tagt wieder – tolle Leute allesamt! –, und jede Menge Gespräche laufen zwischen der Opposition und den verschiedenen Gruppen der Opposition. Die formiert sich jetzt auch im Iran. Der Abend verdichtet die Bilder von den Menschen und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Lichter des Platzes und auf die Worte der Nachrichtenanstalten und der Computer. In ganz Ägypten wie vielerorts auf der Welt reißen dabei die Gespräche nicht ab. Schon das ist ein großer Fortschritt. Vieles ist politisch, und das ist im Moment ja auch das Private, Alltägliche. Gut finde ich das und ungewohnt. Es ist sicher die beste Voraussetzung, um dann bald wählen zu gehen! Aber bis dahin ist noch viel zu tun. 7. Februar 2011 – zwischen den Zeiten Es ist Montag, der 7. Februar. Ich bin spät dran, aber ich habe morgens getrödelt und das Diskutieren über Zeitungen und Leute mit den Freunden im Café ausgedehnt, und dann war alles etwas gedrängt. Wir verlieren den Alltag, wenn wir nicht arbeiten. Der Blick auf die Uhr, das Essen-Kochen-Sollen für die Kinder, die hungrig aus der Schule kommen, die Vorbereitung des Unterrichts, der Unterricht selber. Es fehlt mir, und es tut auch mal gut, es gleiten zu lassen. Was anders ist: ich bin während einer freien Zeit IN Ägypten! Normalerweise nehmen wir in Urlauben ja immer das nächste Flugzeug in die Heimat. Jetzt sind wir hier. Es ist auch kein Urlaub. Es ist Revolution. Was mich im Moment an der Situation so beschäftigt und mich psychisch stört ist, dass die Normalität das Bild ist, das hervortritt. Vor dem ganzen Umbruch. Es ist alles nicht normal, und ich möchte auch nicht, dass jemand glaubt, es sei wieder normal. Die Normalität besteht im alltäglichen Geschäft und im Leben als Zivilbürger. Der Umbruch hat dabei begonnen, ist in Gang gekommen, wird verhandelt und gebremst, wird publiziert und diskutiert und ist greifbar und nicht greifbar. Sehr widersprüchlich sind die Aktionen und Bilder. Und was ist wahr? Was wird erreicht? Was ist der Status quo? Wo wird wieder zurückgenommen, was bereits verhandelt war? Was nicht passieren darf ist, dass es so aussieht, als sei es das gewesen. Man lese Spiegel online, bitte und sehe sich das heute journal über Ägypten von heute Abend noch mal an! Es geht ums Ganze und mit der ganzen Härte der sich klammernden Riege. Ich gehe morgen wieder mal auf den Tahrir. Es ist wunderbar, wenn die Menschen sich freuen, dass man mit ihnen hier ist. Aber alle freut es nicht. Das muss die Welt auch ganz klar sehen. Ich hoffe, durch die Demonstranten und die Menschen, die dorthin gehen, sieht man das auch. Am meisten treibt mich um, die Zeitung zu ergattern, die die Leute am Tahrir jetzt selber herstellen, drucken und herausgeben. Ja, es gibt viele Zeitungen und Berichte. Aber gerade sie sind auch der größte Feind der ungenierten Autoritäten. Manche Bilder aus dem Fernsehen sind einfach ungeheuerlich. Viele Gespräche mit Kollegen gab es heute. Ich bin betroffen und gerührt von ihren Geschichten und Gefühlen. Wir freuen uns alle auf die kommende Zeit und sind doch auch unsicher, was werden wird. Aber das entscheiden wir dann. Welche Bilder waren wichtig heute? Ein kleiner Junge verkauft frische Pfefferminze und fragt mich, ob ich auch eine Pistole möchte. Er lacht. War das jetzt ein Scherz?? Nein, möchte ich nicht. Im Brillenladen, wo ich reklamiere, dass ich durch meine Sonnenbrille besser sehe als durch meine helle Brille, finden sie heraus, dass das rechte Glas der Sonnenbrille eine ganz andere Stärke hat als das rechte Glas der hellen Brille. Wie das denn? Hat jemand einfach falsch abgeschrieben, oder was? Ich soll sagen, welches rechte Glas denn jetzt richtig ist. Ich entscheide mich für die Sonnenbrille und bekomme den Kommentar: die Sonnenbrille sei hier in Ägypten eh wichtiger. Ich solle mich nicht aufregen, sie machten das alles hier schon so lange und hätten immer für alles eine gute Lösung gefunden. Auch für meine Brille. Na, das sehen wir dann! Ich habe keine Lust, jetzt noch zum Arzt zu gehen und frage auch nicht, warum das jetzt wieder so chaotisch ist, und so entscheiden wir das über den Tisch. Ich bin bedient, eigentlich, aber gleichmütig. Wird schon! Auch das ist ägyptische Problemlösung. Zu Hause versuchen wir, für Leo Pommes Frites bei McDonald's zu bestellen. Die sind noch zu. Hardy's ist offen. Das will er aber nicht. Also Artischocken und Quark. Nein, lieber Muffins vom Marriott. Das Hotel ist leer, aber einige Leute sitzen im Garten in der Sonne. Die Ruhe selbst ist das, und doch birgt auch diese Oase inzwischen Revolutionsgeschichten. Wir sind froh, dass wir hier sind und doch bekriecht einen momentan noch ein seltsames Warn-Gefühl, das sagt: Wachsam sein und sich nicht hängen lassen! Morgen keine Radio-Interviews. Heute war Eins Live dran. Dafür lese ich morgen vielleicht mal eine schmalzige Zeitschrift. Wenn ich das fertig bringe mit dem Abschalten. Ach, ja, die Preise: Sie sind gewaltig in den Zeiten der Krise. Für eine Flasche Butagas habe ich heute 30,- LE bezahlt, statt vorher 20,-. Morgen muss ich noch mal Obst und Gemüse für meine Bassima einkaufen. Sonst essen die Kinder und sie gar nichts Frisches mehr. Dann schmeckt’s mir auch nicht. Und Obst gibt es toll und viel. Aber auch teurer als vor zwei Wochen. Wie fast alles, sagt man. Ich brauche noch nicht viel. Hatte einiges und brauche jetzt erst mal auf. Ich will noch ein Wort an die Kollegen schreiben: ich freue mich sehr darauf, Euch alle wieder zu sehen! Ich hoffe, nächste Woche, und ich freue mich sehr, wenn Ihr hier mitschreibt. Wir können ein Bild von unserer vielseitigen Gemeinsamkeit an viele draußen und hier geben. Wir Deutschen haben viel über Euch gelernt in den letzen Wochen, und ich bin sehr froh, dass ich hier bin in dieser Zeit und das miterlebe. Ich muss immer an die Wende 1989 denken und sehe so viele Parallelen! Damals am 9.11.1989 gab es noch kein Internet. Gerade konnte mit viel Mühe und Geduld die Deutsche Welle in Kairo empfangen werden. Wir hörten vom Fall der Mauer hier und konnten es nicht fassen. Wir werden uns alle immer daran erinnern, wo und wie wir waren, als 2011 hier alles zusammenbrach. Ich sehe viele schwierige Tage, Wochen, Jahre. So wie in Deutschland und doch: es hat sich unendlich gelohnt und gelohnt und gelohnt. Yes, you can!! Und ich wünsche Euch, dass Ihr Euch einmal über alles freuen werdet! Das wäre doch ein schöner Lohn für alle Mühen und Stress und die vielen Opfer. Gute Nacht für heute! 9. Februar 2011 – Midan et-Tahrir – Freiheit findet ihren Platz Es ist unglaublich! Hunderttausende, wenn nicht mehr, sind seit dem Nachmittag wieder auf dem Platz! Die Herrschenden machen nur ganz winzige Zugeständnisse, sie verfolgen die Journalisten, sie tun so, als ob sie noch etwas zu sagen hätten. Sie sind noch da, aber man "umgeht" sie. Man straft sie mit Nichtbeachtung, abfälligen Kommentaren, journalistischer Häme und einem "Count Down", der in Nachrichtenstunden zu messen ist. Die Menschen hier arbeiten morgens und auch nachmittags, aber ein beachtlicher Teil geht wieder auf den Tahrir und ist friedlich zusammen und praktiziert Freiheit. Demokratie ist noch nicht, aber Friedfertigkeit. Ich sehe viel Friedfähigkeit und den Willen, das alles ruhig und gewaltlos zu halten. Ich finde es ganz toll! Heute hab' ich es dann doch nicht geschafft, auf den Platz zu gehen. Es war unheimlich viel Andrang. Die Brücken waren nachmittags voll von Menschen. Ich denke als Ausländerin auch oft, ich will sie nicht stören. Ich will nicht so tun, als sei das jetzt so ein Showcase, wo man sich zeigt. Es ist ihr Platz und es wird für die Zukunft eine große Touristenattraktion werden, da bin ich sicher. Erster Besichtigungsort in Ägypten – der Tahrir-Platz! Die Touris werden in Zukunft Karten von der Revolution nach Hause schicken! Die Kamele müssen warten. Das ist dann die moderne Form der Ansichtskarte aus Ägypten! Klasse und mal echt was Neues! Die Revolutionen der Neuzeit sind in Deutschland gelaufen und in Ägypten jetzt. Und hier macht sie ein ganzes Volk mit völlig chaotischer Struktur, aber mit großem Herzen und unheimlicher Ausdauer. Morgen ist "der Tag in Rot". Alle, egal wo sie sind, möchten bitte rote Kleider tragen aus Solidarität mit der Protestbewegung! Die Morgendiskussion war wie immer abwechslungsreich und personell bewegt. Wir haben uns etwas im Kreise gedreht, aber die Zeitungen, die ich alle aufhebe, sind voll auch mit bunten Bildern und schon ganz vielen informativen Artikeln auch gegen die Machenschaften der Regierung. Interessant. Die Angst, es könnte alles zu lange dauern, die Ungeduld, wann endlich, kehrt sich ins Positive, als ich die vielen Fahnenverkäufer auf den Straßen sehe und den großen Andrang vor den Tahrir. Im Goethe-Institut, wo ich mich mittags für zwei Stunden aufhalte, werden neue Tele-Leitungen gelegt und der Hausmeister nutzt mit den Arbeitern die Ruhe und den Freiraum. Mir fehlen die Leute. Es ist leer und einsam. Where is the spirit? On the streets of Cairo! Dann vermisse ich sie gerne. Ich werde jeden fragen, wo er war und werde wieder wundersame neue Geschichten hören, die ich ihnen allen nie zugetraut hätte, wie die halbe Welt. Meine Orangen, die Bananen, die Tomaten, die Paprika, alles ist wunderbar frisch und groß. Sogar die Früchte scheinen dieser Tage zu feiern. Das Brot soll angeblich wieder größer sein. Fürs gleiche Geld versteht sich. Die Milch und der Käse aber ist erst kürzlich wieder teurer geworden, Öl und Linsen, Zucker und Reis liegen weiter auf hohem Niveau und man beschränkt sich. Man teilt auch mit anderen. Die Familien wirtschaften zusammen und Bassima oder Mohammed kochen dann mehr Tomatensauce zum Reis oder noch ein Fladenbrot extra. Dann wird man auch satt. Die Kinder bekommen Obst, Milch und Chips und Schokolade. Satt sind sie dann, aber gut ernährt? Das halbe Volk lebt hier so ungesund. Und die Umwelt ist ungesund, der Verkehr auch, die Verkehrsmittel gehen so. Metro ist ok., die Sammeltaxis und Busse gehen manchmal, manchmal überhaupt nicht. Taxis fährt man nicht regelmäßig, sie sind ja auch teurer als die öffentlichen Verkehrsmittel. Die Taxis aber sind besser geworden. Es gibt mehr weiße, neue Taxis, die auch sauber sind und akkurat abrechnen. Die Schulen und Universitäten sind auch ungesund. Sie bewältigen kaum die Massen von Schülern und Studenten. Die Lehrer sind schlecht bezahlt und geben daher mehr Nachhilfestunden als rechten Schulunterricht. Jeder, der weiterkommen will, muss bei seinem Lehrer auch Extra-Stunden buchen. In den Universitäten gibt es kaum ordentliche Lehrbücher, oder gar eine Bibliothek! Dafür gibt es viel zu viele Studenten und Professoren, die nach uralt Methoden Uralt-Stoff lehren und in ausufernden Prüfungen abfragen. Was man da schreibt, lernt man vorher auswendig. Wer gut auswendig lernt, der schafft's. Mit der eigenen intellektuellen Produktion ist es bislang immer schwierig gewesen. Das fand ich auch immer ungesund. Jetzt aber habe ich große Hoffnung: Mehr politische Aktivität wird zu mehr Diskussion führen, wird zu mehr Reflexion führen, zu mehr Bildung. Aus mehr Bildung kommt auch mehr Anspruch. Daraus resultiert Erneuerung. Also erneuert sich das System von selbst und von innen, wenn alles gut geht. Hört sich jedenfalls gut an. Schau'n mer mal! Dann erneuert sich auch die ganze kommende Generation und die nächste wird post-facebook etwas ganz anderes erfinden und Eigenes hervorbringen, das sich ihren Bedürfnissen anpasst. Das aber ist die wirklich große Chance! Und die ist zum Greifen nahe und doch so schwer fassbar. Ich danke den Kommentatoren dieses Blogs, die sich neu eingeschaltet haben! Mit Giny hatte ich vielleicht mehr als 30 Jahre keinen Kontakt mehr. Ich freu' mich sehr, dass Du Dich gemeldet hast! Und von anderen hab' ich Mails und Beiträge erhalten, die mich sehr gefreut haben. Danke! Menschen finden sich wieder in den Zeiten der Revolution. Eine besondere Verbindung von Menschlichem, Politischem und Kreativen. Das finde ich sehr schön und eine gute Basis für die Zukunft. Bleiben wir entwicklungsfähig! Und bitte überrascht uns mit weiteren guten Aktionen und Ideen, Ihr Ägypter! Wir sind dabei. 9. Februar 2011 – der "rote Tag" Heute war der "rote Tag". Am Vorabend hatte mich die Nachricht erreicht, dass morgen, also heute, alle aus Solidarität mit den Demonstranten etwas Rotes tragen sollten. Also unsere roten Pullover, Blusen, Schals raus aus dem Schrank und über damit! Tom verließ früh das Haus mit rotem Pulli unter dem Jackett, ich: rote Bluse und Schal, rote Ohrringe. Leo ging in die Schule und traf dort erstmals wieder einige Kumpels. Das Arabische Programm lief, und einige ägyptische Prüfungen (Adadeya) wurden zum Ende geführt. Es war etwas ungeordnet, aber immerhin im Rahmen der Schule und damit nach deutschen Maßstäben "geordnet". Einstweilen war auf den Straßen allerdings nichts geordnet! Sondern kleine Wunder bahnten sich an. Am früheren Morgen traf ich einige rote Kollegen in der Sprachabteilung. Großes Wiedersehen! Auf der Straße war nicht so viel Rot, aber als ich auf der Zamalek-Brücke ausstieg, um den Rest des Weges bis zum Café zu Fuß zu gehen, zog eine Kolonne roter Pkws hupend und grüßend vorbei. Etwas weiter, auf der Straße des 26. Juli in Zamalek, stand eine junge Frau, die ägyptische Fahne eingerollt unter dem Arm mit rotem Kopftuch, rotem Pullover, roter Tasche und lief einem Taxi zum Tahrir hinterher. Klasse! Nach einer roten Diskussion kaufte ich bei Drinkies, dem inzwischen schicken Spirituosenladen, roten Wein. Im Nachbarladen, dem Noubi, einem alteingesessenen Antiquitätenhändler, kaufte ich die gestern entdeckten Rotweingläser passend zu unserer Familien-Glassammlung, zurückgehend auf die Gläser-Sammelleidenschaft meiner Mama. Der Rückweg ließ mich allerdings das Rot vergessen und gleich in die nächste ungläubige Staun-Aktion abgleiten: auf unserer langen, hässlichen, vielbefahrenen Musadak-Straße, mit Top Toys – Tabasco - Toy and Joy – Mobinil – Costa Coffee – Apotheken – Hardy's – Pizza Hut – el-Abd – Fotoladen – Radio Shak – Nike – Fastfood – Vodafone – Foul und Ta'amia, staute sich der Verkehr! Warum das? Ihr werdet nicht darauf kommen! Na, ja, das Übliche, denkt man und hupt und schneidet und quetscht. Jedoch weit gefehlt! Menschen mit Fotoapparaten am Straßenrand. Menschen mit ungläubigen Gesichtern an der Ecke gegenüber und dabei, Menschen zwischen Autos, sich zum Schauen drängelnd. Und was ist: Gruppen von jungen Leute, zwischen 16 und 22 Jahren mit Handschuhen, Atemmasken und vor allem mit Besen, Schaufeln und Müllsäcken behangen, kehren in Ecken und Winkeln, an Straßenrändern, in der Mitte und zwischen den Autos den Müll weg. Der wird in den Beuteln gesammelt und auf den Mittelstreifen abgestellt. Das Müllauto ist 200 Meter dahinter und lädt die Sachen ein. Die ganze lange Straße ist voller junger Leute. Unglaublich! Ich hole zu Hause Fotoapparat und Familie, und wir sehen uns das an. Einer koordiniert, dann ziehen sie los. Ich frage sie, ob sie von einer Schule kämen, ein Projekt machten. Nein, sie hätten sich erst ganz kurzfristig über Facebook verabredet. Heute Morgen haben sie, oder andere den Tahrir sauber gemacht, und später seien in vielen Stadtteilen Trupps unterwegs. Die Leute am Rand helfen. Manche kommen aus den Häusern runter auf die Straße, haben selber Besen und Schaufeln in der Hand und putzen mit. Manche bringen Säcke. Manche bringen Wasserflaschen für die Kids. 10. Februar 2011 – ein Präsident packt? Eine Nation wartet auf das Ende. Um 16 Uhr packe ich mein Täschchen mit Pass und Phone und Kleingeld und mache mich zu Fuß auf die zwei Kilometer zum Tahrir. Die Brücken gut gefüllt, ruhig, überall werden Fahnen, Popcorn, Nüsse, Brot und Tee verkauft. Auf der Nilbrücke parken noch Autos. Man läuft auf den Eingang zum Tahrir zu, und die Schlange teilt sich in Männlein und Weiblein. Pass-, Taschen-, Körperkontrollen, dann ein Durchgang durch noch einmal zehn durchleuchtend schauende Frauen. Panzer rechts und links. Bäume, Stacheldraht, Menschen. Alle Schichten, alle Größen, alle Alter, alles. Der Platz ist voll. Links die Baustelle und das Gebäude der Arabischen Liga. Rechts die mit Plastik – wegen des heutigen Regens – abgedeckten Zelte. Rechts und links "Bühnen", vor oder auf denen junge Leute singen, reden, stehen und rufen, singen oder Fahnen schwenken. Um 17:30 bricht ein großer Jubel aus. "Was ist?" – "Mubarak ist weg," sagen sie. Es gebe eine Rede bald. Die Leute lachen, und ich treffe auf fünf arbeitslose TUI-Reiseführer. Alle sprechen Deutsch und freuen sich. Ein Sprechchor skandiert: "Erhebt die Stimme, dann sterbt Ihr nicht"! Wir machen Fotos. Hinter uns vor der Arabischen Liga findet das Abendgebet statt. Seitlich kommen mehr und mehr Leute auf den Platz. Wann ist die Rede? Niemand weiß was. Aber ein General hat ihnen einen guten Ausgang versprochen. Es wird voller und voller. Ich verabschiede mich und gehe durch die Menschenschleusen im Dunkel zurück. Die Brücke glüht. Vor Menschen und hupenden Autos. Ich laufe auf der rechten Brückenseite zurück. Links strömen die Massen mit Fahnen auf den Platz. Die Luft ist frisch und kalt. Der Mond erhellt die Wolken. Weißes Licht fällt auf den Nil. Autos und Beleuchtung der Brücke blitzen orange. Es ist eine schöne Nacht. Und zwischen Nil und Himmel liegt eine große Erwartung. Allen ist klar, dass das nur der Anfang sein kann. Aber den brauchen sie jetzt. 11. Februar 2011 – sie haben es geschafft! Sie haben es geschafft! Es ist unglaublich. Das Land jubelt und alle feiern, und der Tahrir tobt. Und auch heute sind sie friedlich geblieben! DAS IST GANZ GROSSARTIG! Das Ende nach 30 Jahren. Das Volk hat seine Stimme erhoben und durchgesetzt, damit sie den langen Weg in ihre Zukunft endlich gehen können. Wie immer der werden wird, alle sind befreit und mehr als froh und erleichtert. Das ist jetzt kein "ENDE", sondern ein Anfang. Wir wünschen ihnen Glück, unseren tapferen Ägyptern! 12. Februar 2011 – das ägyptische Volk feiert seine längsten 18 Tage Gestern Nacht war die Erwartung so groß und greifbar. Wir waren alle mehr als enttäuscht von der Rede des Präsidenten. Ich bin danach, ohne meine Telephone noch lange zu berücksichtigen, ins Bett gegangen. Frust auf der ganzen Linie. Was soll man da noch sagen? Was hat dieser Mann gehört und verstanden? Nichts. Und was wird werden? Werden sie jetzt so zornig und frustriert sein, dass sie heute früh zum Angriff übergehen? Das Militär provozieren? – Ich konnte es mir nach den Bildern gestern nicht vorstellen, was passieren würde. Ich war mir nicht sicher, ob sie friedlich bleiben könnten. Die Radiosender, die heute angerufen haben, in denen ich Interviews gab, wollten wissen, was jetzt wird. Oh, der Morgen war schwierig. Ich fand, dass das Unkalkulierbarste die Masse der Menschen sein würde. Diese Mengen in Ruhe zu halten – und doch: die Ägypter mit ihrer Freundlichkeit, mit ihrem fröhlichen Temperament – der eine würde den anderen abhalten von Gewalttätigkeiten, wie so oft im Alltag. So wie auf der Straße beispielsweise, wenn es diese kleinen liebsamen, unliebsamen Blechkräche gibt: sie streiten sich lautstark, sie greifen sich auch an. Andere kommen dazu, trennen die Streithähne, klopfen ihnen auf die Schultern, nehmen sie in den Arm, bringen sie in ihre Autos zurück. Die Streithähne steigen noch mal aus und brummeln sich an, alle anderen stehen dabei, bereit zum Eingreifen. Jeder hat ein Schlusswort, ein verächtliches und ein ernstes. Dann kommt einer und drängt die beiden, sich zu versöhnen. Mit gesenkten Köpfen geben sie sich die Hand, wünschen sich Gottes Segen, klopfen sich auf die Arme, steigen ein, danken den Umstehenden und fahren von dannen. Keiner hat das Gesicht verloren, keiner hat gewonnen. Die Sache ist erledigt, und zu Hause wird dann der andere ordentlich niedergemacht. Gewiss findet sich in der Familie einer, der sich als "Mechaniki" um die Schäden kümmert. Man muss ja helfen. Und so kommt alles mit Hilfe aller wieder in Ordnung. Etwas weit hergeholt vielleicht, aber aus dem Leben. So haben sie sich heute geholfen. Sie sind heute früh wieder los zum Tahrir, zum Televisionsgebäude, vor den Präsidentenpalast. Fahnen, Plakate, Essen dabei. Schals um den Kopf und dicke Jacken an. Es war nicht so warm heute. Und es wurden mehr und mehr. In Zamalek zogen zur Gebetszeit alle ab – erst in die Moscheen, dann zum Tahrir. Es war leer, leer, leer auf den Straßen, als ich wieder nach Hause fuhr. Man erwartete allseits die Entscheidung des Militärs. Das war klar. Es gab keine andere Möglichkeit für die Menschen auf den Straßen. Unmöglich auch, dass sich das Militär gegen die Menschen stellen würde! Undenkbar. Der Platz war derweil schon gut gefüllt, ich war zu Hause, der Fernseher lief, die Sonne schien, die Hubschrauber kreisten wieder, und ich zog mich zurück zum Lesen. Abschalten und entspannen. Im Halbmittagsschlaf höre ich hupende Autos, und zwar viele und laut die große Straße entlang fahren. So schnell war ich schon lange nicht mehr auf. Der Fernseher meldete es: Mubarak has stepped down. – Sie hatten es geschafft! Gott sei Dank! Es war ein wunderbares großes erleichtertes Gefühl, und ich war den Tränen nah. So schön kann es sein, wenn es laut auf den Straßen wird! Auf den Balkonen riefen sich die Menschen zu: "Es ist vorbei – er ist weg"! Leute rannten überall rum und riefen sich zu, verkündeten die Botschaft in die Häuser hinein. Darauf haben wir 18 Tage gewartet. Jetzt feierten sie auf dem Platz – ein unbeschreiblicher Jubel durchzog die ganze Stadt. Sonst trägt die Luft zu den Gebetszeiten den Ruf der Muezzine über die Stadt. Jetzt riefen sich die Menschen zu: "Ägypten ist frei – wir haben es geschafft"! Es ist ihr Sieg. Die Fernsehnachrichten der ganzen Welt schalteten Sondersendungen. Ihr alle habt es bald erfahren. Bei uns glühten wieder die Telephone und Radiosender und Freude wollten teilhaben und gratulieren. Die Erleichterung gab allem Raum. Die Feier in unserem Wohnzimmer war auch eine eigene, in der wir unserem guten Gefühl und der starken Hoffnung dankbar waren. Alle Anwesenden stießen auf die neuen Fähigkeiten und das neue Gesicht des jungen Ägypten an. Ein Gang in die Umgebung zeigte unendliche Freude, Stolz, Glück an sich und ihren gerade Nächsten. Über alle Schranken hin war spürbar: Solidarität und Erleichterung. Vor allem aber Stolz und Freude. Alle umarmten sich, beglückwünschten sich, erzählten sich Geschichten, kürzere oder längere. Kinder, alte und junge Leute – ihr habt die Bilder gesehen. Diese Nacht ist zum Feiern da. Morgen und danach wird der Tahrir aufgeräumt, und man wird mit der Arbeit beginnen in den Gremien der Verfassungsbildung, der Gesellschaftsgestaltung, der Anlage politischer Parteien, Institutionen und eines Wahlsystems. Wir sind sicher, es werden gute Leute zusammenkommen, die das Beste für Ägypten suchen. Vielleicht finden sie es nicht sofort, aber nach diesen großen Anstrengungen und Opfern wird die Revolution allen Verpflichtung sein, das Volk und das Land zufrieden zu stellen mit der Arbeit, die sie einbringen in IHRE neue Gesellschaft. Begleiten wir sie dabei mit Vertrauen, mit Rat, Wissen, und Taten und wenn nötig mit konstruktiver Kritik! Sie haben es sehr, sehr verdient! Morgen geht es zur morgendlichen "Siegesfeier" ins Café Simonds, und ich bin sehr gespannt auf die frohen Gesichter und die Geschichten vom 11. Februar 2011. 12. Februar 2011 – feiern, fegen, saubermachen Die Fotostrecke des Spiegel ist für den heutigen Tag sehr sehenswert. Schon gestern kam die Nachricht per SMS und Facebook, dass heute großes Aufräumen angesagt ist: mit Besen und Schaufel durch die Stadt und auf den Tahrir und Umgebung. Und das haben sie gemacht. Auf der Nilbrücke waren nachmittags wieder tausende Menschen zu Fuß unterwegs, sowie Autos und Pferdekutschen. Es war Leben und Bazar und siegreiche Revolution. Auch ich habe noch mal Bilder gemacht und mir überlegt, wo sieht man, dass es sich hier um Revolution und nicht um ein gewonnenes Fußballspiel handelt? Gar nicht so einfach aber da ist z.B. ein Panzerbild: Eltern fotografieren ihre Kinder auf den Panzern mit den Soldaten. Ja, sie trauen ihnen. Sie sind die eigenen Leute, und sie werden sie weiter schützen. Die Absicht der Militärs, auf die Dauer zivile Politik zu machen, halte ich für nicht existent. Dafür sprechen auch die jungen Leute eine zu deutliche Sprache, die sich Berechtigung erkämpft hat, Politik zu machen. Sie haben nämlich heute die Putztrupps in Bewegung gesetzt und es waren viele! Diese jungen Leute im Vordergrund kommen vom Putzen und sind mitten im sonst heftigsten Verkehrsnadelöhr der Stadt unter der Ramsesbrücke mit Schaufeln, Besen und Mülltüten unterwegs. Autos und Kutschen können nur die Corniche entlang fahren, da der Tahrir noch gesperrt ist. Heute ist er noch Pilger – und Feierzentrum dieser Stadt. Morgen und in den nächsten Tagen sollen auch die Dauercamper freundlich überredet werden, das Feld zu räumen. Gar nicht so einfach, wenn man vielleicht sonst kein Zuhause hat und der Platz einem zur lieben Bleibe in Gemeinschaft von Gleichgesinnten – nicht Gleich-Armen geworden – ist. Ich denke, man wird hier sensibel aber bestimmt vorgehen. Aber morgen beginnt der Alltag, den ich auch heute schon in Zamalek erlebt habe. Überall mit glücklichen Menschen. Bei Simonds war eine bewegte Runde zusammen. Zwei Künstler, der eine, ein Musiker, griff sich immer wieder an den Kopf: "Ich hoffe, ich wache nicht auf, und es ist ein Traum", sagte er immer wieder. Der andere, ein Maler, fühlte sich ganz leer. Wusste noch gar nicht, was er anfangen würde. "Es ist so viel Freiheit auf einmal", meinte er, und erwähnte seine 30 verlorenen Jahre. Wahid, der mit einer amerikanischen Firma gearbeitet hatte, hat bis Juli keine Arbeit mehr, da die Amerikaner alles abgesagt haben. Was nun? Wir haben ihn nicht konkret gefragt, aber er war nicht verzweifelt. Das jetzt war wichtiger als Kopfzerbrechen. Es findet sich schon was, und wir, Lisa und ich, laden ihn auch zum Kaffee ein. Natürlich machen Witze die Runde – z.B. dass Ben Ali, der vertriebene Tunesier, an einem Freitag gestürzt worden ist und Mubarak ist auch an einem Freitag abgesetzt worden. Jetzt schafft Ghaddafi den Freitag ab.
Und es werden bissige Karikaturen in den Gazetten gedruckt, ebenso wird moderne Kunst in Hochglanzzeitschriften herumgezeigt. Man diskutiert öffentlich über Minister, deren Unfähigkeit, über Korruption, über die gefundenen Anweisungen des geflohenen und inzwischen festgesetzten, ehemaligen Innenministers zur Terrorisierung der Bevölkerung, über verbotene Bücher und Filme, über die Freiheit der Andersdenkenden, über die Berlinale und über Berlusconi – dabei gibt es allseits großes Gelächter –, über den Nutzen und Schaden des Tourismus, und man überlegt, was man in Zukunft an Projekten planen könnte – gerade im Bereich der Kunst. Lisa ist dafür zuständig. Der Tag geht friedlich zu Ende. Es ist ein großes Ausatmen und Luft holen für den freien Alltag. Beide Taxifahrer, mit denen ich spreche, sind optimistisch, obwohl sie noch nie debattiert haben oder gewählt. "Aber wir lernen so schnell und so viel", meinen sie. "Das Wählen und Ordnung halten, lernen wir auch noch. Es nützt jetzt ja uns selber und unseren Kindern", schließen sie. Sie wissen noch nicht, wie schwierig das sein kann! Ich werde bald wieder auf den Bazar gehen, denn da kenne ich jetzt einen netten Verkäufer von Tüchern. Dieser wird morgen seinen Platz auf der nun tipp-topp sauberen Nilbrücke räumen müssen, ebenso wie den selbstgebauten Teestand. Für Papa Hans aus Herford habe ich bei ihm aus der Mitte der Siegesfeier der ägyptischen Revolution ein extra revolutionäres, braunes Palästinensertuch gekauft. Vom Tag Eins des neuen Ägypten, lieber Hans! 14. Februar 2011 – der sonntägliche Alltag nach der Revolution Wie sieht ein Sonntag für viele Deutsche aus? Ausschlafen, gemeinsames Frühstück, Spazierengehen, Hausarbeiten, Kaffeetrinken, gepflegt essen, Woche vorbereiten, Fernsehen (Tatort?), schlafen gehen. Etwas anders bei uns in Kairo. Da ist es so: um 6:00 Uhr aufstehen, Frühstück machen, Kind einpacken, Kind zur Schule fahren, Teetrinken und Zeitungslesen, aufstehen, Hausarbeit und Einkaufen, Unterrichtsvorbereitung, Mittagessen, kurze Pause, Hausaufgaben abchecken, ab zum Goethe-Institut, 6 Stunden Unterricht, 22:00 Uhr zu Hause, Abendessen, TV und telephonieren, an den Mails und am KairoFamilienNetz arbeiten, schlafen gehen, Wecker stellen, lesen, schlafen. Mir fehlt in Ägypten besonders das Glockenläuten des sonntags und das Spazierengehen durch wohlriechendes, unbebautes Grün. Ich versuche den Sonntag von Unterrichtsarbeit frei zu halten und nachmittags mit meiner Familie einen Sonntagskaffee zu machen, bei dem wir zur Ruhe kommen und es Sonntag sein lassen. Manchmal gehe ich in Evangelische Kirche in Boulak und singe und höre zu, lasse die Gedanken ruhen und treffe Leute aus der Gemeinde. Dann läuten die Glocken unserer fast hundert Jahre alten Kirche, die Kaiser Wilhelm in das Kairo des Jahres 1912 hat bauen lassen. Ein wenig Heimat ist sie immer optisch, akustisch, kulturell, persönlich, "unsere" Kirche. Heute hatte ich allerdings keinen Unterricht, und Leo hatte keine Schule. Es ist ja noch Ausnahmezustand. Die Ausgangssperre ist jetzt zwischen 22:00 Uhr und 9:00 Uhr. So bin ich heute um 9:30 Uhr zum Gottesdienst im kleinen Kreis in die Deutsche Evangelische Oberschule gefahren. Dort haben wir die Woche passieren lassen, und anschließend haben wir zusammen gefrühstückt und mit weiter hinzukommenden Lehrern diskutiert, erzählt und einen Tahrir-Film gesehen. Anschließend sah ich einige Kollegen im Goethe-Institut wieder. Heute beginnen die Kurse wieder. Wir haben uns alle gefreut, uns zu sehen. Nicht nur die eigenen Erfahrungen, sondern auch Probleme mit der Krisenorganisation müssen im Nachklang bearbeitet werden. Da ist noch einiges zu tun. Den Kaffee gab’s dann später zu Hause in der Sonne auf dem Balkon. Und doch war alles anders als an Sonntagen zuvor. Wieder waren die Straßen gut mit Putzkolonnen gefüllt, und neue Demos kündigten sich an. Angstvolle Skepsis bei vielen, besonders bei denen, die jetzt aus Europa zurückkommen. Ich bin mir aber ganz sicher, dass diese Menschen sich hier das Heft nicht mehr aus der Hand nehmen lassen. Sie werden an ihrem Land und sich arbeiten, und alles ist besser als das, was war! Man darf nie vergessen, dass jetzt viel neu gelernt und erprobt werden muss, dass aber die Kraft des Volkes gereicht hat, um in drei Wochen Terror und Militarismus der Diktatur in beispielloser Weise vom Tisch zu fegen. Vertrauen wir doch einfach! Und machen wir nicht alles durch Skepsis kleiner und problematischer als es vielleicht ist. Sehen wir welche Stimmen, und wie viele sprechen werden und die neue Verfassung konstituieren. Seien wir bereit und offen für die uns unbekannte Veränderung! Vielleicht werden wir auf's Neue überrascht werden. Eine Geschichte muss ich noch erzählen: es hat heute ein Teil der Polizei in einem Marsch bis vors Innenministerium demonstriert. Sie haben sich lautstark beschwert, dass sie, die Polizisten, zu den Sündenböcken der Plünderungen und nationalen Unordnung gemacht wurden und werden. Einige waren tatsächlich schnell weg, aber viele haben selber geholfen, Plünderer und Kriminelle zu stellen in diesen kritischen Nächten und Tagen. Sie demonstrierten heute für die Wahrnehmung der Wahrheit wie sie sie verstehen. Die heißt: wenig Geld, Arbeit auf der Straße in dem mörderischen Verkehr, kaum Rechte verglichen mit den Offizieren, die sie befehlen. Das bedeutete und tut es jetzt: Not, weil es finanziell hinten und vorne nicht reicht, und ihr Ansehen jetzt auch noch im Keller ist. Ihr Zorn und ihr Frust war nicht zu übersehen oder zu überhören. Da stellt sich einer von ihnen aber vor sie, redegewandt, vielleicht ein Polizeioffizier, und er erklärt ihnen, dass ihr Protest und ihre Stimme rechtens seien. Dass sie sich aber "zivilisiert" aufzuführen hätten. Und sie tun es. Dann demonstrieren sie weiter, wie sie es noch nie zuvor gedurft haben. Die Menschen sind im "Jetzt" angekommen und was jetzt passiert, ist Stück für Stück der Gang in eine zivile, sich ganz langsam demokratisierende Gesellschaft. In diesem Falle war noch nicht einmal Facebook im Spiel! Aber Angst zu sprechen hatten sie auch nicht mehr. Das gefällt mir sehr. Und wie sagte einer, den ich nicht kenne: "Wenn mit dem Umsturz in Tunesien ein Stein ins Rollen gekommen ist, dann ist mit dem Umsturz in Ägypten ein ganzer Berg in den Ozean gefallen". Damit schloss auch Claus Kleber seine ausgezeichneten Moderationen zu Ägypten im heute journal in dieser Woche. Vielen Dank gerade diesem Team und den Journalisten für seine gute Berichterstattung! 15. Februar 2011 – Tunis, Kairo, Teheran, Algier... Sprüht der revolutionäre Funke weiter durch die arabische Welt? Ein faszinierender und ein gefährlicher Gedanke. Aber heute Abend sieht es so aus, als ob es weitergeht. Wir haben Angst um die Menschen in Teheran und bewundern ihren Mut, denn das Regime ist ganz anders aufgestellt als es hier der Fall war. Vor Brutalität von Schlägertrupps, wie sie hier einen Tag lang unterwegs waren, in Teheran aber institutionalisiert sind, wäre sogar ich mit meiner Familie in den Bus zum Flughafen gestiegen. Aber das ist uns gottlob erspart geblieben. Der Alltag im Institut brachte heute etwa die Hälfte der Kursteilnehmer in die Kurse und allenthalben viel Erzählen mit sich. Manch einer sah den unehrenhaften Abgang des Präsidenten auch mit einem weinenden Auge. Das andere freute sich über "Freiheit" und neue Perspektiven. "Warum hat er sich nicht um uns gekümmert? Was ist in ihm vorgegangen, dass ihm so egal ist, was aus uns wird? Warum hat er nicht gesehen, wie arm Leute hier sind und was will er mit Milliarden?" Die Leute verstehen auch nicht, wie ein Ägypter, einer, der angeblich dieses Land so liebt, dass er in ihm sterben möchte, ihnen das antun konnte. Manche sind wohl aus diesem Grund – Enttäuschung und Scham über den Landsmann – nicht auf die Straße gegangen. Diese können sich nur schwer freuen und Freiheit ist für sie "Chaos". "Chaos ist, wenn keiner dir sagt, was du tun sollst und denken darfst, und wenn keine Polizei deine Sicherheit gewährleistet." Das habe ich heute auch gehört. Es ist gut, zuzuhören. Wie allen, allen mir immer auch Parallelen zur deutschen Wende 1989/90 ein. Die Kursteilnehmer entdecken sie selber mit geeigneten kleinen Texten und sind weit mehr als ich erstaunt. "Aber Ägypten ist doch nicht wie Deutschland!", sagte heute einer. Nein. Soll es auch nicht sein. Aber wir können ja mal sehen, was wir auch zusammen lösen können im Kleinen und im Großen. Wir Deutschen können von den Ägyptern vielleicht ja auch was lernen? Da lachen sie alle und denken an den Demo-Spruch auf dem Tahrir (auf einem Transparent in Deutsch): "Kopf hoch, du bist Ägypter"! Morgen ist der "Geburtstag des Propheten". In langen Schlangen stehen die Menschen vor den Süßigkeitengeschäften und kaufen unendliche Mengen von Zuckergebäck. Von welchem Geld, frage ich mich. Keine Ahnung. Teilen sie, wie sie jetzt geteilt haben? Ich werde übermorgen im Sprachdiplomkurs fragen, wie sie gefeiert haben. Vielleicht kommt jetzt nach dem Fest auf dem Tahrir Platz das Fest in der Familie. Dieser "Mulid en-Nabi" ist jedenfalls in vieler – aber nicht aller – Meinung zucker-süß! Und ich hoffe, dass der Zucker ein wenig die Nerven derer beruhigt, die sich jetzt so Führer- und führungslos vorkommen. 17. Februar 2011 – "Mama, was ist eine Revolution?" Das Zuckerfest ist vorbei, "Mulid en-Nabi", und sie haben alle ordentlich gefeiert. Beschwingt von der nationalen Feierstimmung und Einheit, von größerer Reinlichkeit allenthalben, von Stolz auf das "Ägypter-Sein" und auch von Sonne, die den Sandsturm gestern früh aufriss, um uns in den warmen milden Frühling hineinzugeleiten. Obst und Gemüse sind reichlich auf dem Markt, und jeder macht sich Gedanken um sich selber und um das Land. Die meisten gehen aber einfach wieder an ihre Arbeit und warten auf Kunden. Vor mir liegen die Zeitungen der Egyptian Mail ab dem 1. Februar. Ein Dienstag war das: Ägypter stehen Schlange nach Lebensmitteln, Wut auf die Unruhestifter der Vortage, Chinesen, die ihren Landsleuten untersagen, Ägypten zu verlassen, während andere sie ausfliegen. Europa ist ratlos. Es gibt Unruhe an den Börsen, aber die Armee hilft den Bürgern, ohne sich jedoch gegen den Präsidenten zu stellen. Journalisten werden gejagt, und Menschen weinen um ihre Toten, aber alte Minister behalten ihre Posten im kurz umgebauten Kabinett. Internet und Mobiltelephone werden abgeschaltet, das passiert am 3. Februar, aber Mubarak will hier bleiben und sterben. Die Demonstranten wollen nicht sterben, aber sie nehmen ihr hohes Risiko in Kauf. Ein Demonstrant steht auf dem Tahrir mit einem Schild: "Liebe Touristen, wir beschützen Euch!" Es wird auf dem Platz christlich und muslimisch gebetet, dabei schützen die einen die anderen. Geld wird knapp, da die Automaten leer sind. Man hilft sich aus. Eine "Flaggen-Manie" setzt ein. Antiken und das Ägyptische Museum werden geplündert – warum nicht vorher ordentlich gesichert? Die Community des Tahrir gibt am 6. Februar eine eigene Zeitung der Demonstranten heraus. "Die NDP ist klinisch tot" – sagen Analysten. Die Muslimbruderschaft spricht erstmals mit der Regierung, und viele Frauen sind auf bei den Demonstrationen. Die ersten Gefangenen der Demonstrationen werden wieder auf freien Fuß gesetzt. Paare heiraten auf dem Platz. "Egypt offline" funktioniert trotzdem, aber anders. Aljazeera Cairo ist geschlossen worden, Wael Goneim (Google-Aktivist) wird freigelassen und zur Ikone des jungen Kampfes. Das Internet ist zurück "Cyber Revolution", und man richtet sich ein im Camp auf dem Tahrir. Aber man macht auch schon sauber und weiß, die Sache ist noch nicht zu Ende. Führer haben keine Untertanen mehr, und Ägypter ahnen das Gefühl der Freiheit. Kinder fragen: "Mama, was ist eine Revolution?", und Ägypten verwehrt sich dagegen, mit dem Iran in einen Topf geworfen zu werden. Reformen täuschen das Volk auch nicht mehr, denn Ägypten hat sich schon so verändert: "Ägypten wird nie mehr sein, wie es war". Die Wahl des Volkes fällt auf die Generäle, und auch die Armee wählt das Volk! Aber die internationale Politik scheint außen vor zu bleiben. Mubaraks Rücktritt wird erwartet "wie es das Volk verlangt" (10. Februar), das Ägyptische Pfund fällt, die Inflation liegt bei 10,8 Prozent, und doch sind sie auf dem Weg zur Demokratie. "Wenn nur bald gestern wäre", wünschen sich die, die sicher sind, dass Mubarak zurücktritt und dann ist gestern bitter. Der Diktator beugt sich nicht fremdem Diktat! Während noch auf dem Tahrir gezeltet und protestiert wird, übernimmt die Armee. Die USA werden sauer. Aber die Zeitungsverkäufe sind drastisch gestiegen und die Fahnenverkäufe natürlich. Endlich: Er geht. Streiks, Parlamentsauflösung, ein Land ohne Touristen wendet sich selber zu und räumt im Freudentaumel auf. Die Luft ist klar und sauber, die Welt wundert sich und bewundert die Ägypter. Es ist "Ägyptens schönste Stunde". Medien verändern sich über Nacht, Valentinstag und Zuckerfest, das Land ist "neu geboren". Die Touristen werden zurückerwartet, und der Rat feilscht um die neue Verfassung. Gleichzeitig freuen sich alle auf die Wahlen und waren doch meist noch nie selber wählen. Auch Geld gibt es wieder von den Banken, aber die Schulen bleiben noch geschlossen. In der Deutschen Schule und den Institutionen beginnt die gemeinsame Arbeit am kommenden Sonntag, und manche meinen bis jetzt: die Realität sei fremder als die Fiktion, die man von ihr hatte. Sie machen sich jetzt das Geschenk der Entdeckung ihrer Realität und kaufen sich mit ihren Zuckerkuchen auch ihr eigenes Versprechen an die Zukunft: dies ist unser Land, jetzt kümmern wir uns drum. Ich hoffe, dass sie geduldig und fröhlich bleiben und noch besser werden, als wir es je von ihnen erwartet haben. 21. Februar 2011 – "Das Lied vom Nil" Sonntagabend in Kairo. Jeder Sonntag, jeder Montag, usw. wird im Moment nach den Tagen der Revolution gedacht und zurück-erlebt: was war vor vier, vor drei, vor zwei Wochen - oder auch erst vor einer Woche? Letzten Sonntag war schon der erste Arbeitstag nach dem Triumph. Da wurde geputzt. Heute sah ich immer noch Putztrupps. Die Stadt ist wirklich ziemlich sauber geputzt und alle bemühen sich um Erhalt. Auf dem Tahrir war am Freitag ein großes friedliches Fest. Feiern als neue Erfahrung und als Ausdruck eigenen Selbstbewussteins und der ganz persönlichen Freude. Eine Gruppe junger Leute zog am Freitagmittag, die ägyptische Fahne aus Luftballons zusammengefügt, über die Oktoberbrücke zum Platz der Befreiung. Die Fahne schwebte, die jungen Leute schwebten, alles war und ist luftig und frei. Es ist eine ganz besondere Atmosphäre: etwas nie Gekanntes ist neu, selbst errungen und muss erfahren werden. In meinen Kursen herrschte Hallo-Stimmung, großes Erzählen. Die jungen Leute sprühen vor Eloquenz. Jeder versucht auszudrücken, was er gemacht hat (auf Deutsch!), jeder hat eine eigene Geschichte, und sie haben alle zusammen nun ihre ägyptische Geschichte. Aus meinen gesammelten Zeitungen haben sie zwei Plakate über ihre Revolution gemacht. Da liest man von diesen vergangen Tagen und von den Wünschen an die Zukunft. Sie sehen die Härte der Zeit, sie lassen sich gleichzeitig jedoch von ihrem guten Gemeinschafts- und Friedlichkeitsgefühl leiten. Das haben sie wirklich. Wir haben es gesehen. Sie passen aufeinander auf und denken übereinander nach. Wer von uns kannte das zuvor? Wir Goethe-Mitarbeiter hatten heute eine ausnehmend erfreuliche Versammlung im Institut. Die Ereignisse wurden besprochen und in alle Richtungen hin diskutiert. Auch da war eine große Offenheit, Ehrlichkeit, Einsatz und Realismus gleichzeitig. In genau dieser Atmosphäre werden neue Zusammenarbeiten angelegt, die auf Ehrlichkeit, Zuhören und Lernen von einander beruhen. Das war ganz deutlich spürbar und deutlich neu als Stimmung bei unserer Arbeit. Ich bin berührt von der Haltung meiner Kollegen, die sich in all dem Trubel der Revolution um sich, um ihre Familien, um die Arbeit und sogar noch um uns Deutsche, die wir hier geblieben sind, gesorgt haben. Ich habe mich auch um sie gesorgt. Wir hatten teilweise guten Kontakt, der uns auch stärkte, als viele hier abzogen. Das gilt auch für die beiden deutschen Kolleginnen, die hier die Stellung gehalten haben. Sie haben das toll gemacht. Es scheint, als sähe man sie alle mit anderen Augen, und ich werde diese Sorge nie vergessen. Sie verbindet mich neu mit ihnen. Es kommt hinzu die allenthalben ausgelassene Freude – es war teilweise ziemlich laut während unserer heutigen Versammlung – dass sie uns nun mitnehmen möchten auf ihre Reise in die Zukunft. Wir hatten verabredet, uns heute in den Nationalfarben zu kleiden, und so ist dieses Bild vor der Sprachabteilung in Dokki entstanden: Morgen ist Montag – Montag vor vier, vor drei, vor zwei Wochen, letzten Montag... und eine neue Woche beginnt. Was wird Neues passieren? Ich bin von Mittwoch bis Sonntag auf Reisen und sehe alles von etwas weiter weg – Abu Dhabi und Dubai. Eine neue Perspektive und der Blick von außen. Mit einem Text von Bert Brecht möchte ich die Leser auf eine kleine Schreibpause für eine hoffentlich gute Woche einstimmen. Einer Oberstufenklasse hat er gefallen: Das Lied von der Moldau, von Bertold Brecht 3. März 2011 – wie schwierig! Wie unmöglich? Wie wertvoll! Ich bin zurück aus der Zukunft. Abu Dhabi und Dubai. Was für ein Kontrast! Eine Welt aus Geld, Glas, Luxus. Eine Welt aus der Wüste erstanden, ins Leben gerufen und durch Business und Services belebt! Beeindruckend ist der Wille, sind die Visionen, die Mittel und die Umsetzungen. Real oder irreal? Manchmal wusste ich es nicht so genau in diesen wenigen Tagen, weg aus Ägypten. "Wie geht es Euch? Wie ist es jetzt in Ägypten?", wurde ich immer wieder gefragt. Es war schön, dass auch in den Vereinigten Arabischen Emiraten angekommen war, dass da unsere vielen wuseligen Ägypter etwas Unglaubliches erreicht hatten. Und man bewundert sie, man glaubt es kaum, man findet, dass es eine "Arabische Revolution" war und ist. Würdig und ehrenvoll und verdient und glücklich. "Warst du da, oder bist du ausgereist?" "Nein, ich war da!" Diese Frage richten sie dort wie hier an mich. Als ich dann am Montag früh in Kairo landete, war mir bewusst, dass ich zum ersten Mal in dem "freien Ägypten" meiner Generationen ankomme. Sehr anders sah es auf dem Flughafen nicht aus. Und über den Taxifahrer musste ich mich auch gleich – eigentlich – ärgern. Aber ich hab' es dann gut sein lassen. Alle leiden ihre eigene Not. Sie kämpfen um die Pfunde, die ägyptische Lira. Was soll ich mich mit ihnen streiten, ob es für uns umgerechnet 5 Euro zu viel oder nicht sind? Ankommen hieß am Montag früh: gespannt und gerne ankommen, wo unser Lebensmittelpunkt seit mehr als 20 Jahren ist. Vielleicht bin ich noch nie so neugierig in Ägypten angekommen wie jetzt. Jetzt sind sie endlich wer! Und jetzt haben sie endlich was! Ihr eigenes Land für sich. Und was werden sie daraus machen? Welche Zukunft eröffnet sich jetzt? Es war auch alles weiterhin recht aufgeräumt. Ich finde immer Ecken, die mir nicht gefallen, wo Müll und Kram rumliegt und nichts organisiert ist. Aber es waren gleich morgens auch wieder Putztrupps unterwegs. Bassima, unsere "arabische Mama", kam mit frischem Gemüse und guter Laune zu uns, weil sie ihren Enkelsohn (4 Jahre alt) endlich zu einem Zahnarzt gebracht hatte, der ihm die vom Zucker zerfressenen Backenzähne gezogen hat. Eine Instruktion, wie das Kind in Zukunft zu ernähren sei, hätten die Eltern auch erhalten. Das sei jetzt in Ordnung, meinte sie. Bassima hielt sich die Aktion besonders im Hinblick auf die neue Zeit zugute und im Hinblick auf die vielversprechende Zukunft für die Kinder. In den Zeitungen und in Gesprächen hingegen kommt jetzt Unruhe auf. Was passiert eigentlich? Was machen sie in diesem "Rat der Weisen"? Niemand weiß es so genau. Es gibt Statements, aber das Militär ist wohl weder geübt, noch gut beraten, sich selbst auch offensiv und seine Entscheidungsschritte transparent und nachvollziehbar darzustellen. So bleiben viele kleine Schritte der Annäherung an eine neue Verfassung, an Parteiengründungen, an politische und soziale Erweiterungen, so bleibt das Ringen um das Neue für viele im Unklaren. In der europäischen, medial organisierten, expressiven und aggressiv extrovertierten Gesellschaft könnte das eine riesige Kampagne zur Selbstdarstellung sein. Hier holpern sie so vor sich hin. Darüber ist man ungeduldig und unzufrieden. Zu Recht. Ungeübt. Unprofessionell! Was machen eigentlich die Frauen? Im Rat der Weisen sind wohl keine. Nawal es-Saadawj, die große alte Dame der ägyptischen Literatur, Frauenrechte und Befreiung, ist ganz radikal: alle alten Mubarak-Leute müssen sofort radikal weg! Nur noch junge, aktive, die Veränderung erzwungen habende und politisch engagierte, der Bewegung des neuen Ägypten angehörende Leute müssen in die Verhandlungen und dann an die Macht! Radikal. Es wird etwas dazwischen geben, bis zu den Wahlen. Bei den nächsten und übernächsten Wahlen werden die Jungen mehr und mehr zum Zuge kommen. Da bin ich sicher. Die Zeit jetzt ist einfach zu kurz. Dass aber die Frauen eine wichtige und aktive Rolle in dieser Gesellschaft spielen, sieht man überall: auf dem Tahrir, in den öffentlichen und privaten Berufen, in Familien sowieso, in den Medien. Und in der Politik? – Ja, das ist gerade jetzt eine komische Sache. Ich weiß auch nicht, wo sie jetzt sind, da über die Zukunft verhandelt wird. Ich fand bislang die Frauen immer gut und nach der Vorgabe ihrer Möglichkeiten in einer islamischen Gesellschaft vertreten. Die Frauenrechtlerinnen mögen da noch viele Defizite sehen, aber ich habe immer mit Frauen in entscheidenden Positionen und an Schaltstellen zu tun gehabt. Sie waren da, sie haben agiert, sie haben ihre Jobs wunderbar erledigt, und ich habe sie wenig über ihr Los als Frauen jammern hören. Uns mag das nicht in unsere Vorstellungen passen, aber Frauen in Ägypten haben eine eigene Stimme und auf dem Tahrir hatten sie sie auch – allen Defiziten, die ich selber sehr deutlich sehe, zum Trotz. Ich denke, die Frauen-Persönlichkeiten werden sich einschalten, wenn es um die Arbeit in neuen Parteien geht, wenn es um die Neugestaltung der Gesellschaft im Detail der neuen Verfassung gehen wird. In allen Gremien und überall. Man denke an die Masse der jungen Facebook-Frauen, die jetzt noch an den Universitäten sind. Oder an die, die schon in Jobs oder aber auch noch arbeitslos sind. Man denke an die, die als junge Frauen und Mütter in den Familien gerade auch diese Revolution mit vorangetrieben haben. Schweigen werden sie sicher nicht. Quotenfrauen sind diese Frauen nicht und wollen es auch nicht sein. Sie halten sich im Hintergrund, um zur rechten Zeit in den Vordergrund zu treten. Und soweit ich sie im Unterricht erlebe und auf der Straße, sind sie unglaublich selbstbewusst, freuen sich auf ihre Aufgaben und denken an ihre Zukunft und an die ihrer Kinder und Familien. Die Schule war heute geschlossen, wie auch das Goethe-Institut. Demonstrationen vor den ehemaligen Folterkammern der Geheimpolizei in Dokki verliefen aber friedlich, haben hoffentlich auch Ventile geöffnet und Erleichterung verschafft. Das muss alles jetzt sein. Meine Beduinen-Freunde im Sinai, Scheich Selim in Serabît el-Chadim, habe ich angerufen. Es geht ihnen gut. Sie grüßen uns, und wir können jederzeit zu ihnen kommen. Das habe ich mir früher einmal immer ausgemalt: hier in Kairo ist Aufstand, und wir ziehen uns in die Wüste, in die Berge des Sinai zurück, gehen zu Selim und Aida. Dort gibt es durchsichtiges, dünnes Riesen-Fladenbrot und einfachstes Essen, Natur, Beduinen, Wasser und Datteln und die ganze große Herzlichkeit dieser so ganz anderen Menschen des Sinai. Was haben sie alles erlebt, welche Wandlungen ihrer Existenz mitmachen müssen nach den Kriegen! Und Selim und seine Familie, die Beduinen aus Serabît el-Chadim, waren immer mit uns verbunden, seit wir in den 80er Jahren zum ersten Mal dorthin fuhren. Und sie würden uns immer schützen und bei sich aufnehmen. Ohne Fragen, ohne Erklärungen, nur weil sie sich uns verbunden haben – einmal vor langer Zeit. Nicht wir lassen sie an uns heran, sondern sie schenken uns ihre Freundschaft, zeigen uns, was Gastfreundschaft ist und Respekt. Das ist ganz einfach und ganz ehrlich und ohne Worte und sehr eindringlich von Mensch zu Mensch. Blicke genügen, Worte vermitteln, aber Gemeinschaft entwickelt sich in der stillen Solidarität, aus dem Bauchgefühl heraus. Große Bewunderung habe ich dieser Tage auch für Leute, die im alten Mubarak-Regime Unterschriften verweigert haben, sich aus großen Gremien zurückgezogen haben, weil sie Unterschriften unter Verträge zugunsten der Machthaber nicht leisten wollten und leisten konnten. Solche Leute sind dann geächtet und verächtlich gemacht worden. Jetzt geht es darum, wer wann was unterschrieben hat, wer das allgemeine Abräumen von Geldern mitgemacht und ermöglicht hat. Jetzt stellt sich heraus, wer der Adler, und wer die Tauben waren. Und doch versuchen noch einige Tauben die Adler mit in den Abgrund zu ziehen. Viele Unschuldige müssen auch da Angst haben und hoffen, dass ihre Redlichkeit sich als wahrhaftig erweist im Sinne von: eindeutig gegen die Inanspruchnahme von persönlichen Vorteilen und Opportunismus. Und wie viele "Wendehälse" gibt es jetzt! Unerträgliche Falschheit! Meine Realität ist: Schule ist bis auf weiteres Tag für Tag zu planen. Ausgangssperre ist bis auf weiteres von 12:00 Uhr bis 6:00 Uhr früh. Daher beginnt die Schule auch erst um 8:15 Uhr. Sehr angenehm. Die Kurse im Goethe-Institut sind bewegt und belebt. Immer gibt es etwas zu diskutieren, neue Motivation beim Lernen und beim Besprechen von Problemen. Themen werden gewählt, und die Betonung liegt in ihrer Auswertung und der Diskussion ihrer möglichen Relevanzen für die aktuelle und zukünftige Realität der Ägypter. Einkaufen geht normal und gut, die Straßen sind wieder voll, und es gibt die üblichen Staus, aber mit größerer Geduld. Leute unterhalten sich politisch. Nachrichten sind wichtiger als TV-Unterhaltung. Wir Ausländer werden "angezapft", weil und wenn wir bereit sind, Denkanstöße zu geben und nicht zu belehren. Die Verbindung zwischen unabänderlicher Geschichte und sich ständig ändernden Realitäten als Thema in Diskussionen und der Anschauung lebendig zu halten, das ist mein größtes Vergnügen meinen jungen Leuten gegenüber. Es ist ein Geben und Nehmen in vollen Zügen. Es macht großen Spaß und hilft über manche Ungeduldigkeiten vielleicht hinweg. Contenance bewahren und sich zwischenzeitlich weiterbilden, um bereit und bedacht zu sein, wenn die Wahl, wenn die Entscheidung für oder gegen die Pluralität des freien Ägypten kommt. Wie schwierig! Wie unmöglich? Wie wertvoll zu erringen! 6. März 2011 – Mohsen, der Zeitungshändler Freitag und Samstag. Tage, an denen wir frei haben, wo wir uns in unserem Café treffen können. In Zamalek bei Simonds. Inzwischen ist es eine feste Runde von Leuten, die während der Revolution da waren, die sich auch jetzt – z.T. noch täglich – dort sehen. Um 11:00 Uhr ist Termin. Lisa kommt, Wahid kommt, auch andere, die dazugehören. Bei Mohsen auf dem Bürgersteig holen wir vorher die Zeitungen. Ein "Willkommen", ein Gespräch. Meine Gazette drückt er mir inzwischen ohne Geld in die Hand. Dafür kaufe ich manchmal auch teurere Illustrierte oder bringe Lagen von Plätzchen oder Bonbons für seine Kinder. Mohsen kenne ich nun auch schon über 20 Jahre. Noch bevor ich meine Kinder bekam, ging ich zu Simonds. Mohsen war schon da. Ein ganz junger Mann damals. Wenn ich mein Geld zu Hause vergessen habe, gehe ich zu ihm auf die Straße, und er gibt mir, was ich brauche. Er beschafft meinem Mann den Spiegel, mir die Brigitte oder Leo Kicker oder ähnliches. Wann immer Al-Ahram oder ein Fluggast Zeitungen rausgibt, hebt er mir auf, was ich gerne lese. Mit dem Mann im Musikladen an der Ecke ist er gut bekannt, und kürzlich saß er bei der Auswahl der neuen Gitarre für Leo mit uns im Laden. Für Mohsen würde ich jederzeit viel tun, wenn er mich bäte. Heute war er irgendwie sauer. Ich weiß aber nicht warum. Ich habe ihn auch nicht gefragt. Gestern dagegen habe ich mit Lisa Fotos gemacht, und er war prima drauf. Freitag und viele Zeitungen! Ganz bizarr jeden Freitag ist, dass immer um 12:30 Uhr erst ein Licht ausgeht, dann gehen die Rollladen runter. Dann hört man die Gebete durch die 26.-Juli-Straße hallen, dann geht der zweite Rollladen runter und alles Licht aus. Wir bezahlen und gehen. Die Türe schließt sich für eine halbe Stunde ganz. Während der Revolution war das jeweils der Anfang der freitäglichen Großdemonstrationen, und wir haben alle geschaut, dass wir schnell nach Hause kamen. Diese Erfahrungen werden uns wohl immer begleiten. Jetzt sind wir froh und doch... Die Kriminalität scheint zu steigen: Leute, die Waffen gestohlen haben, scheinen andere auszurauben. Autos werden auf der Ring Road überfallen, die Polizei ist nicht da, und wenn sie da ist, tut sie nichts. Da ist einfach noch nichts Neues aufgebaut. Immerhin hat sich der neue Premierminister, Essam Sharaf, sehr beliebt beim Volk, gestern auf dem Platz gezeigt und ganz offen mit und zu den Leuten gesprochen. In Alexandria und Kairo sind die Gebäude der Staatssicherheit gestürmt worden. Man wollte die Akten vor der Vernichtung retten. Keine Aussagen über die Verbrechen der Vergangenheit? Ich weiß nicht, ob es gelungen ist, aber auch das erinnert stark an den Sturm auf das Gebäude der Stasi in Ost-Berlin. Auf "ein weites Feld" hatte der Geheimdienst seine Aktivitäten angelegt, und ein solches bleibt es für die kommenden Jahre zur Aufarbeitung – frei nach Günter Grass. Mögen Leute wie Joachim Gauck oder Marianne Birthler in diesem Lande gefunden werden, die mir ihrer eigenen Geschichte für die Ehrlichkeit der Aufarbeitung der ägyptischen Vergangenheit bürgen. Und mögen die jungen Ägypter mit der Neugier und dem Interesse an der eigenen Geschichte bereit sein, die eigenen Wahrheiten mit allen Schmerzen und Lichtblicken sachlich und verbal deutlich vor ihrem Volk offenzulegen und auszusprechen, damit eine ordentliche, breite und offene Diskussion entsteht. Es lohnt sich sehr! Aber es ist auch ein weiter Weg, wie wir wissen. Gut so, dennoch! Vor unserem Simonds warten immer zwei Kinder auf Lisa und mich. Sie verkaufen frische Pfefferminze "Na'ana" und warten auf ein kleines Geld von uns. Lisa hat ihnen heute erst mal Croissants gekauft. Besser Naturalien als immer Geld. Das Geld geht an die Familie. Die Croissants gehen direkt in ihre Finger. Diese beiden – Bruder und Schwester – stehen vielleicht für die Kinder, die – der ärmsten Schicht angehörend, kaum beschult, auf der Straße lebend –, sowohl das gesamte negative Potential (Frust, Neid, Aggressivität) in sich tragen, als auch das gesamte positive Potential dieser Revolution: Chancen! Welche Zukunft eröffnet sich ihnen? Was liegt vor dieser Generation? Was können sie leisten? Was können sie erreichen, was über das Potential ihrer Eltern hinausgeht? Werden sie den Weg schaffen, weg von der Straße in einen Beruf, in Verhältnisse, die ihnen Konkurrenzfähigkeit durch Bildung und Ausbildung ermöglicht? Schwer vorstellbar im Moment. Sie sind so fröhlich noch und hüpfen mit ihren Leckereien auf den Bürgersteigen davon. Vielleicht noch nicht ihnen, aber ihren Kindern wird es einmal gelingen, in ein Bildungs- und damit Überlebenssystem einzusteigen, das ihnen mehr Möglichkeiten als jetzt eröffnet. Man darf die Latte nicht zu hoch hängen. Aber mit guter Bildung für alle Kinder wäre doch schon sehr viel in Aussicht gestellt! Auf, Generation Facebook in Ägypten! Arbeitet an der Bildung Eures Volkes, und Ihr werdet ein ungeheures Potential offen legen und für den Aufbau mobilisieren können! Lisa und ich werden den beiden Kindern weiterhin Essen und kleine Gelder zustecken und sehen, dass sie fröhlich bleiben, wenn sie uns sehen. Ihre eigenen Realitäten kennen wir nicht. Nicht, was in ihren Familien vor sich geht. Wir wissen nicht, was ihnen auf der Straße noch alles passiert, wir wissen nicht, was sie in dem vermutlich einen Raum, wo sie vielleicht leben, erfahren. Wir wissen nicht, was sie denken, und worüber sie sprechen, wenn sie nicht auf der Straße sind. Wir wissen nicht, ob ihre Eltern sich um sie kümmern, oder ob die beiden sich um sich selber kümmern müssen. Sie schaffen vermutlich sogar das. Und da bin ich wieder bei Mohsen: Auch er hatte einst wahrscheinlich nicht sehr viel andere Voraussetzungen. Sein Zeitungsladen ist heute unser Anker, und er selbst eine respektierte Person bei Ägyptern und Ausländern. Er ist ein sehr guter Mensch und hat einen klugen und gesunden Verstand. Solche Menschen sind Ägyptens Stärke. Er ist einmalig, aber wie ihn gibt es hier ganz viele. Gehen wir da hin! Dann sehen wir, wer dieses Ägypten ist. 11. März 2011 – Ägyptens Freiheit zeigt viele Gesichter Einen Monat ist es her, dass dieses Land frei wurde. Die Probleme des "auf-dem-Wege-Seins" sind genau so gravierend wie gedacht in allen möglichen Punkten: Geduld, Zeit, Konflikten von Interessen- und Menschengruppen, Organisation, Geld, Arbeit, etc. Aber wenn man sich spricht, wenn man auch zuhört, dann ist meist am Ende: "Wir sind sehr optimistisch, aber wir brauchen viel Zeit." Richtig, richtig. Es wird viel Zeit brauchen, und ganz langsam alles in seine Ordnung kommen, die dann für weitere Wahlperioden besteht oder für besseres Wissen noch einmal angepasst werden muss. Nach dem Willen des Volkes. In Zamalek hat uns Ibrahim Ghazala Künstler, Organisator und Mäzen, ein Plakat gegeben, das übermorgen in einer arabisch-englischsprachigen Magazin über Kunst und Kultur auf Arabisch mit Namen Elkhayl (heißt auf Deutsch/Englisch: "Imagination") erscheint. Der Künstler Salah Amani hat es gemacht. Es fasst die Revolution auf dem Tahrir zusammen. Wenn ich bedenke, wie viele Expressionen – im besten expressionistischen Sinne – von dem, was seit dem 25. Januar hier passiert ist, ich inzwischen gesehen habe, dann ist das nur eine. Aber ich bin schon beeindruckt, und es ist fast eine Art "Suchbild". Andere Expressionen habe ich auf dem Verschlag eines Geschäftes in einer Seitenstraße des Tahrir gefunden. Ebenso eindrücklich auf ihre Art. Wie Menschen beflügelt sind, sich jetzt frei auszudrücken! Man muss sich auch ins Gedächtnis rufen, dass in Ägypten in staatlichen Schulen Kinder bislang kaum an Malen, Zeichnen, an Farben, an Musik herangeführt wurden. Sich-Ausdrücken in Bildern und Zeichnungen ist nicht, was Eltern, Lehrer und Gesellschaft bislang auf die pädagogisch-kulturelle Lern-Agenda gesetzt haben. Und doch – vielleicht gerade deshalb – gibt es hier unglaublich mutige, eigenständig arbeitende Künstler, die immer gegen den Strom ihre Bilder, Bücher, Filme, Musik produziert haben. Jetzt kommen jedoch plötzlich noch ganz andere Menschen ans Malen, ans Zeichnen. Ihre Zeichnungen stellen mit Spaß, mit Ernsthaftigkeit und Intellekt dar, schreiben teilweise auch, was sie erleben und denken. Auch die Plakate während der Demonstrationen zeigten immer wieder diese Freude an der Darstellung im Bilde. Da scheint oft etwas auf, was an "Hieroglyphen" erinnert, oder? Aber auch anderer Kommerz, gepaart mit Nationalfreude und Sozialaktivität, hat sich rund um den Tahrir ausgebreitet. Wobei zu bemerken ist, dass manche Händler, die ihre Geschäfte eigentlich auf dem Bazar, dem "Han el-Halili", haben, inzwischen in Richtung Tahrir ausgezogen sind, um wenigstens dort das eine oder andere Geschäft zu machen. Nun nicht mit Touristen, sondern mit den eigenen Leuten und mit dem Rückhalt der ganzen Nation. Menschen überall tragen diese Hüte, Stirnbänder, die Landesfarben auf der Haut oder in den Kleidern. Sie laufen nicht ohne die Fahnen in der Tasche auf und über den Tahrir. Und man kommt miteinander ins Gespräch. Man mag sich und zeigt das auch. Und auf dem Tahrir haben heute wieder Menschen demonstriert für die Einheit von Christen und Muslims. Die Zelte in der runden Mitte des Tahrir sind fort. Aber man ist präsent. Der Verkehr wird derweil von zivilen Helfern umgeleitet und fließt langsam und zäh an den Aktivisten vorbei in die großen Seitenstraßen ab. Dort sind vermehrt Fußgänger mit Fahnen unterwegs und am Freitag Familien mit Kindern in Nationalfarben eingekleidet. Früher ging man "in den Club". Heute geht man erst mal zum Tahrir. Früher ging man als Tourist erst einmal zu den Pyramiden, heute geht es auf den Platz des Volkes. Und das haben wir heute selber für's Familienfoto nachgestellt. Wenn ich in den nächsten beiden Wochen in Leipzig die Buchmesse besuche, mich im Seminar des Goethe-Institutes fortbilde, werde ich gewiss von Kairo und der Revolution erzählen müssen. Und ganz sicher gehe ich Anfang April wieder mit Freuden auf den Platz, wenn ich zurück bin. Dann hat schon die erste Wahl zur ersten Änderung der Verfassung stattgefunden. Und sie wollen endlich alle auch hingehen! Sie freuen sich drauf! Ich mich auch. 20. März 2011 – Geduld Ich schreibe weiter aus Ägypten und über Ägypten, wenn ich wieder im Lande bin. Ich war jetzt eine Woche für das Goethe-Institut bei einem Seminar zur Leipziger Buchmesse in Leipzig. In mühevoller und sorgfältiger Kleinarbeit, in Referaten und mit Referenten wurden wir (20 Mitarbeiter aus 19 Ländern) informiert über den Büchermarkt, über Übersetzungsförderung, über Literaturvermittlung und Projekte und konnten erfahren, wie ungeheuer aktiv und lebendig Leipzig die gesamte Lese- und Buchkultur, Menschen aus aller Welt wie uns, aufnimmt und betreut. Was hat das mit Ägypten zu tun? Es hat mir ein weiteres Mal auch die Möglichkeit gegeben, über Ägypten zu berichten, und uns an den Anfang einer spannenden Entwicklung zu stellen, im Verlaufe derer sicher auch eine großartige Entwicklung im Bereich der Literatur und Entfaltung von Schriftstellerei und Übersetzung stehen wird. Die Kollegen aus aller Welt haben diese neue Entwicklung mit Neugier, Interesse und Respekt kommentiert und hinterfragt. Das hat mich gefreut. Ich habe gemerkt, wie sehr wir jetzt an der Schwelle stehen, und wie viel Geduld wir mit Antworten haben müssen. Japan und Libyen stehen jetzt erst einmal im Vordergrund des Interesses der Weltöffentlichkeit. In einer Woche kommentiere ich dann aus Kairo, was die Ägypter Neues bewegt. Bis dahin! 1. April 2011 – Demos und Bücher in Zeiten des Umbruchs Zurück in Ägypten nach einer Kultur- und einer Reisewoche zu Freunden und Familie, empfing mich der Frühling und blauer, strahlender Himmel. Ich bin gerne wieder hergekommen. Auf der Reise hatte ich das Interview im Spiegel, Nr. 11/11 mit Amr Moussa gelesen, der sich um die Präsidentschaft bewirbt und dem Land nun für eine Zeit zur Verfügung stehen möchte. Erfahrung und Ruhe legt er in die Waagschale. Aus der ZEIT Nr. 13 brachte ich die Stellungnahme des jungen Politikprofessors mit deutscher Lehrerfahrung, Amr Hamzawy mit, zum Thema Verfassungsänderung, Wahl, Abstimmungsverhalten und Bedenken gegen die Veränderung der Verfassung im Moment. Es wird politisch hier, dachte ich. Und so war es: Am ersten Tag zurück im Unterricht berichtete mir eine junge Frau, sie sei nie politisch gewesen und jetzt diskutierte ihre ganze Familie dauernd über aktuelle Politik, über die Wahlen, über den Alltag und alles sei politisch! Sie hätten in der Familie noch nie so viel geredet, und sie hätten alle unterschiedlich abgestimmt bei dieser ersten Wahl zum Verfassungsreferendum am 19. März. Und jetzt würden sie doch eigentlich auch gerne "Politikwissenschaft" studieren wollen. Sie hätten gar nicht gedacht, wie vielseitig das alles sei, meinten die Kursteilnehmer. Jetzt gäbe es an den Hochschulen ja auch endlich Leute, wie Amr Hamzawy, die Parteien gründeten und lehrten. Wie hoch interessant und motivierend! Weniger motivierend fand ich den enormen Verkehr. Da jetzt alle Schulen wieder arbeiten, sind morgens um kurz vor 8:00 Uhr enorme Menschenmassen unterwegs zur Arbeit und zur Schule. Es ist schon um diese Zeit Stau. Ab nächster Woche ist die Ausgangssperre nur noch von 2:00 Uhr früh bis 6:00 Uhr früh, und dann sind die Schüler wieder vor den Arbeitenden unterwegs. Besser! Die Börse arbeitet wieder. Die Presse blüht. Die Massen an Zeitungen, die ich jetzt in den Auslagen bei Mohsen und anderen Zeitungsverkäufern sehe ist enorm! Es ist bunt und lebt von wilden arabischen Schlagzeiten – die Mubaraks werden in alle Richtungen auseinandergenommen, wie Mohsen mir erklärte: kriminell, verächtlich, karikiert, bedauernd, lächerlich, auf jeden Fall aus einer guten Distanz, die auch alle Schattierungen von Kommentaren erträglich erscheinen lässt, ob man nun Anhänger oder Kritiker gewesen sein mag oder jetzt ist. Schon heute, aber auch morgen und übermorgen veranstalten Kulturinstitute und die Amerikanische Universität rund um den Tahrir-Platz Ausstellungen von Büchern und Buchverkaufsstände. Im Februar war ja die Buchmesse, die ein großes Forum für die Intellektuellen und jungen Leute in Ägypten ist, der Revolution geschuldet, ausgefallen. Morgen werden Demonstranten und Literaten Seite an Seite ihre Meinungen sagen und das geschriebene und gedruckte Wort abwägen. Das finde ich eine gute Nähe in der Nähe des Tahrir-Platzes. In Leipzig, wo ich zur Buchmesse und zu einem exzellenten und sehr inspirierenden Seminar des Goethe-Institutes sein durfte, haben wir auf der Stadtführung eine lokal wohl bekannte, bemalte Hausfassade entdeckt – ich kenne den Namen des Künstlers leider nicht –, die ganz ähnlich dem Plakat, welches ich im letzten Beitrag eingestellt habe, die Revolution der DDR-Bürger 1989 und den Rückblick auf die DDR reflektiert: Auch hier findet Geschichte einen großflächigen, bildlichen Ausdruck, der doch in seiner Farbigkeit auch die Vielfältigkeit und die Freude abbildet. Freude am Erreichten und Freude an der Massenbewegung, die nicht bizarr oder beängstigend ist, sondern die solidarisiert. Ein besonderes "Demonstrationsgefühl", das offenbar in beiden Fällen ähnlich gesellschaftlich wirkt: es stiftet selbstbewusstes Nationalgefühl. Mein Ägyptengefühl wurde gleich nach der Ankunft allerdings auch auf die Probe gestellt. Unsere Vermieterin eröffnete uns, dass wir zugunsten familiärer Nutzung in absehbarer Zeit werden ausziehen müssen aus unserer Wohnung in Dokki. Wieder umziehen. Diese schöne helle Wohnung verlassen. Werden wir eine Wohnung finden, die wir für noch einmal zehn Jahre oder mehr schön finden? Sie muss uns auch schützen, so wie wir uns hier "sicher" gefühlt haben, als es draußen knallte. Der Laden um die Ecke, der uns zu jeder Tages- und Nachtzeit versorgt, der Bügler, der Gemüsemann, der Apotheker, alle weg, und wir werden neue dienstbare Helfer finden müssen. Wehmut, Sorge, Rückblick, auch Unmut und Zweifel, ob man das überhaupt noch machen soll, oder doch nun gehen? Aber wohin und wovon leben, wenn der Arbeitsmittelpunkt ja hier ist. Auch hier also noch einmal ein Umbruch und vielleicht ein Neu-Anfang. Wir haben Zeit, eine Wohnung zu finden und jetzt sehen wir uns erst einmal um. Wir wissen, wie eine gute Wohnung sein soll. Wir wissen, was nicht geht. Wir haben Erfahrung mit Umziehen und mit ägyptischen Umständen und dem Leben hier. Vor Missgriffen sind wir nicht gefeit, und ich habe keine Lust auf solche. Schon deshalb werde ich uns Zeit lassen. Ich habe mich auch wieder beruhigt und denke daran, dass jedes Ende auch ein Neuanfang ist. Passt eigentlich zur Zeit und zum Ort. Passen wir hier hin? Ich weiß es nicht immer. Ich bin doch auch sehr deutsch geblieben, sehr meiner Kultur verbunden und der deutschen Lebensweise. Vielleicht ist das aber gerade der Schutz, den man intellektuell und emotional braucht gegen die Alltäglichkeit einer Gesellschaft, deren Teil man nur am Rande ist. Insofern ist die Wohnung für mich wichtig. Die Wohnung ist mein Terrain und das meiner Familie und Freunde. Dort möchte ich geschützt sein und in meinem kulturellen Rahmen leben. So wie die Ägypter nun ihr Land nach der Revolution als ihre Wohnung, als ihr Land empfinden. Wir wollen uns alle wohlfühlen. Ich probier' es dann wohl auch! Ausgang ungewiss. 9. April 2011 – Weltweite und ägyptische Umbrüche Heute ist Freitag, der 8. April. Fast zwei Monate sind es her, dass wir mitten in der Revolution waren, und nur etwas mehr als zwei Monate zuvor begann das Jahr 2011. Was ist alles passiert, seit wir in ein Neues Jahr hineingefeiert und sinniert haben? Unglaublich! Manchen ist es zuviel. Ich frage mich, wohin wir in dieser Geschwindigkeit laufen. Nicht nur Tunesien und Ägypten, auch Libyen, der Jemen, Syrien und der Rest der Arabischen Welt ist in Umbruch. In Japan ist der Super-Gau in jeder Hinsicht für die Japaner und die Welt in Gang gesetzt. In China setzt die Diktatur Ai Weiwei fest. Zuvor eröffnet ein deutscher Außenminister eine Kulturausstellung, die der Diktatur dient? Sollten wir das mitmachen? Oder sollten wir dem Volk dienen? Was tut die Wirtschaft und die Politik? Sieht sie zu? Es sieht so aus. Das finde ich höchst beschämend – gerade als Deutsche. Hier in Ägypten formt sich neues Sozial- und Wirtschaftsleben. Neue Ängste, wie Sicherheitsangst, wie Angst um den Tourismus, aber auch ganz existentiell – um das tägliche Einkommen und Auskommen der Familien liegt offen und wird geäußert. Aber auch politische Angst, um die Rückkehr und die Konterkarierung der Revolution. Alte Mubarak-Leute, die immer noch gegenhalten, die immer noch irgendwo sind und Fäden ziehen, Unruhe stiften und stiften wollen, um weiter Macht zu behalten oder wieder zurückzugewinnen. Das Gute an diesen Ängsten ist, dass sie offen ausgesprochen werden, und freitäglich gehen die Menschen auf den Tahrir, um an diese Sorgen und ihre Ängste zu erinnern, sie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Das finde ich richtig. Sie sind organisiert, sie sind friedlich, und sie nehmen ihre Kinder mit. Für sie tun sie das auch. Wie gut, dass es hier so schnell und direkt auf die Mubarak-weg-Lösung, so relativ friedlich, gelaufen ist. Das sagen alle immer wieder. Dass sie noch lange hier bangen und werden kämpfen müssen, ist klarer denn je! Aber es ist es alles wert. Ich treffe mich weiter jeden Freitag und Samstag um 11:00 Uhr in Zamalek mit denen, die auch während der Revolution in Zamalek bei Simonds waren. Immer, wenn am Freitag gegen 13:00 Uhr vor dem Gebet die Rollläden des Cafés geschlossen werden, und wir unsere Zeitungen und Gespräche einpacken, wissen wir, dass wir jetzt – anders als vor zwei Monaten – in eine freie Freitagswelt hinausgehen. Und die Pferde und Kamele über uns auf der 26. Juli-Bücke werden wir nie vergessen. Und nicht die Bilder vom Tahrir am 25. Januar und die ernsten Bedenken, die wir uns damals beim Nach-Hause-Gehen in den Abschied legten. Meine private Wohnungssuche gestaltet sich mühsam, weil die Preise für bewohnbare Wohnungen absurd sind, und weil der Rest des Angebotes indiskutabel in der Substanz und im Wert ist. Aber ich habe Hoffnung, dass sich was findet. Was ist dieses Problem gegen andere Probleme von Freunden oder Menschen dieser Welt? Kriegen wir auch hin. Ich frage mich bei der Geschichte nur, ob bei all den Umbrüchen im Land und in der Welt ich jetzt aus diesem Umbruch – Umzug auch noch was extra lernen soll? Neue Zeit? Neuer Ort? Neues Lebensgefühl? Ist es Zeit? Es kostet alles auch Kraft, aber es geht uns gut. Morgen geht die Suche weiter. Außerdem habe ich tolle neue Bücher bestellt, die ich in die Osterferien nach Basata mitnehmen werde. Eine Woche lesen und Ruhe im Sinai. Meine Viktoria kommt und Leo ist auch mit seinen Kumpels dabei! Und dort ist Ostern und ist ein Ort, wo ich mich hundertprozentig richtig und hingehörend fühle. Im Glanz der Sonne und des Mondes am Strand, des Golfes von Aqaba. Dort bin ich nur zuhörend dem Plätschern oder Rauschen des Meeres, eintauchend in die Welt, die die Bücher mir öffnen. Welten jenseits meiner Lebenswelt und doch in den Lesemomenten unmittelbar erreicht: Max Frisch und sein Leben in diesem Jubiläumsjahr durch eine neue Biographie (Julian Schütt) und Bildbiographie (Volker Hage) beschrieben und geehrt. Herta Müllers Atemschaukel, und Michel Houellebecqs Die Möglichkeit einer Insel, Mohammed Hanifs A case of exploding mangoes, Roger Willemsens Die Enden der Welt – das ähnelt sich alles, oder? Ich bin sehr gespannt auf die Erkenntnisse und Leseerlebnisse. Welche Musik passt dazu? Welche Farben? Bilder? Menschen? Geschichten? Vielleicht male ich dann wieder oder habe einfach gute Gespräche mit Leuten, die auch dort sind, und die ich jetzt noch nicht kenne. Vor allem aber freue ich mich auf die Gespräche mit meinen Kindern und ihren Freunden. Auf Ostern mit schmelzenden Schokoeiern in der Hütte versteckt. Auf ein Leben in der Friedlichkeit der Hütte, durch deren Bambus tagsüber die Sonne durchblitzt und blinkt, und durch die ich nachts kühle, schwarze Mondluft atme. Über der ich Millionen Sterne der Milchstraße erahne oder auch mal nur eine einzige Sternschnuppe erhasche. Dann werde ich ganz hinausgehen in den kühlwarmen Sand und die Nacht so lange es geht. Ich werde mit offenen Augen, mit wachem Ohr und tiefem Atem das alles aufnehmen, um aufzutanken für Neues und Kommendes. Es war schon immer so und doch: wer hätte vor einem Jahr gedacht, dass die Welt schon wieder ganz anders ist – auch und besonders hier in Ägypten! 20. April 2011 – Frohe Ostern aus dem Sinai! April und Ostern. Mein Blog wird wohl immer noch gelesen, wenn ich auch nicht mehr so regelmäßig schreibe. Mir scheint es wichtig, substantiell zu bleiben und doch den Alltag im "Neuen Ägypten" beschreiben. Der vierte Monat des Jahres 2011 hat uns den Frühling gebracht. Kühle Nächte noch, aber auch schon heiße Tage, an denen wir unsere Klimaanlagen laufen ließen. Man kann sagen, dass die komplette alte Regierung in Tura (Südkairo) im Gefängnis sitzt, während Hosni Mubarak mit Herzproblemen im Krankenhaus in Sharm esh-Sheikh festgesetzt ist. Es geht um die Anordnung des Beschusses von Demonstranten, um die wissentliche und rücksichtslose Inkaufnahme und Erwartung des Todes von vielen jungen Leuten und Demonstranten, und es geht daneben auch um die Vermögen in Immobilien und Geschäften, die die Familie Mubarak und ihre Vertrauten für sich angehäuft haben, während auch sichtbar das Volk immer weiter ins finanzielle, bildungsmäßige, soziale, politische, etc. Abseits geriet, ja auch gerne dort gehalten wurde. Dank junger, gewitzter und entschlossener Menschen, dank Facebook und des großen Gemeinschaftssinnes und dank ungestillter Zukunftsträume und nie vergessener Hoffnungen ist diese Diktatur niedergezwungen worden. Jetzt freilich herrscht viel Unsicherheit allenthalben. Der Anfang vom Anfang ist im Gange. Die innere Sicherheit vor allem muss durch neu ausgebildete Polizisten und ein System der Autorität und Sozialität neu aufgebaut werden. Auch das ist eine langfristige Aufgabe. Die letzten Wochen waren sehr hektisch, und ich fand mich und uns oft ziemlich strapaziert. Eine neue Wohnung ist immerhin inzwischen gefunden. Sie ist hinter der Schule in Dokki in einer kleinen Straße in einem Familienhaus mit umwachsenden Bäumen und hohen Räumen. Sie ist schön geschnitten und relativ preisgünstig, hat jedoch weder eine fest eingebaute Küche noch irgendwelche Klimaanlagen oder Schränke. Wir hatten naiv gehofft, nicht mehr in Ägypten umziehen zu müssen. Jetzt ist es so etwas wie: Furchtbar, was da alles auf einen zukommt und: Wir sind gespannt, wie wir das hinkriegen und wie sich der Vorteil von Schulnähe und auch Fußnähe zu meiner Arbeit auswirken wird. Wir machen was draus und es kann auch schön werden. Leo war zuletzt etwa vierzig Minuten mit dem Fahrer von der Schule nach Hause unterwegs, wenn er um 14:45 Uhr die Schule verließ. Auf dem Fußweg könnte er den Weg in zehn Minuten machen, was wegen Verkehrs und steigender Temperaturen aber nicht empfehlenswert ist. Festzustellen war jedenfalls schon, dass die neue Vermieterin entsetzlich hinter dem Geld her ist, was – wie eine Freundin lakonisch meinte – jetzt besonders krass sei, da niemand Geld in der Hand habe. Auch der Makler konnte den Vertragsabschluss kaum erwarten und schien ehrlich glücklich. Wir sind vor allem froh, zu wissen, wohin es geht. Wir sind auch froh, dass wir unseren Allround-Mohamed haben. Er ist Techniker, kennt sich mit dem Kauf von Klimaanlagen aus, mit ihrer Installation, mit der Installation der Küchengeräte, von Ofen und Kühlschrank, mit Besorgung von Schreiner und Klempner. Er wird die Umzugskartons organisieren, packen tun wir selber. Er wird Leute und Autos für den eigentlichen Umzug beordern und beaufsichtigen, und er wird uns helfen, unsere Fernseher und Technika ans Laufen zu bringen. Eine echte Stütze der Familie! Eigentlich so ein typisch ägyptischer guter Geist, den viele hier haben und wirklich auch brauchen. Gestern bin ich mit fünf Kindern – zwei eigenen – und drei von Leos Freunden erst mal in unsere jährlichen Osterferien nach Basata quer über den Sinai gefahren. Basata ist seit 13 Jahren meine Zuflucht im Frühjahr. Hier sind die Kinder klein gewesen, größer geworden, hier waren Freunde mit uns, die Ägypten wieder verließen, hier waren meine Schwester und Familie, mein Vater mit Edith bereits mit uns, hierher kamen immer auch Freunde der Kinder mit. Basata, die Idylle zwischen Taba und Nuweiba am Golf von Aqaba: Hütten am Strand aus Bambus, solide und phantasievoll gebaut und ausgestattet mit Zimmern, Terrassen, Betten, ausgelegt mit bunten Teppichen und Beduinen-Wolltaschen für vielen kleinen kosmetischen und praktischen Utensilien. Das Meer direkt vor Augen, hört man den Wind durch die Hütte ziehen, sieht nachts die Milliarden Sterne über dem Meer, die Milchstraße und gegenüber die Berge Saudi Arabiens in je nach Wetter changierenden Farben. Fische springen aus den flachen Fluten, Schnorchler und Schwimmer durchziehen das leicht bewegte klare Wasser, das so gut nach Salz und Algen riecht. Weicher Sand wärmt tagsüber, nachts ist er kühl und feucht unter den Füßen. Tags gebaute Sandburgen werden dann umspült und langsam hinausgetragen zu den leider ihre Lebenskraft einbüßenden Korallenriffs, wo die Fische nie schlafen. In Basata geht es weitgehend selbstverantwortlich und ökologisch zu. In der großen Haupthütte wird gekocht, gegessen, an niedrigen Tischen auf Kissen gesessen, hier wird sich getroffen, gespielt, gelesen, Politik und Leben besprochen, hier werden Kontakte geknüpft, Beduinenschmuck verkauft und in allen Sprachen der Welt unter fast freiem Himmel miteinander kommuniziert. Wer genug von der Gemeinschaft hat, geht in seine Hütte und liest, setzt sich in den Sand oder geht spazieren hinter die Felsen zur Düne oder am Strand entlang. Adel, der Fahrer mit seinem Peugeot, hat uns gestern früh um 4:00 Uhr in Kairo abgeholt und hierher gefahren – etwas mehr als 500 Kilometer. Es war kein Problem aus der Stadt herauszukommen, trotz Ausgangssperre zwischen 2:00 und 5:00 Uhr. Die Durchfahrt durch den Suezkanal war allerdings erst gegen 5:30 Uhr geöffnet. Es sei nicht ratsam, nachts zu fahren, meinte Adel, da es nachts Übergriffe von Räubern, die mit Autos und Motorrädern aus El-Arish im Norden auf diese Sinai-Straße gegeben habe. Auch deshalb sei der Neuaufbau der Polizei sehr wichtig, um auch diese Kriminalität wieder in den Griff zu bekommen. Hier in Basata ist es jetzt voll, aber nicht so, wie in vorausgegangenen Jahren. Niemand hier scheint allerdings irgendwie beunruhigt zu sein oder sich unsicher zu fühlen. Wir auch nicht. Ich muss immer an die tolle Selbstverteidigung der Ägypter denken. Und ich sage mir, dass die Kriminalität in diesem Lande nie irgendwie erschreckend sichtbar geworden ist. Jetzt ist sie gestiegen auf der Basis einer außer Kraft gesetzten Rechtsverbindlichkeit und auch, weil so viele materiell so schlechtgestellt sind. Aber das waren sie auch vorher und wären es auch mit Mubarak. Allein jetzt sind die Strolche wirklich selber die Verantwortlichen für ihre Untaten und nicht das System. Die Mehrzahl der Ägypter verurteilen diese Überfälle als Angriffe auf die Ideale ihrer neuen Zivilordnung und gesellschaftliche Ächtung ist den Räubern sicher, was freilich den Überfallenen wenig nützt. Aber wie gesagt: nichts zu fürchten hier! Im Gegenteil, es gibt viel Anschluss und Teilnahme und ein weites sonniges Feld von Ruhe, Community und Umtriebigkeit in gemeinsamen Freizeitaktivitäten im Sande. Ich lese gerade Arno Geiger, Der alte König in seinem Exil (Hanser Verlag, München 2011). Arno Geiger beschreibt darin seine Wahrnehmung seines an Alzheimer erkrankten Vaters und meint, diese Krankheit sei im Grunde ein Augenöffner: jeder Gesunde brauche heutzutage unglaubliche logistische und intellektuelle Fähigkeiten und Fertigkeiten, um den Alltag zu bewältigen. Menschen, die den Überblick verlieren, die Fähigkeit, sich Überblick zu verschaffen und Ordnung zu halten und herzustellen, verlieren all ihre Sicherheit und ihren Halt (aaO., S. 58). Dem Vater ist diese Fähigkeit abhanden gekommen. Mir gefällt der Gedanke, sich bewusst zu machen, gerade in diesen Tage, dass bereits die Neuerungen, die jeder täglich und stündlich erlebt in ihrer Einordnung und Bewältigung reichlich an Zahl und kompliziert an Inhalt sind. Sie verlangen uns einiges ab und unser Ausdruck dafür ist wohl: "Stress". Hinzu kommen die Neuerungen, die nicht aus unserem privaten Leben hervortreten, sondern die uns politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich, beruflich, schulisch treffen, von wo wir im Grunde traditionell Stütze, Dauer und Stärke erwarten. Familie, Religion, Tradition, Ideologien, Rollen und Vaterland (aaO.) gaben auch hier in Ägypten den Menschen ihre Stützen und in dem Moment, wo diese Stützen weggebrochen sind, fühlt man sich unorientiert, krank, hilflos. Glücklicherweise ist die Krankheit dieses Landes heilbar. Die Bewältigung des Alltags muss dennoch jeder einzeln und alle miteinander unter gewissen Schmerzen durchmachen. Dabei sind wir nun beim christlichen Osterfest, das wir morgen feiern. Am Montag ist für die Arabische Welt Sham en-Nassim, und für uns alle ist es das seit Urzeiten gefeierte Frühlingsfest. Erneuerung nach Härte und Winter und die Hoffnung auf eine lichtvolle und bunte Zeit im Frühling und Sommer. Erst mal in kleinen Schritten, damit die Einordnung gelingt! In diesem Sinne wünsche ich allen Freunden und Lesern Frohe und schöne Ostern! 20. Mai 2011 – Ya Masr! Ja Ägypten! Oh Ägypten!? Wir sind doch erst am Anfang! Heiße Tage, langsam kommt sattes, frisches Grün in die Bäume. Rot-orange blühen Baumkronen und durchsichtig feine Blättchen brechen aus den trockengrauen Stämmen hervor. Ich liebe diesen Ausbruch des Sommers hier! Es gab kühlere Tage, insofern hatten wir auch einen Frühling in diesem Jahr. Normalerweise kommt der Sommer Knall auf Fall. Jetzt ist er da. Mein Revolutionskunstfreund Ibrahim Ghazala hat Lisa und mir heute das dritte Heft seiner arabischen Kunstzeitschrift gebracht. Tolle Beiträge, Bilder, Aufmachung! Wie lebendig diese Szene hier ist! Phantastisch. Hier ist Kunst nicht in aller Munde, aber im öffentlichen Raum überall sichtbar. Davon zeugen auch die zahlreichen Graffiti, die man in der Stadt an Mauern und auf dem Pflaster findet. Überall gibt es Konzerte, und in der Oper tanzen und musizieren einheimische und internationale Ensembles. Zur besseren Erläuterung der anstehenden und ungelösten Probleme möchte ich vor allem auf die Beiträge des Bloggers "Sandmonkey" unter Rantings of a Sandmonkey verweisen: Extrem intelligent und durchdacht und in Folge seit Januar die Ereignisse und Probleme Ägyptens kommentierend. Markiert Euch die Seite und folgt ihr von Zeit zu Zeit! Das ist die ägyptische Innenansicht, der ich völlig zustimme und von der auch ich gerne einiges meinen eigenen Beobachtungen hinzufüge. Jetzt gehe ich Felukkafahren und sehe mir Kairo vom Wasser aus an. Es wird das braun-graue Kairo sein. Wenige Häuser am Ufer sind beleuchtet, die Hotels wenig belegt. Der von Süden kommende Wind jagt drängend die Schiffe auf dem Nil dem Delta, seiner Mündung ins offene Meer entgegen. Der Weg flussabwärts ist mühsam und dauert länger, der Weg zum Hafen zurück nach Norden mit dem Wind geht schnell und glatt vonstatten. Die Lichter der Stadt gehen an, während man auf dem Fluss ist. Die Dämmerung und Nacht tauchen uns in die Hülle des Dunkels, das wir nicht beleuchten können mit hitzigen Diskussionen und Aktionen auf den Straßen. Nie ruht diese Stadt, aber die Nacht gibt ihr und seinen Menschen im Nacht- und Familienleben einen kleinen Frieden. Eine Ruhepause bis zum Morgen und dem neuen Tag, an dem alles von neuem los- und der Kampf des Alltags weitergeht. Dann brodelt es wieder auf den Straßen und man kann nicht glauben, dass hier irgendwo Regeln der Ordnung walten. 27. Mai 2011 – die "zweite Revolution" nach der Revolution Freitag, der 27. Mai ist hier in Kairo ein heißer und bedeckter Tag. Die Hitze – über 35°C – drückt die Geschwindigkeit, mit der wir uns bewegen. Das dumpfe Licht macht die Stirnen runzlig, die Augen zusammengekniffen und trübt den Blick in die Ferne. Also bleiben wir nah am Geschehen. Gestern erzählte mir ein Bekannter, der nach Ägypten importiert, dass Importe derzeit fast nicht zu machen sind, da im Ministerium alle Angst hätten, Papiere zu unterschreiben. "Wir warten!" Worauf, wissen sie auch nicht, denn niemand steht oben, der sagt: das ist das Gesetz und danach könnt ihr entscheiden. Weder gibt es ein komplettes, verbindliches Gesetz, noch einen, der oben steht. Verhängnisvoll. Auf der anderen Seite sind die Wirtschaftsbeziehungen, Exporte erfreulich, und vom derzeitigen G8-Gipfel kann man auch Positives erwarten. Heute aber ist – zur Stunde – aufgerufen, wieder auf den Tahrir zu gehen. Gruppen von zumeist jungen Leuten rufen seit Wochen zu einem Tag der "Zweiten Revolution" auf, um zu bekräftigen, dass die Reformen jetzt beschlossen werden müssen, nicht erst nach den Parlamentswahlen, und dass das Militär zu langsam reagiert. Es geht vielen nicht entschlossen genug, und damit haben sie Recht. Um 18:00 Uhr soll Schluss sein und das Militär hat seine passiv beobachtende Teilnahme garantiert, genauso wie auf der anderen Seite die Aktivisten die Friedlichkeit der Aktion garantiert haben. Soweit von Tweets und auf Aljazeera zu sehen, geschieht alles so, wie es soll. Man kann also zufrieden sein und hoffen, dass die Stimme des Volkes klarer wird und selbstsicherer, aber auch dezidierter in vielem. Vor allem haben sie der Mahnung der Muslimbrüder, nicht zu protestieren eine Absage erteilt und lassen sich nicht vorschreiben, wann sie sprechen. Das finde ich sehr gut. Von meinen Freunden der Freitagsrunde kamen einige mit festen Schuhen, Wasserflaschen und nur kleinsten Handtaschen ins Simonds zum Revolutionskaffee, um hernach weiterzuziehen zum Tahrir. "Wir wollen nicht zu Hause sitzen, während man seine Stimme wieder erhebt. Unterstützung kommt nicht von der Wohnzimmercouch aus, sondern von der Straße", sagte mir eine Dame. Unterstützung ist jetzt friedlich vor Ort! Es ist erfreulich, dass die Fähigkeit zur Solidarität und das Vertrauen in die eigenen Menschen auch seit der Revolution weiter gehalten hat und viele sagen, "die Ägypter sind ein friedliches und friedfertiges Volk, und sie werden diesen Frieden um jeden Preis halten, so wie sie es vom 25. Januar bis zum 11. Februar gezeigt haben." Sehen wir heute Abend, wie es geworden ist! 3. Juni 2011 – Wie alles anfing... Heute ist wieder ein Freitag. Es ist der erste Freitag im Juni, und der Sommer ist da mit gemäßigten Temperaturen und den wunderbaren Flamboyant-Bäumen in Blüte. Im Goethe-Institut habe ich mit Schülern einer B2-Klasse letzte Woche über "Graffiti" gesprochen und deren Blüte nach der Revolution. Anlass waren die Eröffnung mehrerer Ausstellungen im Raum Kairo, wo man Fotos von den während der Revolution gemachten Graffiti zeigte. Auch die letzte Ausgabe des Egypt Today ist dem Thema in Wort und Bild gewidmet. Anliegen in der Klasse war, eine Debatte zu führen über den Nutzen, bzw. Schaden von Graffiti. Es ging um sprachliche Argumentation, aber auch um Inhalt, und den hatten wir ja nun hautnah vor der eigenen Tür. Während ich noch meine Fotos vom Tahrir durchsah, schickte mir ein junger Mann, Ahmed Hossan ed-Den, bereits einige in der Stadt aufgenommene, an Mauern von Schulen und öffentlichen Gebäuden angebrachte Graffiti-Fotos, die ich z.T. einfach peppig gut fand, mindestens aber erfüllten sie einen Zweck: die olle Mauer wurde farbig verschönt. Und viele sind der Revolution gewidmet. Heute früh nun – gottlob ist es ja Freitag – sah ich noch mal meine alten Aufzeichnungen durch und auch die, die vor diesem Blog entstanden waren. Sie reichen vom 23. Januar bis zum 2. Februar und beschreiben den Anfang der Revolution. Im Abstand gelesen, fand ich das doch auch wieder ganz spannend und möchte den Lesern, die immer noch dabei sind, diesen Teil eigentlich auch nicht vorenthalten. Wenn schon – denn schon, dann auch die ganze Geschichte! Die Geschichte aus meiner Sicht. Wenn man auch inzwischen schon fast wieder zu viel liest, wie alles war. Dabei sind wir doch noch mitten drin und nichts ist richtig geklärt. Aber das gehört zum Prozess, den ich ja nun auch weiter kommentieren werde. Ich füge hier also im Rückblick den Anfang des Geschehens an, unter dem Titel: Tagebuch der Ägyptischen Revolution im Januar/ Februar 2011 –
Sonntag, 23. Januar 2011 Leo, unser 13-jähriger Sohn, sitzt abends noch am Computer und chattet. Ich komme von einem Besuch an der Universität Mansoura im Delta zurück. Es war menschlich wunderbar und äußerlich bin ich erschüttert: der Müll überall, die Schäbigkeit der Ausstattung von Räumen einer Universität! Horden von jungen, bekopftuchten Mädchen und ausdruckslosen Jungs hängen rum oder bewegen sich innerhalb und außerhalb des Universitätsgebäudes. Alles wirkt ziellos, gelangweilt. Sie kommen vom Nichts und gehen ins Nichts. Auf den kalten Fluren sitzen an schiefen Holztischchen Hunderte von Studenten und schreiben auswendig Gelerntes auf Formbögen: Ihre Halbjahresprüfungen. Die Straßen sind nur halb asphaltiert, es geht vom Asphalt auf den ungeteerten Lehmboden. Mitten in der Stadt. Tucktucks, Dreiradautos verschiedener Bauarten und Farben fahren eng an Autos und Menschen vorbei. Eselskarren dazwischen. Fußgänger suchen sich auch ihren Weg und im Modder sitzen Frauen und verkaufen aus Körben Zitronen und Kräuter. Wir essen mit Professoren in einem Lokal im ersten Stock ein opulentes Mittagessen. Die Jalousien sind geschlossen. Neonlicht und ein laut Koranverse jammernder Fernseher läuft. Das Essen ist gut und reichlich. An den Rändern der Deltaautobahn steht der Müll. Schutt von Asphalt, Landwirtschaft, abgerissenen Baracken oder Kiosken türmen sich neben der vierspurigen Straße. Menschen warten in Gruppen auf Sammeltaxis am Straßenrand. Gegen den Verkehr fahren Fahrradfahrer mit irgendwelchen Kopf- oder Gepäckträgerladungen, drängen die Wartenden zurück. LKWs ziehen mit hohen Geschwindigkeiten, im Pulk und mit waghalsigen Überholmanövern an uns vorbei. Ali, unser Fahrer, findet immer wieder die Lücken, in die unser Auto hineinpasst. Wir kommen voran. Ab und zu sieht das Auge kleegrüne Felder und Palmen. Kairo liegt in braunem Dunst und verschluckt die rasenden LKW-Giganten und die PKW-Liliputaner dieser Straße. Ich bin froh, als wir den Midan et-Tahrir, das Stadtzentrum heil erreichen. Irgendwann gegen Abend sagt Leo, dass über Facebook zu Demonstrationen aufgerufen werde. Demonstrationen gegen die Regierung Mubarak am Dienstag. Am Dienstag ist "Feiertag der Polizei". Im Goethe-Institut wird gearbeitet. Der Tag ist nicht als Ferientag im Feiertagskalender vermerkt. Also stelle ich mich auf Arbeit ein. Montag, 24. Januar 2011 Die Sekretärin des Institutes ruft an. Am Dienstag sei das Institut geschlossen. Ich beginne damit, meine Kursteilnehmer anzurufen. Die Telephonnummern stimmen fast alle. Alle freuen sich, mich am Telephon zu haben und bedanken sich für den Anruf. Die Schule ist um 13:15 Uhr aus. Alles ist ruhig. Am Dienstag ist schulfrei. Leo stellt sich auf einen langen Abend ein und bringt zwei Freunde mit nach Hause. Sie spielen am Internet und mit Playstations und chatten über die Netze mit den Freunden. Ich gehe um 16:00 Uhr zur Arbeit. Es wird diskutiert und gemutmaßt, wie die Demonstrationen sein könnten und wo. Der Unterricht verläuft nach Plan und in guter Atmosphäre. Um 22:00 Uhr bin ich wieder daheim. Ich telephoniere noch mit einem befreundeten Arzt. Er will morgen auch zur Demo gehen, wenn es sich ergibt. Er sagt, es müsse jetzt etwas geschehen. Es werde Opfer geben, aber ohne Opfer gehe es nie. Die Uneinigkeit der Opposition bedrückt ihn, aber nicht so, wie die Hoffnungslosigkeit, die momentan herrscht. Ich wünsche ihm Glück, und wir verabreden uns telephonisch für den nächsten Abend. Dienstag, 25. Januar 2011 – "Tag des Zorns" Ich bin um 12:30 Uhr bei einer Freundin in Zamalek zum Brunch eingeladen. Mein Fahrer bringt mich hin. Leo hat in der Nähe Französischunterricht. Der Verkehr ist mäßig. An den Brückenauffahrten steht Geheimpolizei – Männer meist in schwarzem Zivil. Sie beobachten den Verkehr. Vereinzelt sehe ich Kontrollen von Fahrzeugen und Haltern. Aber das ist nichts Besonderes. Es ist ruhig. Eine nette Runde von schicken, modernen Frauen aus der ganzen Welt ist zusammen. Die beiden Libanesinnen sind deprimiert über die Zustände im Libanon. Die Ägypterinnen solidarisieren sich, die Europäerinnen hören zu und fragen nach, die Amerikanerinnen erzählen von ihren Reiseerlebnissen. Es gibt italienische Salami, französischen Käse, deutsches Brot, Sushi und Tiramisu. Um 15:00 Uhr wird zum Aufbruch gedrängt. Man rechnet mit Unruhen in den Stadtteilen und es gäbe Aufläufe von Menschen am Tahrir und auf den Brücken. Die Fahrer kommen, und wir verabschieden uns. Alle kommen gut nach Hause. Über das Internet lesen wir, dass es Unruhen gibt. Draußen ist es ruhig. Unsere Bawabs, die Hüter unserer Autos und Hauseingänge, laufen wie immer zwischen den Autos herum. Einige Damen lassen sich im Friseursalon gegenüber die Haare ondulieren, und aus der Augenklinik kommen wie üblich die kaum gehfähigen Operierten im Schlepptau ihrer sie ziehenden und stützenden Angehörigen. Ob die all das hier politisch interessiert? Leo sagt, Facebook sei teilweise gesperrt. Google geht noch, und ich bekomme auch Emails. Auch Skype ist offen. Ich telephoniere mit unserer Tochter Viktoria in Deutschland. In den Abendnachrichten des ZDF sehen wir Bilder von Ausschreitungen und Tumulten am Tahrir. Abwarten. Mein Arzt-Freund war nicht auf der Demo, aber er rechnet mit weiteren Aktionen, und alle halten sich über die Netze informiert. Mittwoch, 26. Januar 2011 Nachdem ich Leo in die Schule gefahren habe, zehn Minuten von unserem Haus entfernt, schalte ich das Fernsehen ein. Ich lege eine DVD ein und nehme das Morgenmagazin auf. Es laufen die ersten Bilder von der Nacht über den Bildschirm. Heftige Zusammenstöße mit Schlägereien mit der Geheimpolizei. Sie greifen sich gezielt einzelne Personen heraus und schlagen zu. Dabei sind sie mehrere gegen einen. Aber es sind viele Demonstranten! Und sie sind entschlossen. Sie sprechen offen: Mubarak soll gehen, der Sohn Gamal Mubarak soll (auch) gehen. Wir wollen endlich ein Ende von 30 Jahren Unfreiheit! Das ist die Message und die ist glasklar. Und sie wollen weitermachen. Ich lege mich noch mal hin, denn mein Magen ist etwas durcheinander. Um kurz vor 10:00 Uhr ruft mein Mann Thomas aus der Schule an. Die Schüler würden um 10:45 Uhr nach Hause geschickt, weil man mit neuerlichen Demonstrationen vor der Kairo-Universität und in der Stadt rechne, damit die Busse noch gut durchkämen. Er will dann mit Leo zusammen heimkommen. Unser Fahrer ist noch nicht da. Ich bestelle ihn ganz ab, denn nachmittags ist nichts mehr zu fahren. Ich werde zu Fuß zum Goethe-Institut gehen. Ich rufe bei dem kleinen Laden um die Ecke an. Ich brauche noch Öl und Milch. Der Mann erzählt mir, dass vor seinem Laden viele Leute seien. Es gäbe eine Demonstration. Ob ich das wüsste. Nein, wusste ich nicht. Ich sagte ihm, dass ich hoffte, es würde alles besser für sie, und dass wir auf ihrer Seite seien, uns aber wünschten, dass sie alles friedlich durchsetzten. Das wollte er unbedingt auch und hat sich sehr gefreut und sich vielmals bedankt. Die Lebensmittel kamen sofort. Später hören wir, dass auf der Musadak-Straße in unserem Stadtviertel Dokki Leute zusammenlaufen und in Richtung Innenstadt ziehen. Um uns herum bleibt es ruhig. Ich gehe um 16:00 Uhr ins Institut. Es ist ruhig dort. Etwa zwei Drittel der Kursteilnehmer kommen. Ich zeige in der Sprachdiplomklasse die Aufzeichnungen aus dem Morgenmagazin, und die Teilnehmer sind erstaunt über die Bilder, die sie so nicht zu sehen bekamen. Dietmar Ossenberg sagt im Interview, er habe vor einigen Tagen noch nicht an einen Erfolg der Bewegung geglaubt. Jetzt sei er da nicht mehr so sicher. Das gibt zu denken. Bei der Diskussion merke ich, wie drängend die Veränderung in der Luft liegt, wie sie darauf warten, hoffen, aber sie sind ratlos, wie sie es anstellen und schaffen sollen. Eine Teilnehmerin erzählt mir, dass sie gerne auf die Straße ginge, aber ihre Mutter ließe sie nicht. Man sah viele junge Frauen in der Reportage. Sie fühlen sich verantwortlich. Sie sind es! Und sie wollen wissen, wie Demokratie ist. – Schwierig oft, aber schön, sage ich. Und man muss sich immer entscheiden. Das fällt ihnen schwer. Sie wollen lieber abwarten. Aber sie sind beeindruckt von ihren Genossen auf der Straße, und sie dachten nicht, dass es so viele sein könnten. Als ich den Taxifahrer, der mich nach Hause bringt, befrage, ist der sehr froh überrascht über meine Anteilnahme. Er sagt, er komme mit seinen beiden Jobs nicht - oder nur gerade so - über die Runden. Seine Kinder kosteten viel Geld, und das Leben sei teuer und karg. Er habe es satt, dass die Menschen viel arbeiteten, ihre Umgebung im Müll versinke, die Bildung schlecht sei, und sie selber als Fußabtreter für Regierung und Politiker behandelt würden. Geld für die Taxifahrt wollte er nicht haben. Ich gab ihm ein wenig mehr als auf dem Tacho angezeigt. Wir haben uns herzlich verabschiedet. Später am Abend höre ich, dass die Jungs aus Leos Klasse z.T. aus anderen Stadtteilen anfahrend, morgen nicht kommen werden. Leo will auch nicht in die Schule gehen, denn er meint, es gäbe eh keinen gescheiten Unterricht. Mir ist es nicht Recht, denn ich bin für Ordnung. Aber irgendwie sehe ich auch ein, dass die Sache nicht sehr effektiv sein wird. Also lassen wir den Abend lang sein. Im Auslandsjournal ist wieder von Ägypten die Rede. Es gibt Tote in Kairo und Suez. Ich zeichne auch das für meine Kursteilnehmer auf. Es geht um "das System Mubarak". Der Präsident ist derartig versteinert, dass alte Bilder alte Stärke dokumentieren müssen. Aus jüngster Zeit gibt es kaum Bewegendes. Und bis jetzt schweigt das Regime seine hungrigen Bürger an. Der Innenminister aber droht mit Härte. Als ob das Leben hier nicht schon selbst die Härte wäre! Härte kennen sie ja, das haben sie seit Jahren, und manche fürchten sich auch nicht vor neuerlicher Härte. Sie gehen wieder auf die Straßen. Und es werden mehr. Auch Gerüchte machen schon die Runde: Gamal Mubarak sei mit Familie und Koffern in einem Privatflugzeug nach England ausgeflogen. Das finden sie feige, aber sie beklatschen allein die Aussicht auf Entfernung der ungewollten Herrscherfigur. Aber wer anstelle der Mubaraks? Ich gehe spät und gespannt zu Bett. Donnerstag, 27. Januar 2011 Um 10:00 Uhr ist eine Besprechung im Goethe-Institut. Es ist ruhiger als sonst auf den Straßen, aber die Schulen haben ohnehin Halbjahresferien. Die Kollegen (Ägypter dabei, denn es sind ja nicht nur Deutsche da) sind vorsichtig optimistisch. Manche verziehen bei dem Wort "Demonstration" skeptisch das Gesicht. Ich merke an, dass das gemeinsame Formulieren eines Protestes, ein Spruchband, der gemeinsame Gang auf die Straße, das friedliche Zeigen seiner Meinung, eine außerordentlich lohnende und gute Sache sei. Steine werfen und Schlagen gehört nicht dazu. Leider verderben auch jetzt Hooligans und ganz Frustrierte oder Übermütige den friedfertigen Demonstranten die Show. Sie liefern dem Innenminister die Bilder von Gewalt und die Rechtfertigung, die Demos als verirrte Aktionen chaotischer Radikaler hinzustellen. Sie verunsichern die so lange schon verunsicherten Menschen weiter. Die Kollegen wissen auch nicht, was sie machen sollen und zucken mit den Schultern. Ich kann sie auch verstehen. Demokratie braucht Übung. Woher soll die kommen? Später zu Hause hat eine Dame vom RBB (Radio Berlin) angerufen. Sie befragen mich zur Lage im Land, in meinem Alltag. Ein Telephon-Interview für den Freitagabend. Meine Schwester ruft aus der Schweiz an, und eine Freundin aus München. Über das KairoFamilienNetz kommen Anfragen, ob man nach Ägypten reisen könne. Ich bejahe das und rate zu weiterer Aufmerksamkeit. Die Deutsche Botschaft hat bislang keine Reisewarnung herausgegeben. Am Roten Meer ist alles sonnig und ruhig. Morgen, am Freitag, ist zu großen Demonstrationen überall aufgerufen. Ab 14:00 Uhr soll's losgehen, nach dem Freitagsgebet. Das Internet und die Facebooks und Twitters glühen! Leo will zu seinem Freund nach Sheikh Zaid City, 30 Kilometer nordwestlich von Kairo zum Übernachten und Spielen. Eine Botschaftsfamilie in einem Compound. Ich habe keine Bedenken, und er zieht ins Wochenende. Ich bearbeite noch Anfragen und Anzeigen für das KairoFamilienNetz und fahre dann zur Arbeit. Es ist wieder ruhig, und fast alle Kursteilnehmer sind da. Der Unterricht findet wie gewohnt statt, und wir diskutieren über die Erwartungen an den Freitag und die Zukunft. Ein junger Mann meint zum Abschied, wenn er am Dienstag nicht käme, sei er wohl im Gefängnis. Ich verspreche, ihn dann da rauszuholen und wünsche ihm Glück. Später bin ich mit einer Freundin zum Essen verabredet. Auch da nichts Ungewöhnliches. Alles ruhig. Viel Polizei ist unterwegs und an den Straßenecken aufgestellt. Aber niemand scheint sich sehr um sie zu kümmern. Man geht einkaufen oder zum Abendessen. Immerhin beginnt am Donnerstag unser Wochenende! Um 23:00 Uhr hören wir, dass Mohamed el-Baradei zurückgekommen sei. Aber wollen die Menschen ihn als Führer? Man kennt ihn hier fast nicht, er ist kaum hier gewesen in den letzten Jahren. Und doch, vielleicht brauchen sie ihn für einen Anfang von neuer Führung? Zu Hause versuche ich, unsere Tochter in Deutschland über Skype zu erreichen. Aber sie hört mich nicht. Sie ruft mich an. Das geht. Sie habe mir eine SMS geschickt. Ich habe nichts bekommen. Mir dämmert, dass da was nicht stimmt. Auf meinem Computer gehen noch Emails ein. Ich beantworte sie. Das Absenden kurz vor Mitternacht geht nicht mehr. Sie bleiben im Postausgang hängen: "Host nicht gefunden." Ich versuche über den mobilen Stick ins Internet zu kommen, aber das geht auch nicht. Damit ist es klar: wir sind abgehängt. Das mag ich nicht. Ein blödes, ungewohntes Gefühl. Ich gehe unwillig und etwas unruhig schlafen. Freitag, 28. Januar 2011 – "Tag der Wut" Kurz vor 8:00 Uhr wache ich auf und teste auf dem iPhone das Netz. Nichts. Dann versuche ich, unser Haustelephon übers Handy anzurufen. Es läutet im Telephon, aber das Telephon läutet nicht. Also ist auch das Handynetz gesperrt! Ich sinniere, wie ich rauskomme. Ich habe noch meine deutsche Handykarte in einem anderen Telephon. Damit geht es. Ich rufe eben meinen Vater an und gebe eine Nachricht durch. Alles klar. Um Leo muss ich mir keine Sorgen machen. Eigentlich sollte er vom Taxidienst abgeholt werden. Ich rufe da an: Ja, sie werden um 14:00 Uhr fahren. Zwei Stunden später rufen sie zurück, sie machten den Laden jetzt zu. Ich solle abends wieder nachfragen. Ok - er ist gut aufgehoben und sicher, wo er ist. Das ist das wichtigste. Ich habe Lust, auf die Straße zu gehen und zu schauen, was los ist, was die Leute machen. Ich fahre mit unserem Auto zum Goethe-Institut und parke es im Garten. Da wird es erst mal bis morgen bleiben. Eine Kollegin im Haus hat noch Seminar bis 14:00 Uhr. Sie wollen ihre Leute auch rechtzeitig nach Hause schicken. Man ist optimistisch gespannt. Ich mache mich zu Fuß auf den Weg. Ein Mann mit einem Fahrrad, an den eine Art Wagen angehängt ist, steht an der Ecke. In dem Wagen ein Haufen grünen Klees, wahrscheinlich für Esel oder Pferd irgendwo, und darin sitzt ein Kleinkind in grauer schmutziger Galabiya. Was denkt dieser einfache Mann wohl? Ist es grau oder grün, was ihn und seine Familie erwartet? Vor der großen Moschee in der Tahrir-Straße stehen etwa zehn Panzerwagen in Reihe. Davor schwarz behelmte Polizisten. Auch sie gehören eigentlich zu denen, die hier protestieren sollten. Sie haben nichts als ihre Uniform und Schilde vor dem Bauch und Helme auf dem Kopf. Wollen sie wirklich das tun, was man jetzt von ihnen erwartet? Das kann ich mir nicht vorstellen. Aber sie haben nicht gelernt, nachzufragen. Also stehen sie jetzt da, wo sie stehen - vor den Panzerwagen. An der Tankstelle an der Ecke ist nicht viel los. Die Angestellten sitzen in einer ruhigen Ecke, und einer erklärt den anderen die Lage. Ich höre was von "Geld" und dass die Regierung nichts für sie getan habe. Die Zuhörer sagen nichts, sie sehen ihn erwartungsvoll an. Aber mehr weiß er auch nicht. An mir fährt ein Polizei-Pickup mit Gittern für Straßensperren vorbei. Auf der Musadak-Straße spielen Kinder am Straßenrand Fußball. Nur wenige Autos sind unterwegs. Einer der großen Jungen blickt weit in die Straße hinein und meint: "Da unten kommt dann die Demonstration." Aber im Moment ist da noch nichts. Die anderen sind enttäuscht. "Noch eine Stunde!", ruft ein Mann einem anderen über die Straße zu und wirft die Arme in die Höhe. Er meint: noch eine Stunde bis zum Gebet. Dann geht es endlich los. Der Mann lacht. Der Blumenhändler gießt nebenan sein buntes Grün im Straßenladen. In der Ecke steht noch ein zerdrückter, trockener Weihnachtsbaum. Die Rosen lassen ihre Köpfe etwas hängen, aber die Astern sind schön. Morgen werde ich noch mal nachsehen. Bei Top Toys an der Ecke hängt noch die glitzernde Weihnachtsdekoration vor den Spielsachen und im Fenster gibt es Partyartikel für das "Happy New Year". Der Jeansladen nebenan führt ein schwarzes Handtuch im Fenster, auf dem ein rotes Herz in den Schriftzug "EGYPT" eingewoben ist. Sie lieben ihr Land! Ja, jetzt müssen sie etwas tun. Ein mit Müll vollbepackter Eselskarren zieht stotternd und schwankend an mir vorbei. Der Mann auf dem Bock schläft. Der Esel kennt den Weg allein. Die schlauen und geduldigen, gepeinigten Esel dieses Landes! Sie tun mir immer so leid, und jetzt muss ich über das Bild und gerade diese Bedeutung lachen. Zu Hause ist es ruhig. Freitag eben. Im Mittagsmagazin zeigen sie, wie die Panzerwagen überall an den Plätzen auffahren, und wie der Tahrir-Platz abgesperrt wird. Aber es sind noch Leute zu Fuß unterwegs. Abwarten. Von einer Freundin höre ich über das Telephon: Mubarak kann das Handy und Internet sperren, aber nicht die Moscheen. Und in die ruft jetzt der Muezzin. Die grünen Plastik-Teppiche sind ausgebreitet. Die Gebete beginnen. Handy und Internet bleiben offline. Am Nachmittag sehen wir auf Aljazeera die Demonstranten auf der 6.-Oktober-Brücke. Polizeifahrzeuge schießen Tränengas ab, Demonstranten werfen vereinzelt Steine. Aber sie drehen sich umeinander. Polizisten stehen ratlos am Straßenrand, Demonstranten laufen mutig vor den Polizeifahrzeugen her. Ganz großartig finde ich Bilder auf denen, wohl vor der El Azhar-Moschee in der Altstadt, Demonstranten vor Polizisten stehen bleiben und ihnen bedeuten, dass sie nicht angegriffen werden, dass sie aber auch nicht zu schlagen haben. Die Polizei weicht zurück. Sie sind doch Ihresgleichen! Auf der Oktoberbrücke sehe ich, wie ein Polizeifahrzeug vor den Demonstranten zurückweicht. Fast fährt es rückwärts gegen ein Brückengeländer. Auf der Auffahrt steht eine Polizeikette. Das Fahrzeug wendet und fährt die Auffahrt runter. Die Menschen stehen wieder allein auf der Nilbrücke. Die Polizei hat den Rückzug angetreten. Das Regime weicht zurück. Gleiche Bilder aus Suez und Port Said. In Luxor sind angeblich etwa 15.000 Leute auf der Straße. In Kairo zwischen 30 und 50.000, so schätzt man. Ebenso sind die Menschen in Mansoura und Mahalla unterwegs. Auch da brechen die Polizeiketten auf, die Polizisten weichen zurück. Die Ausschreitungen sind aber radikaler und gewalttätiger. Die Bilder wiederholen sich, die Reporter sprechen ununterbrochen. Die Fragen der Redakteurin wiederholen sich auch. Und später holen die Menschen Polizisten aus einem Transportfahrzeug raus und setzen die Kiste in Brand. Die Polizei hat keinerlei Stärke. Ab 18:00 Uhr ist Ausgangssperre, und doch ist die Nilbrücke voller Menschen. Um etwa 18:30 Uhr geht ein Gebäude der regierenden Nationaldemokratischen Partei in der Nähe des Ramses Hilton-Hotels in Flammen auf. Angeblich soll jetzt auch das Militär auftauchen, und der Präsident ist mit einer Rede angekündigt. Der Chef der Opposition sagt, dass der Präsident und die NDP ein dickes Fell hätten. Sie werden nicht in Reformen und Rücktritt einwilligen, aber stattdessen ihr Volk für die Unruhen verantwortlich machen. Dreist, oder?? Hilary Clinton ist auf Aljazeerah zu hören: die arabischen Regierungen sollten ihre Völker als Partner verstehen, nicht als Gegner und die Abschaltung der Medien sei unerträglich. Man kann sich vorstellen, was hinter den Kulissen an "hard talk" abläuft. Ich hoffe, die Medien sind bald wieder am Netz, denn ohne Internet ist es nervig. Und es ist unerhört, dass eine Regierung in unserer Welt ihre Bürger von Informationen, die für viele auch die Basis ihrer Arbeit sind, abschneidet. Unglaublich dreist! In den deutschen Nachrichten wird von der "Härte der ägyptischen Polizei" gesprochen. Ich denke, das haben sie nicht richtig verstanden. Die Geheimpolizei in Zivil hat anfänglich und generell zugeschlagen. Sie griffen sich Einzelne, die sie abschleppten und verdroschen. Aber in ihren Wagen und in Reihen ist die Polizei fast überall zurückgedrängt worden, soweit wir sehen können. In Kairo haben die Wagen auf der Oktoberbrücke versucht, die Demonstranten zurückzudrängen. Die waren sofort wieder da. Und die brennenden Fahrzeuge – aus denen haben sie die Polizisten erst rausgeholt, weggeschickt, dann haben sie die alten Kisten in Brand gesetzt. Na, ja. In Suez steht eine Polizeireihe auf Dreiviertel einer Straße. Die Demonstranten kommen auf die Polizeireihe zu. Sie stoppen vor ihnen und die Demonstranten weichen auf die rechte Seite, die die Straße nicht ausfüllt, aus und laufen an den Polizisten vorbei. Das war’s! Als das Militär am Abend kommt, wird es von den Protestierern begrüßt. Das kann nur heißen, dass man nicht mehr damit rechnet, dass das Militär den Präsidenten unterstützt. Das Militär wird sich auf die Seite des Übergangs, des neuen Regimes stellen, denn Mubarak ist eh schon fast weg. Es würde mich nicht wundern, wenn morgen früh die Nachricht käme, Mubarak hätte das Land verlassen. Ich glaube nicht, dass er selber noch mit einer Rede versucht, sein Volk zu erreichen. Es ist nicht sein Partner. Er hat nie die Chance gehabt, das Volk in seinem Alltag zu sehen und kennen zu lernen. - Das ist die Schuld seiner Guard und seiner unglaublichen Arroganz: Er hat das hier alles für immer und ewig als sein Eigentum gehalten. Bei uns um die Ecke ist alles dunkel und ruhig. Hardy's, der Fastfood-Laden an der Ecke, ist geschlossen. Nur wenige Autos fahren, die Lichter der Musadak-Straße sind gelöscht, der Friseur gegenüber ist zu. Es riecht ein wenig nach den Feuern aus der Innenstadt. Der Abend aber ist lau und schön. Man sollte eigentlich einen schönen Spaziergang durch die Nacht machen. Vereinzelt rufen auf dem Festnetz Freunde und Bekannte an. Gerade wird das Mobiliar des NDP-Hauptquartiers von den Leuten der Straße weggetragen. Da holen sie sich noch was für ihr Heim! Scheußlich genug! Die Bilder aus dem Fernsehen bringen nichts Neues. Wir sehen daher Freitagabendprogramm im deutschen Fernsehen. Und eigentlich soll morgen die Kairener Buchmesse eröffnet werden. Das neueste Buch ist noch nicht geschrieben. Der morgige Tag wird vielleicht klarer zeigen, wie der Übergang von der Wut in den Alltag stattfinden wird. Samstag, 29. Januar 2011 Es ist ein warmer, frühlingshafter Morgen. Ungewohnte Ruhe, noch bevor ich auf die Straße herausschaue. In Aljazeera diskutieren junge Leute mit Emphase für die Veränderung und ihr Recht, das Beste für ihr Land zu fordern. Die Mubarak-Rede, die an allen Themen vorbeilief, stößt allgemein auf völliges Unverständnis, bestätigt die Meinung, dass dieser Präsident völlig ahnungslos und ignorant ihrer Situationen gegenüber ist. Und sie sind empört über die Beschneidung ihres Internets und Telephonverkehrs. Das haben noch nicht einmal die Tunesier gemacht! Das SMS-Signal meines Phones zeigt an, dass das Netz zurückkommt. Ich schicke meiner Tochter eine Message. Wer weiß, wie lange wir dran sind. Um unseren Sohn Leo in Sheikh Zaid abzuholen, nehme ich mir erst ein Taxi zum Goethe-Institut in Dokki. Der Taxifahrer erzählt von Plünderungen in unserer Nähe. Das seien die Muslimbrüder gewesen. Die seien so. Wieso sagt er nicht. Er findet es alles verwirrend. An den Straßen stehen die Menschen mit ihren Mobiltelephonen und probieren, wie sie in das Netz zurückkommen. Einige telephonieren auch schon. Bei manchen geht es wohl schon, bei manchen nicht. Bei mir geht nichts. Die Kursteilnehmer im Institut diskutieren im Garten und vor dem Haus mit ankommenden Lehrern. Unterricht ist nicht so recht im Gange. Unser Koch meint, ich solle heute Abend nicht zum Kurs um 18:30 kommen. Ab 18:00 Uhr sei wieder Ausgangssperre. Ich mache mich mit dem Auto auf den Weg über Zamalek - da ist es ruhig - auf die Ring Road in Richtung Wüste, Nasr City, Sheikh Zaid. Es ist wenig los. Keine Polizei irgendwo zu sehen. Auf der Zamalek-Brücke stehen mehrere Transportfahrzeuge des Militärs. Es sind viele Motorroller, Motorräder und Fahrradfahrer unterwegs. Sie haben einen schönen, fast autofreien Tag. Die Autobahn hinter dem Libanonplatz ist mäßig befahren. Am Straßenrand warten Menschen, die wohl in der Stadt eingekauft haben, auf ihre Sammeltaxis. Die kleinen Polizeistationen, wo sonst die Verkehrskontrollen stattfinden, sind unbesetzt. Auf der Rückfahrt sehen wir in anderen Straßen der Stadt geplünderte Geschäfte. Die Fensterscheiben sind zerbrochen und die Waren gestohlen. Es sind Elektronikläden, es sind Jeansgeschäfte, es sind Internetprovider. Die Ziele weisen keine gemeinsamen Typizismen auf. Auch ein Brand wurde von der Feuerwehr gelöscht, das Wasser steht mit dem Müll vermischt auf der Straße. Leute fotografieren das mit ihren Mobiltelephonen. Wir gehen zu Costa Coffee um die Ecke zum Frühstück. Es sind Leute dort, wir werden wie immer freundlich bedient und können auf die Musadak-Straße runterschauen: es ist ruhig, und viele Leute kaufen Brot ein oder Kuchen in Schachteln gepackt. Viele sind zu Fuß unterwegs. Der Manager kommt zu uns an den Tisch und bittet uns, zu bezahlen. Er müsse das Geschäft jetzt schließen. Alle amerikanischen Cafés wären für die nächsten drei Tage zu. Im Supermarkt um die Ecke, wo ich noch einkaufen gehe, ist viel los. Junge Leute telephonieren und verabreden sich am Tahrir zu neueren Demonstrationen. Der Manager versucht vergeblich, sein Internet zu aktivieren und ist sauer. Meine Tochter ruft aus Deutschland an. An der Kasse haben sie nur winzige Plastiktüten. Ich ermahne den Mann, so wenige Tüten wie möglich zu verwenden und alles zusammenzupacken. Er weiß nicht, was das soll. Plastiktüten machen zwei Drittel des überall rumfliegenden Mülls aus. Dass das weniger sein könnte und gerade die Supermärkte für die Vermüllung auch verantwortlich sind, wird im Grunde genommen von niemandem verstanden und schon gar nicht umgesetzt. Die Ausgangssperre wird auf 16:00 Uhr vorverlegt, während sich Tausende wieder am Tahrir versammeln. Die Geschäfte, die Mobiltelephone anbieten, räumen ihre Waren aus und verbarrikadieren ihre Fenster und Türen. Es ist ein ruhiger Rückzug. Jedem scheint klar zu sein, dass es so sein muss, auch weil man sich nicht auf alle verlassen kann. Ich kaufe noch Guthaben für mein Telephon - für alle Fälle. Im Moment ist Ägypten ohne Regierung. Das Netz ist nicht wieder da. Die Tourismusindustrie leidet schon jetzt, die Börse ist zusammengebrochen, normales Wirtschaften und Arbeiten ist nicht möglich. Das Regime hat inzwischen keine Chance mehr, denke ich. Und es hängt an der Person des Präsidenten. Ein Mitglied der regierenden NDP Partei nennt die Demonstranten "Mob" und behauptet, in ganz Kairo brennten die Geschäfte und würde geplündert. Diese Leute sind nicht aus dieser Stadt und realitätsresistent, scheint mir. Die Ausgangssperre beginnt. Die Sonne scheint, es ist frühlingshaft warm. Rund um den Tahrir-Platz sind wohl 50.000 Menschen versammelt. Im Fernsehen sieht man Panzer vor dem TV-Gebäude, Menschen drum herum. Alles bleibt friedlich. Die Demonstranten unterhalten sich mit den Soldaten. Auch auf den Straßen um uns herum höre ich Autos und sehe Menschen laufen. Es gibt Spruchbänder, es gibt Fahnen, man bleibt gelassen, die Menschen gehen aufmerksam zwischen den Panzern spazieren. Ein neues und phantastisches Gefühl muss das sein: "Wir sind so viele, wir sind hier, weil wir Veränderung wollen und davon kann uns dieses Regime nicht abhalten". Sehr schöne Bilder für mein Gefühl. Hoffnungsvolle Bilder. Und die Menschen auf dem Tahrir-Platz scheinen das auch zu "feiern". Die Ernennung eines Vizepräsidenten geht einher mit der Hoffnung, dass Mubarak das Zepter abgibt. Um die Ecke knallt es gelegentlich - geliebte Knallfrösche, vom Opferfest übriggeblieben? Auch ein Megaphon höre ich, verstehe aber nichts. Es stellt sich außerdem heraus, dass entgegen jeder Gebetszeit der Muezzin drei Straßen weiter eine flammende Rede hält. Schade, dass ich das auch nicht verstehe. Der Hauptgrund dafür allerdings: das Geschrei ist zu laut und der Lautsprecher ist von miserabler Qualität. Letzteres wenigstens könnten die Muslime der Moschee ja mal bemängeln, aber laut ist eben gut! Plünderungen. Die Zerstörungen im Ägyptischen Museum sehen wüst aus. Zerstörung und Wut. Wir sehen Bilder der letzten Nacht. Ägypter haben dann eine Menschenkette um das Museum gebildet, um weitere Plünderer vom Eindringen abzuhalten. Sehr patriotisch und autark. Die Nacht bricht nun herein, und es knallt gelegentlich weiter. Beim Blick auf die Straße sehe ich unsere Bawabs (Hausmeister, Autoputzer) mit Stöcken bewaffnet in der Straßenmitte stehen. Sie lachen und sehen sich nach Gangstern um, die gerade hier nicht kommen. In anderen Stadtteilen scheint die Lage brenzliger zu sein. Ein unangenehmes Gefühl beschleicht mich schon. Ich bin im Juli von Motorradräubern ausgeraubt worden. Vor dem Haus. Das war auch einfach ein unangenehmes Gefühl, und dieselben Trupps sind jetzt wieder auf den Straßen. Es wäre gut, wenn die Panzer hier in die Straßen und Plätze einfahren. Wie ein Journalist sagt, ist es bislang nicht Aufgabe der Armee gewesen, zivile Aufgaben zu erfüllen. Sie wissen nicht, wie man Geschäfte schützt und Räuber fängt. Das stimmt und stimmt bedenklich. Viele Anrufe der Familie und von Freunden gehen auf das Telephon im Festnetz ein und freuen uns. Es wird geschossen, und auf der Straße ist Geschrei. Die Bawabs haben alle Stöcke in der Hand. In Maadi und anderen Stadtteilen mit kleinen Geschäften ist es wohl ziemlich wild. Auch im TV zeigen sie, wie die Leute sich bewaffnen, um notfalls zur Selbstverteidigung zu greifen. Es wird "die Nacht des wehrhaften Volkes". Sonntag, 30. Januar 2011 Seltsame Ruhe um 8:00 Uhr früh. Eigentlich beginnt heute die Arbeitswoche. Immer noch kein Netz. Vor dem Haus sitzen die Bawabs, die Wächter der Häuser, mit ihren Stöcken auf einem alten Sofa. Unsere Straße haben sie gesperrt. Ganz unangenehm finde ich, dass offenbar Waffen aus ausgeraubten Polizeistationen in die Hände von irgendwelchen Leuten gekommen sind, gerade von solchen, die auch einiges kriminelles Potential haben. Ich höre Hubschrauben über den strahlend blauen Himmel fliegen. Und Mubarak ist immer noch da. Es ist nicht zu glauben! Wer hat der Polizei die Anweisung gegeben, zu verschwinden? Ist es, damit sie dann wieder dankbar sind, dass diese Regierung sich ihrer doch wieder annimmt? Die Organisation des Selbstschutzes, die offenbar ganz gut funktioniert, könnte das Volk eines Besseren belehren. Bassima, unsere "arabische Mama" seit zwanzig Jahren, kommt. Sie bringt Salat mit und arabisches Brot mit Ta'ameya. Wir trinken zusammen Tee. Auch hier Empörung über Mubarak, aber den neuen Vizepräsidenten finden sie ganz gut. Wir machen Hausarbeit. Etwas Normalität. Unseren Fahrer habe ich abbestellt. Wird das Volk heute arbeiten oder auf die Straße gehen oder kommt die Lethargie zurück? Ich gehe runter und bitte unterwegs, den Bügler, die Wäsche abzuholen. Er freut sich über Arbeit. Die Straßen sind an ihren Einfahrten durch Steine, alte Autos oder Gitter zugestellt und allseits ist zu hören, dass man die ganze Nacht ausgeharrt hat, um Räuber in die Flucht zu treiben. Ich wüsste auch nicht, wie die hier noch durchkommen sollten. Das kriminelle Potential dieses Polizeiministers ist in aller Munde. Im Metro-Markt kaufe ich Eier, Reis, Mehl und Zitronen. Alles ganz ruhig und normal. Freunde rufen an und erkundigen sich nach der Lage, ich erzähle von der Effektivität der Selbstverteidigung. Wenigstens können wir angerufen werden!! Meine Vermieterin und ihre Kinder rechnen stündlich mit dem Abgang des Präsidenten. An unserem Haus hängt inzwischen die schwarz-weiß-rote Fahne der selbstbewussten ägyptischen Demonstranten. Die Leute sind wieder unterwegs zum Tahrir. Man ist sauer auf die Sturheit und sauer auf das netzlose Leben und doch voller Energie. Der Präsident sitzt in einem offensichtlich uneffektiven und langweiligen Meeting mit welchen Ministern auch immer. No result!! Die Botschaften beginnen zu wackeln. Ausfliegung der Angehörigen der Diplomaten, Ausfliegung von Bürgern in speziell einfliegenden Flugzeugen. Aber die Menschen hier sind sich ihrer Sache sicher! Der Tahrir-Platz ist inzwischen voll mit friedlichen, selbstbewussten Demonstranten. Die USA, Deutschland, Frankreich, England drängen schärfer. Mohamed el-Baradei wird immer öfter genannt. Er steht bereit, noch unter Hausarrest. Über der Innenstadt von Kairo fliegen relativ tief zwei Militär-Kampfflugzeuge. Die Scheiben bleiben trotz erheblicher Vibration heil. Unangenehm. Wir gehen auf den Balkon, wie andere Familien um uns herum. Sie ziehen wohl zehn Runden über die Innenstadt im Tiefflug. Sollen wohl die Demonstranten einschüchtern. Das Gegenteil ist der Fall. Nicht ein einziger verlässt den Platz. Das ist die Diktatur - und als solche zeigt sie sich jetzt -, die ihre Mittel gegen die eigenen Leute einsetzt. Das kennen wir doch! Aber beim Zusehen verstehe ich irgendwie die Faszination von Flugschauen. Die beiden Kerle da oben drin, haben wahrscheinlich aus anderer Perspektive - genauso wie wir - ein besonderes Spektakel. Macht ihnen das Spaß? Bei Einbruch der Dunkelheit verwandeln sich die Demonstranten auf dem Rund des Tahrir-Platzes in leuchtende Punkte. Im Lichterschein tönen die Sprechchöre. Es ist die Gemeinschaft und die Bestimmtheit des Ausharrens, das die Menschen fest zusammenschweißt. Mohamed el-Baradei ist unterwegs, um sich den Menschen anzuschließen. Es muss sich gut anfühlen, jetzt dort zu sein. Alle warten auf das Ende von Mubarak. Und sie können stolz sein, auf was sie schon jetzt erreicht haben. Montag, 31. Januar 2011 Gute Luft, die Vögel singen, es ist ganz ruhig draußen. Das Netz ist immer noch weg. Das gibt's doch nicht!! Sie beleidigen ihr Volk fort und fort! Bassima kommt um 10:00 Uhr, bringt Tomaten, und wir trinken zusammen Tee. Mohamed, unser Techniker im Goethe-Institut ruft an. Wie es uns geht. Gut. Er erzählt, er sei mit Freunden aus seinem Viertel gestern auf Gefangenen-Fang gewesen. Irgendwie hätten sie etwa 300 Gefangene eingesammelt und gestellt und sie dem Militär übergeben. Er meinte abschließend, jeder tue das Seine: die einen gehen demonstrieren, die anderen sorgen für Ordnung. Prima! Ich fahre mit dem Taxi nach Zamalek. Der Taxifahrer ist deprimiert. An den Tankstellen gibt es Schlangen. Ich habe noch Benzin im Auto, und ich komme gut ohne Auto aus. In den Läden wird mit Bedacht eingekauft. Jeder hat genug zum Leben zu Hause. Und Brot wird auch gebacken. Auf der Oktoberbrücke kontrolliert das Militär die Autos einzeln. Ok. Im Hotel Marriott warten Menschen im Foyer auf Abtransporte, andere trinken im sonnigen Garten Kaffee. Ich gehe zum Café Simonds auf die Straße des 26. Juli. Hier war ich schon vor 25 Jahren zum Kaffeetrinken und Zeitunglesen. Es ist voll, und Volkes Stimme ist hier ganz direkt. Zwei gut gestimmte deutsche Freunde treffe ich auch. Jeder berichtet von sich und Bekannten. Die Ägypter um uns herum debattieren temperamentvoll, ab und zu gibt es heftige Wortwechsel, denen ich entnehme, dass da auch Mubarak-Leute sind: "30 Jahre!!!", schreit eine Frau, "was ist das Ergebnis? Geht endlich!!!!" Einige klatschen, einige beschwichtigen. Der Kaffee bei Am' Hashem löst Spannungen und am Ende sitzen wieder alle zusammen und klopfen sich auf die Schultern: wir sind doch alle Ägypter! Die Polizei ist zurück auf den Straßen. Zwei Polizisten kommen herein, um sich ihren Tee zu holen. Sie werden freundlich begrüßt. Trotzdem regeln Zivilpersonen den Verkehr, und es herrscht die einhellige Meinung, ziviler Schutz habe in den letzten Tagen besser funktioniert als polizeilicher. Von der Freundin höre ich, dass sich viele Deutsche ausfliegen lassen. Inzwischen sind wir formal auch gefragt worden. Es wird aber nicht evakuiert. Wir bleiben. Morgen soll eine riesige, Millionen-Demonstration steigen. Mubarak muss weg. Für ein anderes Ergebnis machen sie das hier nicht! Sie hören nicht auf, und sie sind so stolz und froh, über das, was sie tun und so glücklich darüber, endlich ihre Meinung sagen zu können. "Was hier passiert, ist einmalig", sagt ein junger Mann bewegt. "Das hätte ich vor einer Woche nicht gedacht!" Mohsen, mein Zeitungshändler an der Straße, schenkt mir die Zeitung. Die Egyptian Gazette zeigt Bilder von Menschen, die zu ziviler Hilfe und zivilem Ordnungsdienst aufrufen. Mubarak-weg-Bilder gibt es hier nicht zu sehen. Die Berichterstattung ist ansonsten relativ neutral, wie ich finde. Die Müllabfuhr arbeitet wieder, die Hälfte der Geschäfte ist geöffnet, die Hälfte ist zu. Hier in Zamalek und in Dokki und Mohandessin scheinen die Plünderungen komplett unterbunden worden zu sein. Man spürt, wie die Leute zurück ins Leben drängen, und gleichzeitig ist das Ziel noch nicht erreicht. Die "conditio sine qua non" ist: ein ganz neues Regime - und das hat oberste Priorität. Wieder rufen viele Freunde aus aller Welt an. Wir berichten und beruhigen. Die deutsche Berichterstattung regt mich etwas auf. Man kann natürlich alles negativ darstellen: klar ist die Masse auch beängstigend, klar gab es Plünderungen und Tote, leider. Das Land versinke im Chaos, sagt der Nachrichtensprecher. Dieses Land ist wegen aller Probleme, zuvorderst der Überbevölkerung seit langem im Chaos! Das hier ist nicht mehr oder weniger chaotisch als sonst auch. Die Gewalt haben sie durch eigene Initiative im Griff. Sie erkennen erstmals, wer sie betrügt, und wie sie sich selbst zu Wort melden können. Sie lernen zivilen Ungehorsam und helfen sich gegenseitig. Sonst ist jeder immer sich selbst der Nächste. Wann habe ich es in mehr als 25 Jahren erlebt, dass Ägypter sich gegenseitig so übergreifend und uneigennützig helfen?! Das Land findet zu sich selbst. Was ganz am Ende dabei rauskommt, weiß ich auch nicht. Aber "gefährlich" ist es jetzt hier nicht. Sie machen einen Fehler nach dem anderen: jetzt haben sie das Team von Aljazeera in Kairo festgenommen und das Büro sowie deren Material konfisziert! Der Effekt: es wird jetzt endlich öffentlich und international über den Umgang mit Medien und Meinungsfreiheit diskutiert. Fazit für die Regierung: das Volk ist an allem schuld und muss reglementiert werden. Das Staatsfernsehen zeigt inzwischen eine Kochsendung und später ein Bild von irgendwann heute ganz früh, als die letzten Demonstranten auf dem Tahrir-Platz rumlaufen. Inzwischen ist es dort wieder voll, aber nicht im Staatsfernsehen. Wer sieht das noch?? Und wann werden sie über diese ganzen Fehler stürzen?? Dienstag, 1. Februar 2011 Ist das der Tag? Ich wache um 7:00 Uhr durch Hubschrauber über der Stadt auf. Mit meiner Zeitung von gestern und einer Tasse Tee setze ich mich auf den Balkon. Frühlingshafte Morgenmilde und Ruhe um uns herum. In der Nacht habe ich kein Schießen gehört. Die Räuber hätten auch keine Chance. Nichts Neues auf Aljazeera, kein Netz. Eine Woche lang jetzt hat diese Bande das Land "gekidnappt". Kriminell, oder? Ab 8:00 Uhr fahren auch wieder Autos auf der Musadak-Straße. Gegen 10:00 Uhr mache ich mich auf nach Zamalek. Eine aufgeregte Freundin kommt für eine Viertelstunde Stunde zum Kaffee. Es sind auch noch Ausländer und Ägypter im Garten, und ein Journalistenteam nimmt nach einer wohl anstrengenden Nacht ein großes sonniges Frühstück zu sich. Mein Weg geht auf die Straße des 26. Juli in Zamalek. Viele Geschäfte sind offen. Man kauft Telephonkarten, man kauft Obst und Gemüse. Es gibt überall genug. Bei Simonds wartet schon die Freundin. Es wird voll und voller. Auch Patés gibt es und guten Cappuccino. Wir lassen uns nieder. Wir debattieren, und ein junger, gut gebildeter Mann neben uns meint, "no way back"! Wir wollen wissen, wie er sich den Ausgang denkt. Er meint, das Militär würde Mubarak an irgendeinem Punkt - er hofft jetzt demnächst - sagen, bis hierher hätten sie ihn gestützt, jetzt könnten sie nichts mehr für ihn tun. Und weil er nicht weiß, was er dann machen soll, würde er bislang nicht zurücktreten. Ayman Nour, Mohamed el-Baradei, andere Mitglieder der Opposition sieht man im arabischen BBC zusammenkommen. Sie seien eine passable Truppe, meint unser Nachbar, und ist ganz dezidiert informiert, ganz klar, ganz pragmatisch. Auch sagt er, es gäbe viel Unklarheit, aber er ist sicher und stolz auf die Macht und Fähigkeiten und die Kräfte seiner Leute, und das wird jetzt hier zu einem guten Ende gebracht. Mit einer Gruppe in Facebook hat es angefangen. Am letzten Dienstag sind schließlich von 750.000 Facebook-Protest-Fans 50.000 auf die Straße gegangen, und dann täglich mehr. Heute werde es die Million, da sind sie sich sicher. Sie sind alle friedlich, sie sind aus allen gesellschaftlichen Schichten, Christen und Muslims, sie kommen aus den Ländern der Welt und aus allen Orten Ägyptens. Sie sind komplett einig. Die Freundin und ich freuen uns, dass wir auch da sind und uns genug mit den Menschen und diesem Land hier verbindet, um zu bleiben. Wir sind willkommen hier. Den Tahrir-Platz haben die letzten Demonstranten wohl heute Morgen von Müll gereinigt. Es sähe piccobello sauber da aus, sagt eine Dame! Genauso ist es mit Müll und Ordnung anderswo. Die Leute räumen selber den Müll weg und machen ihre Straßen sauber. Wer hätte das je gedacht!? Ordnung ist, soweit ich sehe, überall. Weiterhin sind Polizisten geduldet, aber nicht wirklich nötig. In Dokki und Mohandessin kontrollieren weiter Anwohnergruppen Autos und Kofferräume. Die Fahrer machen willig mit. Ich gehe völlig unbehelligt und ruhig mit vielen anderen Gemüse kaufen und fahre mit dem Taxi nach Hause. Die Bilder vom Tahrir sind in unserem Wohnzimmer. Es ist der "Marsch der Million". Und sie kommen. Es sind vielleicht sogar mehr. Sie schaffen hier Außerordentliches: Das Fernsehen geht jetzt nicht mehr aus. Jedes Mal, wenn ein Hubschrauber über den Platz fliegt, rufen die Menschen: "Nimm ihn mit! Nimm ihn mit!" Und sie sind alle hier, obwohl das Regime alle Zufahrtsstraßen und die Bahnverbindungen über Land abgeriegelt hat. Jetzt protestieren die anderen in ihren Städten und Provinzen. Ungeduldig wird man, wenn man so wartet, es muss doch bald der Moment kommen, wo die Nachricht kommt, dass der Präsident - wie auch immer - nicht mehr an der Macht ist. Warum man jetzt noch warten muss…? Wir warten auf BREAKING NEWS. Wie lange noch? Jetzt stellen die Menschen auf dem Tahrir Fernsehanlagen auf. Kleine Apparate und Satellitenschüsseln. Sie warten auf die eine Nachricht. Sie sind so gespannt, wie alle, die am Fernsehen sitzen. Gleichzeitig ist immer wieder ein Hubschrauber über der Stadt unterwegs. Die USA haben ihren ehemaligen Botschafter Wiesner zu Mubarak geschickt. Soll er ihm ein Ziel vorschlagen? Zuletzt hat man ihn Freitagnacht im Fernsehen gesehen. Seitdem keine Neuigkeiten. Was hat das zu bedeuten? Mütter und Kinder verlassen den Tahrir, andere Leute kommen nach. Man macht sich für die Nacht bereit. Ein Schüler ruft vom Tahrir aus an. Freut sich, dass ich da bin, und ich wünsche ihm Glück und spreche meine Bewunderung aus für das Zusammenstehen des ägyptischen Volkes. Er hört sich sehr aufgekratzt an und hat dabei auch sein Deutsch nicht vergessen. Jetzt können sie endlich das, was sie lernen, auch auf eine eigene, freie Zukunft ausrichten. Das wird nicht leicht werden. Der neue Pluralismus wird gewiss sehr verwirrend sein, und es wird ein langer Weg werden. Ob der uns Ausländern gefällt, steht auf einem anderen Blatt, aber was hier passiert, ist genauso historisch, wie der Sturz der DDR-Diktatur 1989. Und wer von uns und welcher Ägypter für sich hätte das noch vor einer Woche für möglich gehalten? Und jetzt kurz nach 23:00 Uhr kommt Mubaraks Erklärung, er wolle bleiben bis September und wolle auf diesem Boden sterben. Er ist in Sharm esh-Sheikh, nicht in Kairo. Ich höre Böller und Jubel auf der Musadak-Straße und denke: gut, wenn sie damit zufrieden sind. Aber ich wäre sicher nicht damit zufrieden nach all den Toten und nach diesen riesigen Anstrengungen und dem Auflauf auf dem Tahrir-Platz. Und genauso ist es. Der erste Jubel war ein Irrläufer. Die Leute sind bitter enttäuscht und verzweifelt über die Ignoranz und die Arroganz. Es interessiert hier keinen Menschen, dass der Präsident seine "Würde" behält. Die hat er nicht erst in der letzten Woche restlos verspielt. Der Amerikaner in Aljazeera sagte gerade, China, Kuba, Nordkorea und Ägypten sind derzeit die Länder, die komplett Mobil-Services und Internet abschalten. Sie sind die Regierungen, die Angst haben vor ihren Bürgern. - Und die Welt schaut zu! Ich rufe einen Freund an. Der ist total fassungslos ob der Ignoranz. Ich frage ihn, ob es vielleicht eine diplomatischer und zeitlicher Vorteil wäre, jetzt diese Zeit bis September zu haben. Zeit, ja. Aber Mubarak muss weg. Wir sind uns einig, dass wenn Mubarak ab morgen nicht mehr erscheint, wenn es morgen früh Internet gibt und Omar Soliman, der Vizepräsident, morgen früh mit den Führern der Opposition eine Übergangsregierung bildet, dass man die Geschichte dann akzeptieren kann. Alles andere ist absolut inakzeptabel. Morgen geht es erst mal wieder zu Volkes Stimme ins Café in Zamalek. Da spielt - neben dem Tahrir-Leben - das Leben der Intellektuellen, der Angestellten, der Facebook- und Presseleute und auf der Straße der Alltag sein Lied. Da hört man am Besten, was los ist. Mittwoch, 2. Februar 2011 Das Netz kommt wieder. Wow! Ich gehe aber erst mal los und frage rum. Leute auf der Straße geben willig Auskunft. Manche sind dafür, den Zustand zu halten, Mubarak auszuhalten, bis er durch Wahlen weg ist. Manche wollen weitermachen und kündigen für Freitag eine große Demonstration an. In den Läden gibt es Brot, es gibt Milch, es gibt Käse und Nudeln. Es gibt auch Obst und Gemüse an den Straßenrändern und alle diskutieren. Überall stehen kleine Gruppen von Menschen zusammen. Auf der Musadak-Straße versammeln sich junge Leute - "pro Mubarak". Jetzt müssen sie lernen, miteinander zu diskutieren, nicht Steine zu werfen, wie gestern Abend in Alexandria: Den Anderen ertragen mit seiner anderen Meinung. Das wird schwer. Aber dabei können wir mit unserer deutschen Seele und Erfahrung sicher helfen. Ich werde es in den Unterrichten bald ausprobieren. Bei Simonds ist große Diskussion allenthalben. Der Besitzer, ein etwa fünfzigjähriger Ägypter, der 28 Jahre in Amerika gelebt hat, ist zufrieden und will einen geordneten Übergang. "Das gibt uns jetzt Zeit", sagt er. Obwohl er auf die Frage, wem er denn trauen würde, nur sagt: "Keinem!" Zu trauen ist niemandem mehr. Aber versuchen lassen würde er es manchen, der sich als im alten Regime "rechtschaffen", im Sinne von offenbar nicht korrupt erwiesen habe. Es sei wie in einer Ehe, meint er. Man müsse es versuchen. Und dann könne man sich ja wieder scheiden lassen. Zucker und Mehl und Leute hat dieser Konditor genug, und so kommen köstliche bunte Kuchen und Patés aus dem Ofen und in die Auslage und auf unsere Teller. Der alte Mann hinter der Kaffeemaschine ist komplett überfordert mit den vielen Wünschen der Kunden, zumal sie länger bleiben als sonst und immer neu nachbestellen. Aber alle zahlen und zahlen mehr als sonst, um ihn und sich bei Laune zu halten. Die Sonne scheint auf die Stadt und die Menschen. Was wird aus den Demonstranten am Tahrir? Ist das jetzt das Ende vom Anfang? Ich gehe nach Hause, um meine Internet-Arbeit am KairoFamilienNetz endlich wieder aufzunehmen und mich bei allen Freunden und Bekannten, die sorgenvolle Emails geschickt haben, persönlich zu melden. Die Sonne scheint strahlend auf die Stadt und wärmt die Menschen, die danach drängen, an ihre Arbeiten zurückzukehren und jetzt ihre Zukunft neu angelegt haben. Auch da gibt es kein Zurück mehr. Was wird aus den Demonstranten am Tahrir? Ist das jetzt das Ende vom Anfang? Ende des am 3. Juni verfassten Rückblicks 8. Juli 2011 - Tahrir und das ganze Land Heute ist Freitag, der 8. Juli. Gestern und in den Tagen zuvor kündigte es sich an: es würde große Demonstrationen geben im ganzen Lande. Eine Kollegin sagte, sie sehe dem Freitag mit Sorge entgegen. Ein Bekannter verschob seine Wochenendreise und blieb zu Hause, mir wurde geraten, nicht auf den Tahrir, in die Menge zu gehen. Gestern war Spannung überall. Viel Gerede an allen Ecken und Enden und viel Unsicherheit. Was wird passieren? Klar war, dass momentan nichts vorangeht, keine Entscheidungen, keine Neuerungen, keine Anklagen, keine Prozesse, keine Fortschritte, keine Entwicklung. Und ganz wenig Bewegung in Richtung Demokratie und Wahlen. Das Militär - ungeübt ziviler Verwaltung und Erneuerung - versucht den Status Quo zu halten. Aber das schon ist widersinnig im Sinne des Wortes "Revolution". Revolution heißt auch im Rückblick auf die Diktatur das Neue zu erkämpfen und zu entwickeln. Ich war mir doch ziemlich sicher, dass auch heute wieder - unter Beteiligung wohl fast aller politischer Aktivisten - die Revolutionäre sich ihre Kontrolle über die Sicherheit nicht würden aus der Hand nehmen lassen. Sie haben in großartiger Weise heute demonstriert, und die Sicherheit auf dem Tahrir gehalten. Das Militär muss sich bewegen und die unbequeme Pflicht erfüllen, die einstigen Dienstherren anzuklagen. Es geht nicht anders. Um des inneren Friedens willen. Gleichzeitig sind genügend Menschen in aller Einfachheit und nationalen Gesinnung immer noch bereit, die Schwierigkeiten, die der Aufbau einer neuen Gesellschaft mit sich bringt, auszuhalten. Wenn die Führung sich nur einfach bewegt! Viele hier haben keine Arbeit (mehr), und viele sind völlig überfordert und verunsichert mit/von der aktuellen Situation. Aber eines wissen sie hier ganz genau: von hier aus geht es nach vorne, nicht wieder in alte Strukturen zurück. Denn das darf man nicht vergessen: Ägypter, wie sie alle dort auf dem Tahrir, sind im Januar und Februar getötet worden für den Rücktritt, für die Vertreibung des Mubarak-Regimes. Diese Bürger haben den ersten Triumph der Revolution nicht mehr erlebt, weil sie mutig waren und/oder am falschen Ort zur falschen Zeit. Ihre Leben werden heute vom Kollektiv in kollektiver Emotion und Verantwortung weitergelebt. Sie sind aller Söhne und Töchter. Jeder Vater und jede Mutter, jede Familie fühlt sich diesen Menschen verbunden und verpflichtet. So ist der Orient. Und so sind die Menschen Ägyptens nach dem 25. Januar 2011. Es wird weitergehen, aber nur, wenn wieder und wieder der Druck vom Volk ausgeht. Ist das nicht Demokratie? Ich bin froh, dass es heute gut gelaufen ist, und ich bin gerührt, wenn ich im Fernsehen sehe, wie viele und wie einig sie wieder mit ihrer selbst organisierten Sicherheit für ihre Sache zusammengekommen sind. Dabei sind sie doch sonst oft so chaotisch! Unglaublich! Wenn's brenzlig wird, dann werden sie ganz stark und einig. Und wer sich fürchtete, wird eines Besseren belehrt. Man hätte doch getrost ins Wochenende fahren können. Aber Hier-Bleiben war auch gut. Ich war jedenfalls im Café Simonds mit Lisa bis zum Mittagsgebet, und es war gut wie immer. Viele waren wieder dort, und alle waren zuversichtlich, dass das heute auch wieder gut geht und dadurch einen Schritt weiter. Das gibt Hoffnung, und so bleiben wir zuversichtlich, ja Masr!! 1. September 2011 - wachsam sein! Ich bin wieder da. Vier Wochen Ferien im Schwarzwald und eine kleine Reise nach Mailand. Treffen mit der Familie, mit Freunden, Leben in Deutschland, Radfahren an der Wutach entlang und ganz normalen Alltag leben. Regen und Gewitter, Sonne und Eisessen. Luftige Kleidung und geregeltes Autofahren. Kunst in designten Museen und Salate am Kirchenbuffet. Ein Gewitter auf dem Land und Hissen einer vom Künstler F.K. Hackländer geschaffenen Dorffahne an der Grenze zur Schweiz mit Sekt und Ansprachen des Landrates. Pflaumenkuchen und Schlagsahne im Schwarzwaldhaus von Menzenschwand und ein guter Pfälzer Wein am Abend im Garten des Hauses in Tiengen am Hochrhein. Das ist für mich Urlaub. Es tat alles gut. Aber von Ferne wirkte auch Ägypten. Es gibt Nachrichten. Mubarak vor Gericht. Wir sehen die Freunde im Café Simonds in Zamalek fernsehen. Schwupp, ist man wieder dort. Aber es ist Sommer und heiß. Am Freitag nach dem Gebet geht man nicht gerne auf den Tahrir. Und nun hat auch der Ramadan begonnen. Vieles passiert hinter den Kulissen und oft ist die Rede, dass wieder und wieder Termine verschleppt werden. Unsicherheit. Wir sind nicht da, und ich hoffe, ich verpasse nichts. Bei unserer Rückkehr ist es ruhig und teuer. Die Preise sind wieder gestiegen, aber das ist normal im Ramadan. Ansonsten haben wir den Eindruck, dass viel gekauft wird. Also gibt es Leute, die Geld ausgeben. Geld arbeitet und das ist ja gut so. Unser Fahrer jedoch und Bassima, unsere "arabische Mama", haben aber Geldsorgen. Ein Sack von Geld könnte auf sie fallen und dann wär' mal endlich für jeden was da. Ich habe aber auch keinen Sack voll Geldes. Leider. Bei Simonds treffe ich trotz Fastens am Tage einige Bekannte. Der Besitzer, ein Ägypter, der zwanzig Jahre in New York gelebt hat, erzählt, dass unser Revolutions-Freund Wahid tot ist. Mitte Fünfzig, ein klarer und froher Verstand, wunderbare Einschätzungen der Revolution und der Spinnereien und auch Barbareien von Ghaddafi. "Good morning, ladies!", und ein verschmitztes Lachen, hochgezogene Augenbrauen und eine Zigarette in der Hand. Ganz klare Ansagen, was möglich ist, was nicht, ob und wo es Perspektiven gibt und keine Beschönigung. Er rollte mit den Augen, kniff den Mund zusammen und schüttelte der Kopf, wenn die Zeitung oder das Fernsehen von Dingen sprachen, die so nicht sein konnten. Wahid, er fehlt, und ich kann gar nicht glauben, dass er nicht mehr am Freitag in unsere Runde kommen wird. Ich hoffe, es kommt der Tag, an dem wir für ihn mitdenken können: jetzt geht's voran, jetzt wird es was. Dann würden seine Augen lachen und leuchten, und er sähe am Horizont den Streifen, den er für "that's it!" hielte. Ich hoffe, wir können den Moment mit ihm teilen, wenn es soweit ist. Mit Leo war ich heute im "City Stars", dem gigantischen Shopping Center des Landes und der Region. Es ist der dritte Tag des Bairam, und es war gestopft voll. Die Leute kaufen, essen, trinken, schlendern durch die klimatisierten Gänge und leben. Leben in einer künstlichen Welt, die durch Konsum und Angebot real ist? Ja, real und ägyptisch, aber auch weg von der Straße. Hier merkt man nichts von Revolution. Vielleicht aber sind die Leute freier. Vielleicht fallen sie auch zurück in die Routine der Vor-Revolutions-Wochenenden. Wer kann schon hinter die Fassaden sehen? Das ist die Oberschicht, und der Rest sitzt im Dunkeln. So ist es de facto. Die Oberen schienen mir heute viele zu sein. Wie viele sind erst die anderen, die nicht hier sind! Aber warten wir es ab. Die Wahlen sollen jetzt im November sein. Am Sonntag beginnen die Deutschen Schulen in Kairo und Alexandria ihre neuen Schuljahre. Der Alltag mit den Ausländern kehrt zurück, und wir sind wachsam. Die kleinen Zeichen können Vorzeichen sein. Ich hoffe, ich erkenne sie. 9. September 2011 - September-Demonstration - das Volk spricht! Ich komme gerade vom Tahrir zurück, wo für heute nach dem Gebet zu großer, friedlicher Demonstration gegen die Verschleppung von Reformen und gegen unberechtigte Verfolgung von Bloggern und solchen Leuten aufgerufen war, die sich kritisch (gegen das Militär) äußerten. Im heute journal des ZDF war vorgestern ein Beitrag gleichen Themas. Ich habe mich heute einem in der Spiegel-Redaktion beschäftigten, ägyptischen Mitarbeiter anschließen können, und wir sind nach dem Gebet um 13:30 Uhr gemeinsam mit einer befreundeten ägyptischen Anwältin auf den Platz losgezogen. Militär und Polizei hatten den Platz noch in der Nacht geräumt, die Verantwortung für Friedlichkeit und ordentliches Benehmen dem Volk überlassen, und so wurden wir dann auch zivil freundlich und sorgfältig kontrolliert. Noch war zunächst nicht viel los, auf dem Platz wurden aber schon gruppenweise Sprech- und Rufveranstaltungen abgehalten, und es war laut und bunt. Die Verkäufer kühler Getränke fanden großen Zulauf. Jung und Alt spazierte durch die Gruppen, man war gelassen abwartend. Ernste Politik wurde immer wieder von rhythmischen Klatschgesängen durchbrochen. Auch Parolen auf Spruchbändern oder "No Silence!"-Schilder wurden hochgehoben und bejubelt. Zunächst war noch nicht viel los, dann aber strömte es von allen Seiten. Von der Oktoberbrücke und der Ramsesstraße sahen wir - dann von einem der Balkone der Häuser am Tahrir große Demonstrationsgruppen kommen. Gut organisiert, patriotisch, fröhlich und zielsicher. Bärtige waren nur vereinzelt zu sehen, eher vor dem Platz als auf ihm. Studenten der Universitäten zogen ein, auch Professoren, wie ich mir sagen ließ, und Politiker wurden erwartet. Immer mal wieder kam ein Kollege mit auf den kleinen, sehr sonnigen Balkon, manchmal auch ein Bruder oder eine Freundin oder ein Mitkämpfer des Frühjahrs. Zum Schluss, kurz bevor ich ging, war der Platz voll und voller Bewegung. Ich war wieder sehr beeindruckt von der Organisation, von der Bestimmtheit der Menschen und von dem immer durchbrechenden ägyptischen "Fest". Dieses politische Ding hier ist ihnen ein so wichtiges, inneres Anliegen. Das ist Ihr Ding, ihre gemeinsame Sache und die machen sie, so gut sie können. So engagieren sie sich jetzt. Um 20:00 Uhr ist Ende. Das hat das Militär verordnet. Alle meine Begleiter waren damit einverstanden und fanden die Regelung in Ordnung. Ich geh' wieder hin und hoffe, dass es bis zum Schluss friedlich bleibt. Wir warten. 12. Oktober 2011 - der Frühling der Revolution, Ich habe lange nicht mehr geschrieben, dann lange sind wir schon auf dem Weg, den wir erahnten, und es ist schwierig, wie erwartet. Aber es ist auch jeder Schritt wahrscheinlich nötig, um weiterzukommen. Am letzten Sonntag dann aber ist auch hier eine gewisse "Schmerzgrenze" überschritten worden, die zu denken gibt. Wir waren noch am Freitag zum gemeinsamen Kaffee und Gespräch in Zamalek: Lisa, Ibrahim, ich, einige andere, die immer dort sind. Am Freitag wurde bekanntgegeben, dass drei Frauen den Friedensnobelpreis erhalten würden, darunter eine mutige Jemenitin. Wunderbar! Wir haben uns alle gefreut. Am Donnerstag war 6. Oktober, ägyptischer Nationalfeiertag, gewesen. Es war ruhig geblieben, obwohl die Telephonnummern aller Handys auf elf Ziffern umgestellt worden sind. Manche hatten gemutmaßt, das sei Anlass, das Netz wieder zusammenzuklappen. Aber nichts passierte. Dafür passierte dann wieder was am Sonntag. Ein Arbeitssonntag, in den Kirchen war gebetet worden, Muslime und Christen hatten ihren Arbeitssonntag wie immer, und einige Kopten demonstrierten vor dem Fernsehgebäude in Maspéro gegen das Anzünden einer Kirche in Assuan und Diskriminierung. An sich keine Neuigkeit. Ihr Recht, denkt man und dachte sich nichts dabei, lange in den Sonntagnachmittag hinein. In der evangelischen Kirche in Boulak war ein schönes Konzert nach dem Gottesdienst angekündigt und gerade wollte ich aufbrechen, da erreichten mich Meldungen per SMS, die Oktoberbrücke und Maspéro seien zu meiden. Also gut. Ich gehe nicht. Muss ja nicht sein, in irgendwelche Rangeleien und Polizeisperren zu geraten. Doof. Stunden später im Fernsehen, im ZDF, die erste Meldung: blutige Straßenschlachten in Kairo! Was war das denn??? Schlägerei und Straßenjagd auf Demonstranten vor dem Fernsehgebäude. Niemand wusste und weiß bis jetzt, was wirklich passiert ist. Und die Medien hatten alle nichts Eiligeres zu tun, über "die unsichere Lage in Kairo" zu berichten! Wir waren wirklich entsetzt. Hier bei uns war nichts und in der Stadt war Krawall. Schlecht, aber ist das ganz Kairo??? Nein. Wir sind immerhin hier in einer Großstadt von wohl mehr als zwanzig Millionen Einwohnern, und die ist mitten in der Revolution. Aber sie kippt nicht! Ich rief Lisa an, die gerade erst von ihrem Büro in der Innenstadt den Heimweg angetreten hatte, da die Straßen um den Tahrir nun wieder straßenschlacht-frei waren. Was war das denn? Wer hat es angezettelt, warum? Was sollte das? Nach und nach kommen unangenehmerweise auch Mutmaßungen und mögliche Schlüsse ans Licht, und die sind der Welt klar. Uns auch. Die Bilder erinnern fatal an die Zeit des 25. Januar, und es kommt einem komisch vor, dass nach der Revolution nun wieder solche Schlägertrupps unterwegs sind. Auch die Schussfahrten der Panzerfahrzeuge der Armee gegen die Demonstranten sind neben "entsetzlich" auch seltsam nahe den ersten Schussfahrten im Januar. Alles sehr obskur!! Wer hat da was gewollt, und wer hat diese Ralley angezettelt? Wer hat welche Interessen, und wer war es? Jetzt laufen Untersuchungen, und von allen Seiten gibt es Beteuerungen, Beschwichtigungen und freundliche Worte. Aber da war auch Hass, und es ist eine unendliche Verzweiflung bei den Opferfamilien. Das kann man sehen und verstehen. Und welche muss es geben, die das wollen und die sich jetzt wieder sicherer fühlen. In den Zeitungen, in den Schulen, auf den Straßen, in den Instituten hernach, am nächsten Tag: demonstrative Umarmungen, Brüderlichkeit zwischen Christen und Muslimen. Keine Spur von Anfeindung. Die Menschen waren sichtbar und geäußert sauer und aufgebracht über die Inszenierung, über die Opfer, die ihnen nun angeheftet werden. Abermals immer in das alte Schema: Feindschaft zwischen Muslimen und Kopten gepresst. Das sind sie hier nicht! Die alten Probleme nie gelöst, sind dennoch neuerliche nicht hinzugekommen, nicht solche, wie sie nun gewaltsam in die Medien geknallt werden, sondern nur ein Gespenst, das den einen glauben machen will, der andere habe mehr und anderes gegen ihn als je zuvor. Und keiner glaubt es. Man ist ungläubig und fassungslos sauer. Muslime sind sicher nicht zu großen Zugeständnissen gegenüber Kopten zu bewegen. Und Kopten möchten sich keineswegs in einen Topf mit Muslimen werfen lassen. Aber in Zeiten der Revolution sind sie alle Ägypter und arbeiten für ihr Land. Soviel stand fest und steht fest. Die geifernden Angreifer und verfolgten Angegriffenen vom Sonntag/Montag kommen aus einem Lager, das offenbar nicht in demselben Sinne "Ägypter" sind. Nur so ist es zu erklären. Pessimistische Prognosen gehen dahin, dass es Jahre und Jahre dauern wird, bis ein Parlament und ein Präsident gewählt sind. Dass alles verzögert werden wird. Ich kann nicht glauben, dass das Volk sich diese Mittel wieder aus der Hand nehmen lässt und denke, da müssen sie - und wir mit ihnen - durch, und der Weg geht weiter. Hart und unbeirrt, wenn auch nicht ungerührt. Und mit Meldungen wie der Stürmung der israelischen Botschaft im September und den Krawallen zwischen Christen und Muslims werden natürlich der Tourismus und die Wirtschaft abermals weiter geschwächt, was der Konterrevolution zugute kommt, die aus der Schwäche eigene Stärke zu gewinnen sucht. Der Alltag ist normal chaotisch, die Schulen arbeiten wieder. Die Busfahrer haben gestreikt mit dem Effekt, dass die Kleinbusse in umso größerer Zahl in den Verkehr einrauschten. Die große Dokki-Straße in der Nähe unseres Hauses ist ein einziger Verkehrsrausch! Froh ist man um jeden Feiertag, um jeden Freitag, der ohne das kreischende Aufeinanderrasen der Blechameisen abgeht. Nur die Bäume vor unseren Balkonen filtern den Dreck und Staub etwas. Auf den Autoscheiben liegt er in winzigen Tropfen und klebrigen Tupfen: kaum zu entfernen! Es klebt. Die Revolution klebt an uns wie der Staub der Stadt. Nein, ich fühle mich nicht mehr bedroht als zuvor. Nein, ich gehe abends auch auf die Straße. Nein, es ist möglich, normalen Alltag zu leben und nicht an die Revolution zu denken. Und doch: wir sind gerade mitten drin. Von Seite der europäischen ernstzunehmenden Medien muss man verlangen können, dass sie auch manchmal stillhalten und nicht jede "Inszenierung", sei sie auch dramatisch, kommentieren und exportieren! Man könnte dem Land und seinen Menschen einen Gefallen tun und beitragen zu einer Entwicklung, die sich intern vollziehen muss: Solidarität ist ein großes Mittel dabei. Die gibt es hier. Es ist nicht Kumpanei, es ist nicht Freundschaft, es ist nicht Gleich-Sein. Aber es ist miteinander über einander und die Zukunft des Landes nachdenken. Fremde wie wir sollten sich dabei manchmal zurückziehen, und die Medien sollten nicht alles glauben, kommentieren zu müssen. Schweigen und begleiten wäre auch ein Weg! Als Kommentar sehr empfehlenswert und angenehm ausgewogen fand ich den Beitrag von Volker Perthes in der ARD am Abend des 9. Oktober, abrufbar unter tagesschau.de/ausland/koptenkairo110. Fazit im Moment: Die Türe öffnet sich nur langsam, aber ein Spalt genügt schon, um in die Zukunft zu schauen. Und was man einmal an Gutem erahnt, lässt einen nicht mehr ruhen, bis man der Sache Fundament, Form und Inhalt gibt. Jetzt wird gerade erst am Fundament gearbeitet. 19. November 2011 - gegen die mediale Panik-Mache vor den Wahlen! Reagieren auf Fernsehnachrichten! Ich möchte nicht aus Kairo schreiben, wenn nicht wirklich Wichtiges passiert. So viel wird in den Medien lapidar zur Nachricht gemacht und zerredet! Es ist mir oft zuviel. Jetzt gerade aber passiert Wichtiges: Wie alle wissen, sind wir mitten drin in der Transition - in dem Übergang -, der mit allen Ursachen (weitgehend bekannt), Wirkungen (sichtbar) und Folgen (denkbar) ganz klar von Anfang an vor uns und den Ägyptern lag. Also möge die Welt jetzt nicht so tun, als ob - oh Überraschung! - alles jetzt aus dem Ruder liefe. Unser Alltag, unser Leben, in Kairo und anderswo, ist unberechenbar wie eh und je. Besonders aber in Kairo leiden wir unter Revolution und Finanzkrise, unter Verkehrschaos, Überbevölkerung, Schmutz in Luft und auf den Straßen. Wir wissen nicht, was kommt, und wie wir unsere Leute - die, die bei uns arbeiten und mit uns leben - mit Geld, Zuspruch und Know How versorgen können, so dass sie persönlich Selbsthilfe leisten können. Wir sind alle etwas allein gelassen und hilflos in der Flut der Nachrichten, und der Ereignisse unserer Zeit. Aber was ist da zu tun? Ist es eine gute Idee, Panik zu verbreiten und Geheul anzustimmen über das, was wir von vorne herein zu erwarten hatten: Chaos? Nein, denke ich, das ist nicht in Ordnung. Auch heute, wie jeden Freitag, haben wir uns im Café getroffen. Das Fernsehen lief in Hintergrund. Wir waren viele aus der Gruppe der "Revolutionsgenossen", die wir uns seit dem 25. Januar regelmäßig treffen. Schon vor dem Gebet füllte sich der Tahrir-Platz. Es waren die Islamisten in Großdemo angekündigt. Unsere Gespräche gingen allerdings zuerst um die Show-Ups, die unsere deutschen Reise-Politiker in aller Naivität und Uninformiertheit auch in Diskussionsrunden hier in Kairo offenbaren. Fakt ist offenbar: Einer oder eine (deutscher Politiker / deutsche Politikerin) kommt gerade jetzt gerne in Kairo angereist. Kaum einer hat jedoch ernsthaft eine Ahnung von der Region, von der Lage, den Vorgängen, Bewegungen, Problemen, Wünschen, Nöten und daraus folgernd von dem realen Bedarf an Mitteln, Ideen und Initiativen. Seltsamerweise scheinen auch Erkenntnisse oder Reisefazits von Vor-Reisenden (Reisende des deutschen Parlamentes auf Kosten der Steuerzahler) nicht beim Nachreisenden angekommen zu sein, denn wir fangen immer wieder bei "Adam und Eva" an: Wir klären über Situationen auf, erklären Ereignisse, zeichnen einfache und kompliziertere Zusammenhänge ägyptischen oder historisch-orientalischen Denkens und Handels auf. Wir versuchen, eine gewisse Sensibilisierung für aktuelle kritische Befindlichkeit fest zu machen, aus der der jetzt Reisende (deutsche Politiker) dann verstehen mag (im Idealfall!), warum alles langsam, oder jetzt nicht, oder vielleicht auch niemals funktionieren wird. Wofür reisen diese Leute eigentlich? Die Antwort liegt auf der Hand, und es ist schon zu viel Aufwand, hier überhaupt darüber zu schreiben. Es nervt! Unsere Gespräche gingen nicht um die Programmvorstellungen der Islamisten, die heute ihren großen Auftritt haben wollten auf dem Tahrir. Unsere Gespräche gingen um unsere Arbeit, um Leute, die hier ihre Projekte vorantreiben - z.B. ägyptische Frauen, die Unternehmen leiten, und die jetzt ihre Ideen neu formulieren und in Programme umsetzen wollen und müssen. Nicht nur ihnen, aber auch ihnen gegenüber steht die Position der Islambrüder und ihre Wirkung. Im Grunde zeigt sich im Kontrast die Ratlosigkeit und Einfachheit dieser Gruppe von nicht-politischen Politisierten. Sie werden und mögen, wenn diese Wahlen zustande kommen und ablaufen, als Muslimbrüder, als Religiöse, eine Menge Stimmen gewinnen, weil hier eine Menge Menschen nichts verstehen außer "Islam". Man hat sie nichts lernen lassen, man hat sie dumm und unerzogen und ungebildet gehalten, und man hat ihnen den Strohhalm "Islam" als persönliche und kulturelle Identitätsbezeichnung gelassen oder neuerlich vor die Füße geworfen. Verdenken wir ihnen, dass sie nun das einzige, was sie irgendwie kennen und zu erfassen versuchen, an sich ziehen wollen und für glückbringend halten? Wir denken, dass diese Muslimbrüder, Salafisten, oder wie sie alle sich nennen, einen Riesensprung machen werden. Und es wird einen medialen Aufschrei geben! Große Empörung und Geschrei! Aber, die Chance ist: die ganze Blase der bärtigen Ratlosigkeit und Programmlosigkeit wird sich durch die Phase der Konsolidierung des politischen Alltags offenbaren. Das Pendel kann und wird sich hernach automatisch ganz von selbst - aber (leider) erst nach dieser Erfahrung - in Richtung einer Mitte, die allen gehört und den meisten gut tut, einpendeln. Ohne Schmerz kein Gewinn!! Wenn es nicht so wäre, wäre es angenehmer und gefiele uns besser. Klar. Was aber sind wir so ungeduldig? Die Menschen hier haben nie Demokratie gewählt, oder gelebt oder erlebt oder ihre Schwierigkeiten und Herausforderungen gelebt. Wie sollen sie es wissen, ohne diese Erfahrung? Wir werden erleben, dass sie bitter und hoffentlich auch gut, diese Erfahrungen zu eigenen Erkenntnissen machen und daraus weitermachen. Mein Fahrer, Sameh, will, dass seine alten Eltern gut medizinisch versorgt sind. Er will Arbeit. Bassima, unsere "ägyptische Mama", will für ihr im Monat verdientes Geld für sich und ihre Lieben kaufen können, was sie brauchen: Essen, Medikamente, Benzin für das Familienauto. Die Türwächter gegenüber wollen ihren Tee trinken und mit dem Geld, das sie nach Hause bringen ihre Kinder zur Schule und Universität schicken können. Die Millionen, die täglich auf den Straßen sind, wollen ihre Arbeit machen und dafür am Ende des Tages ein realistisch in Lebensunterhalt und Lebensgenuss (man ist schon mit sehr wenig zufrieden) umsetzbares Gehalt einstecken. Der Fisch-, oder Gemüse-, oder Elektrohändler will seine Ware verkaufen und seine Kontakte pflegen, will seine Kunden sprechen und mit ihnen Freundlichkeiten oder Familiengeschichten teilen. Und so der Elektriker, der Klempner, der Taxifahrer, der Lehrer, der Zimmermann, der Bügler, der kleine Bauer und Arbeiter, und wie sie alle heißen. Was maßen wir uns an, zu be- oder verurteilen, wen sie jetzt wählen? Haben wir zur Revolution beigetragen.? Na, eher nicht. Mir sind die Augen aufgegangen, als die Revolution in Gange kam, und ich kann nur sagen, ich bin dabei. Was jetzt kommt, mag uns nicht gefallen. Es wird Teil einer Selbst-Entwicklung sein, die so oder so vonstatten gehen muss, und die allen Fahrern, Bassimas, Bawabs, etc. die von ihnen selber gewählte Regierung verschaffen soll. Sehen wir, was passiert. Und wenn es geht, bleiben wir, um sie zu beraten und weiter auch zu bezahlen. Wenn es nicht geht, gehe der, der es nicht aushalten kann. Sie müssen jetzt ihren Weg finden und auch durch den Dschungel einen Weg gehen, wenn sie nicht anders können. Dann vielleicht alleine, ohne uns. Aber auch daraus würden Erkenntnisse und Vergleiche folgen, die ihre Erkenntnisse wären und Erfahrungen und Resümees. Sie müssen diese Erfahrungen machen und Erkenntnisse gewinnen. Nicht wir. Es ist ihre Revolution, ihre Transition, ihr Weg und ihr Land. Unser ist dann die Entscheidung, ob wir bleiben oder gehen. Ich weiß, nicht viele sind so frei, einfach zu gehen. Denn viele von uns, haben "geteilte" Familien. Sie leben in beiden Kulturen. Aber es ist auch ein Prozess, der da jetzt mit uns allen abläuft, und es gibt jetzt Zeit zu sehen und abzuwägen. Es wäre schöner, wenn die Ägypter auf dem freien, gemeinsamen, offenen Wege blieben. Sie sind - so chaotisch sie sind - tolle und liebenswerte und warmherzige, freundliche Menschen. Die Islamisten wissen nicht, was und wohin sie wollen. Sie haben keine Ahnung von Umsetzung von Politik und sind gefährlich manipulierbar. Die Demokraten aber sind streitbar, auch ungewiss und unsicher, aber sie kämpfen. Sie sind im besten Sinne in vielen Denk- und Gestaltungsprozessen gespalten. Sie sind kritisch, selbstkritisch, verzweifelt, und sie wissen, was und wen sie nicht wollen: Religiöse Wahnsinnige und Militärs und alte Mubarak-Leute. Gut. Jetzt gilt es, aus den vielen "Neins" die wichtigen "Jas" zu formulieren und zu realisieren. Dafür sollten auch wir nicht die Krise herbeireden, sondern den Wiederaufstieg. Und der kommt an vielen Stellen in kleinsten Portionen. Erst mal in denen, die heißen: alle gehen wählen. Das wird in zwei Wochen sein. Ich werde wieder schreiben, wenn ich an der Basis höre, was sich tut. Und bitte keine Panikmache! Realistische Wachsamkeit, freundliche Beobachtung und intellektuelle Unterstützung stehen hoch im Kurs! Warum fällt uns das nur so schwer? 21. November 2011 - angekommen im "Herbst der Revolution" Wir sind doch wieder da. Jetzt geht es in die ernste Runde der Revolution: Am Freitag war der Tahrir-Platz voll von Islamisten und Religiösen. Eine Handvoll von Revolutionären hatte sich entschlossen auf dem Platz zu bleiben, dort zu campieren. Ihr Protest richtete sich gegen die Tatsache, dass sich nichts geändert hatte, dass niemand sich ernsthaft um Reformen, um Verbesserungen bemühte. Niemand auch kümmerte sich um die Opfer der Frühjahrstage, niemand hielt das Militär davon ab, Andersdenkende einzusperren, und sie wurden auch bislang nicht wieder freigelassen. Frust! Dieser Protest ist von der Polizei gewaltsam am Samstagmorgen geräumt worden, worauf die Aufrufe zum Massenprotest erfolgten, und dann trafen Polizei und Demonstranten aufeinander. Wo genau das Militär war, weiß ich nicht. Plötzlich am Samstag war jedenfalls die Polizei wieder verschwunden, nachdem sie die Demonstranten massiv mit Gas und Geschossen angegriffen haben. Die vielen Verletzten und inzwischen auch leider wieder Toten zeigen das. Die Demonstranten haben reagiert auf übermäßig scharfe Polizeiattacken. So sieht es für mich jedenfalls aus. Der Protest wird chaotisch, weil niemand Ordnung schafft, und weil es auch nicht gewollt ist von Seiten der Militärs. Die Anarchie kommt mit dem Frust, und da kommen Vandalismus und Gewalt. Aber wohin das geht, ist nicht klar. Auf jeden Fall ist klar: als am 11. März das Volk nach Hause gegangen ist und feiernd den Job getan hatte, da war es nur die erste Hälfte. Jetzt folgt noch der Teil, der dann hoffentlich in die Wahlen führt. Ich war heute früh auch im Café in Zamalek, und es war wie in Revolutionszeiten. Der Fernseher lief. Es war total voll. Ein großer Sprach- und Sprechhorizont allenthalben. Der Bekannte vom Spiegel hat mich später mehrmals vom Tahrir angerufen und berichtet. Morgen treffen wir uns wieder, denn ein Teil von uns kann in der Innenstadt gar nicht ins Büro. Also treffen wir uns bei Simonds. Die Deutsche Schule in Bab el-Luk ist wohl zu. Die DEO arbeitet. Das Goethe-Institut in Boustan und deren Programmabteilung sind wohl auch zu. Wir arbeiten in der Sprachabteilung. Die Kurse laufen, und das ist gut so. Wer kann, der arbeitet und der Focus ist die Wahl. Im Moment ist der Tahrir offenbar voll von Demonstranten. Es gibt keine Polizei und alles ist offenbar friedlich, aber man will bleiben. Sehen wir, wie es weitergeht und hoffen wir auf wenig Gewalt. Auf Verständnis des Militärs kann man eigentlich nicht hoffen. Und die Polizei ist, wie sie ist. Leider hat sich ja da auch nichts getan in den letzten acht Monaten. Kein Neuaufbau, kein besseres Training, Schulung und ein Neu-Anfang. Das habe ich eigentlich nie verstanden und es kam mir auch seltsam vor. Denn so vieles hängt an der Sicherheit: Ziviler Schutz, Verkehr, Tourismus. Also war das Gefühl richtig. Wenn die Menschen eine gemeinsamen Plan finden und einen Weg gemeinsam festlegen, wie man durch die Wahlen und von der SCAF-Regierung (Militär) zur Zivilregierung kommt, dann wird es weiter nach vorne gehen. Wie sie dahin kommen wollen, das weiß zur Zeit niemand. Aber so sind sie eben: Zeiten der Revolution, Zeiten der Ungewissheit. Zeiten großer Bewegung und des Aufbruchs. Möge dieser Aufbruch den Weg finden, der zum Ziel Demokratie führt. Das wollen sogar die Religiösen. Das vor allem will eine Mehrheit hier im Lande. Jenseits aller politischen oder anderen Differenzen. Und das müssen sie hinkriegen! 24. November 2011 - Normalität vs. Straßenkampf Donnerstag, 24. November. Eine Arbeitswoche geht in Kairo dem Wochenende entgegen. In den Stadtvierteln, wo wir wohnen, in Dokki, Mohandessin, in Zamalek und Haram - aus anderen habe ich keine direkten Berichte - sind Verkehr und Leben auf einem äußerlich absolut normalen Level: Es ist voll, es ist Stau. Leute kommen von der und gehen zur Arbeit. Schulen arbeiten, Schulbusse fahren, die Luft ist schlecht, und die Leute sind auf den Beinen, um ihren Alltag zu meistern. Derweil läuft auf dem Tahrir und in den umliegenden Straßen ein ganz anderer "Kampf" ab. Da stehen viele junge Leute, in der Mehrzahl andere als im Januar/Februar, in Front gegen eine Polizei, die total aus dem Ruder gelaufen ist. Schlagstöcke, beißendes, ätzendes Tränengas, Gummigeschosse in brutalster Weise und mit Spaß auf Mit-Ägypter abgefeuert, waren und sind keine Antworten gewesen, sondern waren der Anfang der blutigen Schlacht. Sie sind zornig, die jungen Leute, sie sind empört und sie sind ungläubig, dass die eigenen Ägypter ihnen das antun können. "Wie können sie uns so beschießen?", sagte mir ein junger Mann, der bleich und abgekämpft vorgestern Abend ins Institut kam. Direkt vom Platz. Die brutalsten Bilder gehen natürlich über Facebook und die Medien in die Welt. Leider auch immer wieder und wieder. Das ist aber nicht alles. Gleichzeitig arbeiten in den Behelfskrankenhäusern Ärzte und Helfer unermüdlich und ohne Pausen und kümmern sich um die Verletzten und Angehörigen. Da ist übergreifende Solidarität, und da ist keine Grenze in Religion oder Stand. Und das ist wieder auch ein Teil dieses Schreckens, der besänftigt und freut. Mittlerweile gibt es dann die "Ghandis", die sich zwischen die Zornigen, "Guevaras", und die Polizei stellen und versuchen, beide Seiten von Gewalt abzuhalten. Mutig und richtig. Wir anderen sehen über das Fernsehen, Radio oder über Nachrichten von Freunden zu. Viele geben Geld und bringen Essen oder kaufen ein. Auf den Straßen, Plätzen, in den Cafés laufen die Fernsehgeräte, man schaut und kommentiert die Bilder vom Tahrir. Es wird viel telephoniert. Man versinkt in die Zeitungen, sucht die Bilder ab nach Gesichtern, die man kennt, nach Szenen, die man erkennt und kommentieren kann. Irgendwie versucht jeder, zu verstehen, wo Zusammenhänge sein könnten, die auf einen Ausweg hinführen, der Ruhe und Ordnung bringt. Meistens sieht man bei allen Diskussionen ratlose Gesichter, man erahnt schwierige Geschichten vom Tahrir und von Bekannten hinter den Gesten. Meistens keine erfreulichen Geschichten. Niemand weiß, wohin es geht. Und doch machen alle, die können, Alltag. Wer Arbeit hat, der geht auf jeden Fall. Arbeit ist das wichtigste! Und am Montag soll gewählt werden. Wird gewählt? Morgen, Freitag, ist wieder ein "Millionenmarsch" angekündigt. Warten wir ab, wie der Tag verläuft. Panik ist nicht angesagt. "Déjà vue" macht gelassen. Das gilt dieses Mal offenbar auch für die Ausländer. Es gibt regelmäßige Informationen von der Botschaft. Auch wir im Goethe-Institut haben eine aktuelle Telephonliste und könnten Telephonkette machen. Wir arbeiten in den Büros und in den Kursen, indem wir auffangen, wo Gesprächsbedarf ist, und indem wir auch normal arbeiten. Ich habe das Gefühl, das ist von denen, die kommen gewünscht und gebraucht. Ab und zu auch mal etwas Schönes anderes dazwischen: Popsongs, Film oder Literatur mit Inhalten zum Nachdenken. So sieht unsere Mischung aus. Währenddessen sind einige Mitarbeiter der Programmabteilung - nahe dem Tahrir - inzwischen temporär nach Dokki in die Sprachabteilung umgezogen. Wenn am Montag gewählt wird, ist dieser Tag unterrichtsfrei. Und heute in einem Monat ist Weihnachten. Wenn dann schon einiges geregelt wäre, wäre es allen recht. Wir warten gespannt und sind im Grunde schon dabei, uns viele Szenarien durchzudenken. Auf keinen Fall darf man viel erwarten. Aber Recht und Ordnung wären schon viel, und dabei ist das doch, wenn man in politisch sozialen Maßstäben denkt, eigentlich das Mindeste, was ein Staat leisten können sollte! Warum die Regierenden auf Abruf nicht mindestens einen Beginn von Veränderungen alter Strukturen in neun Monaten geschafft haben, ist mir völlig unverständlich. Zumindest ein Anflug sichtbarer Verbesserung von Sozial- und Rechtsgesetzen und -grundsätzen hätte ja schon genügt! Aber die sehen wohl die Mehrzahl der 80 Millionen auch nicht, eher das Gegenteil - wie auch Amnesty International leider bestätigt hat. Und daher sind wir jetzt, wo wir sind. Schade. Es war eine echte Chance für alle. Beide Seiten haben dabei Fehler gemacht, ganz klar. Sehen wir, was noch an Potential zum Reformieren übrig ist. Und hoffen wir auf einen friedlichen national einigen Freitag! 28. November 2011 - und es war ein vielversprechender Anfang! WOW! Ägypten wählt. Zum ersten mal seit wann???? - zum ersten Mal überhaupt in ihrer jahrtausendelangen Geschichte! - haben die Ägypter gewählt. Und es gehen die Bilder um die Welt, von auf den Straßen vor schäbigen Häusern anstehenden Menschen. Und jeder wartet, alle kommen irgendwann dran. Sie sind froh, sie warten geduldig, sie wollen unbedingt da rein und abstimmen. Sie geben ihre Stimmen ab, und damit sehen sie ihr Gewicht, ihre Stimme als Teil von Ägyptens Zukunft in der Box. Niemanden habe ich gehört, der sagte, er gehe nicht. Alle, die ich traf im Taxi, beim Einkaufen, im Café, im Chat, am Telephon, waren unterwegs zu - oder kamen von den Wahlen. Großes Thema überall und aller Thema! Je weiter der Tag dem Abend entgegenging, desto entspannter wurde die Lage. Wurde am Morgen noch aufgeregt - über Twitter und Facebook - vom Anfang aller Dinge erzählt, kehrte gegen Nachmittag die Gewissheit ein, es läuft. Bei weitem war nicht alles ok. So hörte ich, dass der bekannte Blogger "Sandmonkey", der in Heliopolis zur Wahl kandidiert, nicht auf allen Wahlscheinen verzeichnet war. Manche Muslimbrüder fingen ihre Leute vor dem Wahllokal ab und sollen sie vorab noch beraten haben! Oder gar hätten sie Frauen die Wahlzettel ausgefüllt und sie hernach ins Wahllokal geschickt. Auch Werbung soll vorher verteilt worden sein - vereinzelt. Aber überall waren wohl auch eigene ägyptische Leute, junge Leute, die twitterten und auf Facebook schrieben, aber auch andere. Sie mahnten, sie beobachteten und gaben ihren Protest laut zum Besten, wenn sie es für angebracht hielten. Sie berichteten einfach und waren die Beobachter der eigenen Sache. Und es hat gezeigt, dass man sie nicht wegschieben kann, dass sie da sind, präsent, dass sie aufmerksam und sorgsam wachend, dass sie eben nicht die dumme Masse sind, als die man sie all die Jahre behandelt hat. Bravo! Das war wie auf dem Tahrir, wo Sicherheit von den eigenen Leuten geprüft und angemahnt worden ist. Und das fand ich immer schon ganz toll und jetzt heute auch wieder. Wenn es so morgen noch einmal, dann am 14. Dezember und im Neuen Jahr abläuft, dann können wir schon manches als "gelungen" bezeichnen - und das nach den Katastrophen der letzten Wochen! Die Leute sind wachsam, und das müssen sie auch bleiben. Ich habe es heute gesehen, als ich den Taxifahrer fragte, ob er schon wählen war. Ja, meinte er, aber ich solle nicht glauben, dass er, nur weil er ein einfacher Mann sei, die einfachen Schwätzer oder altgedienten Politiker wählen würde! Nein, sein Land sei jetzt frei, und er wolle für seine Kinder, dass sie frei blieben. Für ihn seien die jungen Leute vom Facebook und Tahrir an der Reihe. Er würde schon den Kocher oder das Radio nehmen, das ein Muslimbruder ihm schenkte, shukran, shukran - Danke, Danke!! - aber er sei doch nicht korrupt! Das Radio nehme er zum Nachrichtenhören und zu seiner Bildung und den Kocher, um mit seinen Nachbarn Tee zu kochen und zu trinken, wenn sie über Politik diskutierten. Und Diskutieren sei ja ein Vorrecht der Demokraten, nicht der Islamisten! Dem war nichts entgegenzusetzen. Es wird viele Stimmen für die Religiösen geben, das sieht jeder. Aber die, die das neue freie Ägypten wollen, sind ganz stark. Besonders mit dem heutigen ersten Tag des Wählens. Es müsste alles etwas ruhiger werden, hoffentlich, und selbstbewusster. Erfahrungen bringen Erkenntnisse und Erkenntnisse führen zu Ergebnissen. Und die Ergebnisse müssten - wie Amr Hamzawy es gerade in der ARD sagte - zur Konsolidierung des Parlamentes führen, das wiederum - und das kann lange dauern - um die Verfassung ringt und an ihr feilt, bis für alle das Bestmögliche festgeschrieben werden kann. Ägypten und den Menschen kann etwas mehr Selbstbewusstsein im Bezug auf Demokratiefähigkeit gut tun. Denn sie brauchen auch alle etwas mehr Ruhe. Sie werden nicht wieder in den Schlaf der Diktierten fallen. Man muss weiter und wieder mit ihnen rechnen, aus allen politischen Ecken. Vielleicht aber kommt dann auch langsam wieder Stabilität in das ganze alltägliche und politische Geschäft und das Leben der Menschen. Luft holen und wunderbare neue Freiheit genießen und produktiv umsetzen! Das wär's! Und das ist heute wohl jedes Ägypters Traum. Ich wünsche es ihnen sehr! 2. Dezember 2011 - was machen wir jetzt daraus? Heute war einer der Tage in Kairo, wo es um etwas Wichtiges ging: Es mag sich lapidar anhören, aber heute fand in der Deutschen Evangelischen Oberschule DEO der alljährliche Weihnachtsbazar statt. Wie gesagt, alljährlich wird auf diesen Tag von verschiedensten Gruppen, Institutionen, Geschäften, Privatleuten hingearbeitet, gebastelt, vorbereitet, hergestellt, organisiert, geplant, gekocht, gebacken, arrangiert, rekrutiert - alles. Hunderte von Helfern, von Zulieferern sind alljährlich beteiligt an diesem Weihnachtsbazar, der auf dem großen Gelände der DEO in Dokki stattfindet. All das stand mittlerweile und zwischendurch durchaus in Frage. Revolution, Unsicherheit, Leute in Wahlsituation, im Umbruch. Wie geht man damit um? Der erste Advent war verstrichen, die Wahlen haben stattgefunden. Und wir waren zufrieden ruhig und beruhigt. Also es findet statt. Aber werden auch Leute kommen? Genug, damit wir unseren Sozialprojekten wieder unter die Arme werden greifen können? Heute früh - die Sonne strahlte - machte sich die DEO-Kairo-Welt auf den Weg. Wir Helfer früh, die Besucher ab 13:00 Uhr. Großes Aufgebot, und großes Angebot und... sie kamen! Hunderte von Helfern und sicher Fünftausend und mehr Leute. Es waren sehr viele, und es wurde extrem voll auf dem Gelände. Es war ein großes Treffen, Sich-Umsehen, Kaufen, Einstimmen, Reden, Reden, Reden und ein glückliches Wiedersehen von alten Bekannten und Freunden. Es war weniger Weihnachten für meine Stimmung. Ein "Kirchenzelt" lud einige große Vorleser und viele Kleine ein, den vorweihnachtlichen Geschichten zuzuhören, das war aber auch leider das einzige, wo es etwas "weihnachtlicher" zuging. Im Biergarten, im Café, bei den österreichischen Damen am Kindergarten gingen Unmengen an Gulaschsuppe, Brötchen, Würstchen mit Kartoffelsalat und Brötchen, Brezeln, Kuchen, Kaffee, Glühwein, Bier und Getränke weg. Die Deutsche Botschaft erfreute - wie immer - mit Lebkuchen und Adventskalendern und vielem anderen. Brauche wir das? Ja. Brauchen wir. Tat uns gut. Und wir haben gegessen, getrunken, erzählt, einfach viel geredet und gearbeitet und geschafft auf diesem Bazar. Das war super gut und das brauchen wir. Ja! Die Wahlergebnisse knicken einigen von uns schon die Kinnladen runter. Aber!!! - Wir wollen mal jetzt ganz realistisch bleiben und - darüber wurde ganz ganz viel und intensiv geredet. - Alle sind zum ersten Mal in ihrem Leben zur Wahl gegangen. Die Muslimbrüder sind Teil der Gesellschaft, ihre Kandidaten waren auf weite Strecken und in vielen Bezirken die einzigen, die Leuten richtig bekannt waren. Die Muslimbrüder haben in sich - so sagten viele - durchaus gerade auch das Personal-Potential, das die zivile ägyptische multikulturelle Gesellschaft will. Das war der Tenor. Wer jetzt die Muslimbrüder gewählt hat, der wird in den nächsten Jahren sehen, was sie umsetzen an Zivilgesellschaft und wenn ihnen das nicht passt, dann sind sie bei der nächsten Wahl weg vom Fenster. So habe ich es gehört, und zwar aus allen Ecken. Also beruhigen wir uns erst einmal. Am Montag sind noch Nach- und Stichwahlen, und am 14.12. ist die zweite Wahlrunde. Auch die wird nicht viel anders ausgehen. Das Schreiben der Verfassung wird der Akt der Beurteilung werden. Die Menschen hier sind mittlerweile sehr wachsam. Sie fiebern den Paragraphen und Artikeln entgegen. Sie wollen Sicherheit, Identität und eine kulturelle Basis, die ihnen entspricht - sprich: multikulturelles Miteinander möglich macht und gegenüber der ganzen ägyptischen Gesellschaft (Muslims aller Couleurs), Frauen, Christen, Ausländern, die hier leben, Touristen, Investoren, offen bleibt. Sollte dem nicht so sein, gehen entweder die Ägypter wieder auf den Tahrir, oder wir werden gehen müssen - nicht anders können. Das ist absolut Konsens. Ich habe natürlich nicht mit Bauern oder Oberägyptern oder Armen heute gesprochen. Aber die waren auch nicht auf dem Tahrir! Komm mit auf den Tahrir, sagten mir die Freunde! Du bist willkommen! Und das bleibt so! Das hat mich gefreut. Ich bleibe. Ich gehe mit auf den Tahrir und fürchte mich nicht. Ich fürchte mich nur, wenn Gewalt unkontrolliert und unreflektiert ausbricht. Das ist das Zeichen, dass es nicht "sauber" ist, dann läuft was falsch. Gewalt ist das Indiz, wie man letzte Woche sah. Das ist nicht, was diese Menschen wollen. Sie helfen sich eher, als dass sie sich gegeneinander stellen. Und sie wollen ihre Demokratie jetzt! Jetzt. Sie werden da sein und mitmachen und nicht aufhören, zu sprechen und ihre Meinung zu sagen. Im demokratischen Prozess werden sie noch lernen müssen, kontrovers zu diskutieren, ohne sich persönlich zu zerfleischen. Aber das können nach langer Demokratie noch nicht mal alle in den europäischen Demokratien! Also her mit den Konflikten und offen auf den Tisch! Let's talk! Don't fight with stones - fight with words - and find the ways out to a better future! - So und ähnlich findet man es in Facebook, auf Twitter und in den privaten news des mittlerweile auch weltweiten ägyptischen Netzes. Machen wir daraus erst mal den Zuspruch und beklagen wir nicht, was nicht ist. Was ist, ist viel mehr, als das, was war. Wollen wir uns darüber etwa beklagen? Wir sind mittendrin. Ich freue mich über diesen Tag, an dem ich auch dank der Freunde und Bekannten, die ich zahlreich und herzlich getroffen habe, mit Blicken, Gesten, Worten und in Gesprächen und Gefühlen, erfahren konnte, dass es eine Freude ist, jetzt hier teilnehmen zu können. Sie waren ja heute schließlich bei uns zu Gast! Wenn ich diese Kinder alle sehe, ihre Eltern aus den Kulturen der Welt, alle auf dem deutschen Weihnachtsbazar zusammen! Und das jetzt. Genau das mache ich aus diesem Tag! Advent in Kairo in Zeiten der Revolution. Advenire - "kommen" (auf lateinisch). Ja, da kommt etwas. Was der Mensch nicht kennt, macht ihm Angst. Lassen wir auch die Angst zu. Sie hilft, viel zu denken. Kommt die Zeit des Denkens nach so langem "Nicht denken Dürfen". Das mache ich jetzt erst mal draus. Macht Ihr mit? 16. Dezember 2011 - Das Wählen und das Weihnachten-Feiern Es ist Freitag, der 16. Dezember. Die ersten reisen schon ab in die Weihnachtsferien. Jahresbrief und Geschenke sind fast beisammen, Advents-, Weihnachtsfeiern mit Kollegen, Freunden und Bekannten gibt es auch in Kairo. Zamalek ist festlich dekoriert. Geschäfte bieten kulinarische Genüsse und sehr gutes Obst und Gemüse an. Alles schön dekoriert und ab 16:00 Uhr im staubigen Lichterglanz leuchtend. Allenthalben stehen zum Verkauf die roten Weihnachtssterne und staubfreie, kräftig grüne Plastik-Nadelbäume, welche ihren Weg zu kaufkräftigen Christen finden möchten. Einige Familien stellen ihre Bäume, wie ich hörte, jetzt schon auf. Das ist bei uns ja nicht so. Wir warten noch. Aber Adventskalender, Kranz und Weihnachtssterne haben wir auch. Also in unserem Hause sieht es ganz "deutsch" - adventlich aus. Es tut gut, sich in eine "andere Welt" zurückziehen zu können. Draußen ist es bewegt. Wie jedermann weiß, fand die zweite Wahlrunde in dieser Woche statt. Es lief gut. Es gab die üblichen chaotischen Zustände, auch Schlampereien und Bevormundung. Aber es gab vor allem wieder große Begeisterung: zum ersten Mal gewählt! Das war unglaublich gut für jeden. Jeder hat etwas beigetragen, getan. Dabei möchte ich eine kleine Geschichte zum Besten geben: Unsere "Bassima-Mama" (68 Jahre alt) war auch wählen. In einem recht entfernten, recht ländlichen Stadtteil. Und natürlich stand man im Pulk an, und viele Leute warteten. Es wurde auch viel geredet und debattiert, während man wartete. Sie muss dann - so berichtet sie - andere verschleierte Frauen gefragt haben, ob sie denn jetzt - so wie sie aussähen - Salafisten wählten. "Nein, nein, gar nicht", war die Antwort. Die Salafisten wollten nur, dass alle Frauen zu Hause blieben und nicht arbeiteten. Die Männer seien es, die die Salafisten wählten, aber doch nicht die Frauen!! Und in diesem Punkte sei in der ganzen Warteschlange eine breite weibliche Zustimmung gewesen. Die Männer hätten sich an der Debatte nicht beteiligt. Es sei ihnen unangenehm gewesen. Eine Frau habe gar von ihrem neben ihr stehenden Manne verlangt, dass er, wenn er schon gegen die Frauen wähle, es ihnen auch ins Gesicht sagen solle. Wollte er nicht. Jedenfalls sei so etwas wie "Frauenpower" da gewesen. Und die Männer seien definitiv "überführt" worden. Wenn das mal weitere Kreise zöge, wäre es auch gut!! Im Internet kursiert diese Karikatur aus Google maps: Leider ist diese Woche - das war im Grunde persönlich viel gravierender als die Wahlen - unsere Bassima - im Zuge der allgemeinen Not an Geld und neuerlich verwahrlosenden, arbeitslosen Jugendlichen - an einem Tag gleich zweimal ausgeraubt worden: einmal wurde ihr während der Fahrt mit dem Minibus das Portemonnaie aus der Tasche geklaut. Mit dem wenigen Geld, das sie überhaupt hatte. Dann etwas später, rissen ihr auch noch Motorradräuber die Tasche weg! Sie konnte ihr Unglück kaum fassen. Ich hab' ihr dann erst mal neues Geld und den nächsten Tag frei gegeben. Es war vor allem die Enttäuschung, dass die eigenen Leute ihr das antun. Und das ja nicht von Reich zu Arm, sondern in gleicher oder ähnlicher Situation. Ich kann's gut verstehen, dass einen das fassungslos macht. Auf der anderen Seite erzählte mir meine Freundin Reine, die mit ihrem Fahrer einem Motorrad folgte - offensichtlich gestohlen -, dass die Räuber das Nummernschild überklebt hätten mit einer Pappe, auf der stand: "Nummer besetzt". Wie wahr! Es ist natürlich nicht witzig. Auf der anderen Seite hört man - endlich!!! -, dass eine in Teilen neu formierte Polizei - der neue Premierminister hat wohl jetzt gleich anfangen lassen - bereits auf dem Ramses-Platz Räubernester hat ausheben lassen: Leute mit gestohlenen Gefährten und Diebesgut. Hoffen wir das Beste! Heute war unser letzter Freitagstreff im Café. Morgen sehe ich Lisa noch mal. Sie reist auch. Sonntag ist in der Evangelischen Kirche in Boulak Weihnachtskonzert. Am Abend Essen mit Freundinnen. In der Woche vor Weihnachten laufen die Semesterabschlussprüfungen im Goethe-Institut an. An Heiligabend muss ich - im deutschen Kulturinstitut in Kairo - Urlaub nehmen und mir eine Vertretung suchen, um nicht unterrichten zu müssen, denn die Kurse laufen. Das ist mir auch noch nie passiert! Ich finde es auch "unpassend", wenn ich das mal im Sinne des Kulturtransfers betrachte. Geht es nur um einzuholenden Unterricht, um Stunden und Pensum? Wo bleibt das Aufzeigen und Bewahren des kulturell Eigenen? Mein Vorschlag wäre eine Stunde des Ausklanges am Morgen des 24. Dezember im Garten und Haus gewesen, wo man sich - mit einem Glas Tee oder Punsch - auch den katholisch koptischen Christen - einen frohen Weihnachtsabend und schöne zwei Feiertage wünscht. Es muss auch mal Zeit für Ruhe und Pause sein! Aus gutem Grunde freilich. Aber ist Weihnachten nicht ein guter Grund? Jeder Ägypter bei uns freut sich, wenn er auch mal in "unsere Welt" mitgenommen wird - auch in Weihnachtsfeiertage, die er uns respektvoll gönnt, wie wir den Muslims ihren Ramadan oder Bairam. Meine Kursteilnehmer sagten mir, sie gingen dann auch nach Hause und erzählten, jetzt sei Weihnachten bei uns Deutschen und im Goethe-Institut! Dann erklärten sie ihren Familien, wie ich - wie wir - das feiern, und dass sie da jetzt so ein bisschen "mit von der Partie" gewesen seien. Gutes Gefühl! Wir hatten Anfang der jetzt zu Ende gehenden Woche übrigens im Institut zwei sehr gelungene Weihnachtsfeiern mit den Schülern in unserer Halle: mit Lichterglanz, Weihnachtsliedern und Vorführungen der Klassen, Gewürztee und Keksen. Schade! Jetzt gibt es zwar den Sonntag und Montag frei, aber Heiligabend ist "business as usual". Nicht schön, finde ich. Empfindlich ist man in diesen Zeiten - bin ich - dann, wenn ich denke, es stimmt die Bewertung nicht. Oder wenn ich das Gefühl habe, es gehe nur ums Materielle, nicht um die Sache. Kultur, Tradition und ihr Austausch sind heikle Felder, die sicherlich auch eine solide wirtschaftliche und logistische Basis brauchen. Die haben wir gewiss. Aber sie lebt - die Kultur - durch uns, und durch das, was wir daraus machen: Wie stellen wir uns dar? Wie steht jeder von uns da, und was gibt er von sich? Worauf hört er? Hört er zu? Gibt er, nimmt er? Nimmt er die anderen so, wie sie sind und bringt sie doch dazu, sich manchmal zu dem Fremden, Neuen zuzuwenden und es zu beobachten? Schluss für jetzt: ich nehme Urlaub an Heiligabend, und die anderen beobachten das. Eigentlich hätte ich einige gerne eingeladen, mit uns in die Kirche zu kommen und mit uns zum Ende des Gottesdienstes "Oh Du Fröhliche" zu singen. Nach alle dem und vor dem Kommenden. Ich werde auf jeden Fall dieses Mal meinen eigenen Klingelbeutel für meine Bassima öffnen, damit sie sich und ihrer Familie auch etwas Schönes leisten kann, trotz der gestohlenen Tasche, eines verrückten arbeitslosen Sohnes, zweier kleiner Enkelkinder, die Kosten verursachen, einer ewig reparaturbedürftigen Wohnung und trotz solcher verrückten Leute (Männer - Salafisten), die vor allem in ihren Vierteln ihre Füße in die Türen zu bekommen suchen. Brauchen die Ägypter dieses Besserwissen jetzt zur neuerlichen Unterweisung? Die Antwort versteht sich von selber. Aber es braucht Zeit, das allen verständlich zu machen. Wie wäre es mit ein paar Ruhetagen zum Überlegen? Und falls ich nicht mehr vor Heiligabend schreibe: Einen schönen vierten Advent und ein frohes, lebendiges Weihnachtsfest! 25. Januar 2012 - der erste Jahrestag - Knapp 300 Meter von unserer Wohnung entfernt ziehen gerade, von der Kairo Universität kommend, Tausende von bunten, weiß-rot-schwarzen Menschen mit Fahnen und Sprechchören, singend und klatschend vorbei. In der Luft liegt der rhythmische Gesang der Sprechchöre, die sagen: "die Macht dem Volk" und "Kopf hoch, du bist Ägypter!" Es ist eine wirklich festliche Stimmung. Im Café Simonds in Zamalek sitzen einige der üblichen Diskutanten, der Rest ist auf dem Tahrir. Der Fernseher läuft, alle sind beschwingt und froh. Der Autoverkehr ist mäßig, die Geschäfte sind geschlossen, Fußgänger bewegen sich in Richtung Tahrir, überall sieht man Taxis mit Fahnen, und auch an Geschäften und Häusern wehen Fahnen. Institutionen und Büros sind überwiegend geschlossen. Es ist ein Feiertag in Ägypten. Schon tagelang hat man für heute geplant und vorgedacht. Erinnert wird an die Opfer der Revolution, gekämpft wird für die Übergabe der Macht an das Volk, für den kompletten Abtritt des Militärs von der politischen Bühne - und das ist das Allerschwierigste überhaupt - und gefeiert wird, dass man bei allen Problemen weiter zusammen dort ist: auf dem Tahrir. Ich finde, es ist ein guter Grund, sich zu freuen, auch wieder stolz zu sein und sich weiter zu Wort zu melden. Es ist noch viel zu tun und sie wollen es weiter bewegen - ihr Land. Der Tahrir ist voll, und es strömt weiter. Tag und Marsch der Millionen. Das ist heute. Die ganze Stimmung und Situation ist im Moment so warm, wie das Wetter nach dem gestrigen Regen. Die Sonne strahlt und wärmt. Und das Militär hält sich ganz im Hintergrund. Dem Feldmarschall schlägt offene Verachtung und Misstrauen entgegen, hat man ihn doch inzwischen nahtlos in die Profiteure des Mubarak-Regimes eingeordnet. Leider hat es das Militär durch besonnene Aktionen während dieses Jahres nicht geschafft, das Volk davon zu überzeugen, dass sie auf ihrer Seite sind. Zu viel ist schiefgelaufen, und zu sehr hat die Führung für sich selber agiert, sich gegen das Volk gestellt, zuletzt sogar mit Waffen. Das auch ist am heutigen Tage die eigentliche Gefahr. Dass nämlich das Militär eingreift und neuerlich das Volk mit Waffengewalt ruhig zu stellen sucht. Im Vorfeld des heutigen Tages gab es sehr unterschiedliche Reaktionen und Vorhersagen. So gibt es Leute, die sagen, sie gehen heute überhaupt nicht auf die Straße. Welche haben auch Angst. Ich frage mich dann immer, wovor? Vor ihren eigenen Leuten? Was wollen solche? Was fürchten sie? Sind sie nicht bereit und fähig, jetzt gerade ihre Anteilnahme am eigenen Fortgang durch Präsenz zu zeigen? Was erwarten solche Leute? Andere haben sich verabredet und sind jetzt in der Masse des Tahrir, die bunt und fröhlich zu sein scheint. Wo vielleicht auch die Eltern und Geschwister der Getöteten sind und Trost finden für den großen Verlust. Trost bei den Vielen, die jetzt sich dort frei versammeln und an ihre Kinder und Angehörigen in ehrenvoller Weise erinnern. Ob sie dürfen oder nicht. Sie sind dort, und das werden sie sich auch nicht mehr verbieten lassen. Wieder andere Bekannte meinten, es sei nach den Wahlen alles so ungewiss, die Religiösen wären so massiv an die Macht gekommen. Auf diesem Weg weiterzukämpfen lohne sich nicht. Dazu ist zu sagen, dass - Ergebnis der Wahlen hin oder her - es am letzten Montag ein bewegendes Bild und Ereignis war, diese 499 Menschen im ersten freien ägyptischen Parlament zusammen zu sehen: Aus allen Bevölkerungsschichten, aller Bildungen, aller Richtungen. Das war ein Schnitt durch die Gesellschaft. Der mit Bart, der ohne, der im feinen Anzug, der mit Galabiya unterm Jackett, der mit gelbem Schal und der mit lässigem Outfit, die Frauen mit Kopftuch und andere ohne, der Abgeordnete mit strahlendem Lächeln, der mit Ernst, der mit Tränen in den Augen, die Dame mit kleinem Papier, von dem sie ihren Eid auf das Land ablegt, die andere, die die Worte frei und stolz in den Saal spricht. Das Monieren der Unterrepräsentanz von Frauen ist richtig, aber war die ägyptische medial sichtbare Politik jemals wirklich von Frauen in akzeptabler Prozentzahl durchsetzt? Nein. Frauen tun in dieser Gesellschaft einen großen Job, einen Powerakt von Business, Familie, Leben. Sie sind damit sehr ausgelastet und haben sich auch unter Mubarak nicht als Showpolitikerinnen ins Licht der Öffentlichkeit gestellt. Man sollte in die zweite Reihe, hinter die Bilder sehen, um die Wirkung und den Einfluss von Frauen hier zu erkennen und zu beurteilen! Zu schnell geht es dann wieder nur um das, was man im TV sehen kann. Das ist es nicht. Die Islamisten werden, wie alle, Realpolitik machen und in vier Jahren sich daran messen lassen müssen, was sie gemacht haben für Ägypten. Salafisten, Muslimbrüder, Liberale, Männer und Frauen haben jetzt Arbeit. Religion mag ihre Stütze sein, aber die Entscheidungen gehen oft in den Aufbau, und die Entwicklung des Landes und konkret finanzielle, wirtschaftliche und soziale Entscheidungen werden weiterhin wachsam vom Volk auf Effizienz beäugt werden. Die nächsten Wahlen kommen bestimmt. Einstweilen freuen wir uns über die Sonne, sind bei den Freunden und Ägyptern auf dem Tahrir, auf der Straße und wünschen uns und ihnen einen ganz großen eigenen Tag, der deutlich macht. Wir sind das Volk! Es geht weiter nur mit dem Volk! 2. Februar 2012 - deprimierende Tage Deprimiert und traurig sind die Menschen in Ägypten über die Gewalt im Stadion von Port Said gestern Abend. Aber alle sind sich sicher: das tun Ägypter Ägyptern nicht an! Das waren bezahlte Schläger - somit nicht zur Gemeinschaft der Ägypter gehörig! Common sense! Und es passt: es geht allen finanziell nicht gut, man spart und kann dennoch nicht sparen. Man arbeitet, aber es reicht nicht, man geht zur Wahl, und das Parlament ist eine Show ohne Macht und Befugnisse. Brot gibt es, Kuchen zum Fest des Mulid en-Nabi auch, aber alles ist teuer. Und auch ein ganz wichtiges Lebensgut, besonders im Winter ist nicht auf dem Markt: Butagas. Zurückgehalten oder zu Wucherpreisen verkauft, sollen Leute zermürbt werden.
Ich habe mich heute Nachmittag auf den Weg gemacht nach Zamalek. Vom Ahly Sport Club zum Tahrir brachen große Gruppen in Protest auf. Fahnen und Menschen überall. Niemand kann zusehen. Sie sind wieder solidarisch und protestieren nun gegen das Innenministerium, gegen den Militärrat, den Supreme Court of Armed Forces, kurz SCAF. Einige Mitglieder des Parlamentes, das heute Nachmittag tagte, in dem die Abgeordneten zum Teil lange und zornige und auch strukturierte Analysen abgaben, haben sich angeschlossen. Die Schwierigkeit besteht nun darin, die Aggression gegen die Schläger nicht in neue Aggression münden zu lassen. Wenn sie es schaffen, auf dem Tahrir jetzt wieder mal und trotz allem Frieden zu bewahren, dann haben sie wieder ein Stück gewonnen. "Peaceful!" - "Friedlich!" wird auf dem Platz gerufen. Inzwischen haben auch die Medien Europas und unsere in Deutschland verstanden, dass das hier Teil der Taktik alter Kräfte ist, und dass nach einem Jahr Revolution mit harten Attacken gegen die Reformer und mit Toten auf Seiten der Demokraten und Freiheitskämpfer sicher nicht gerade diese (Ahlawys) Unfrieden anzuzetteln vorhatten. Auch den Fußballbegeisterten aus Port Said schiebt es letztlich keiner in die Schuhe. Es gab zuvor Fußballspiele und Niederlagen, die nicht gewalttätig ausgingen. Aber gestern. Und das ausgerechnet am Jahrestag des Aufstandes gerade auch der Ahlawys gegen das alten Regime. Heute: die Zeit ist knapp für die Militärs, und es wird politisch und stimmungsmäßig enger und enger. Für beide Seiten. Aber das Volk ist stark und ausdauernd. Das haben wir gesehen. Das ist bewiesen. Ein Zurück gibt es nicht. Was ich trotzdem nicht verstehe ist, wie plump sichtbar die Mörder vorgehen - immer wieder. Sei es auf den Straßen im Dezember (scharfe Munition und Gas - nicht aus zivilen Beständen!!), sei es bei der Nicht-Sicherung des Stadions gestern oder beim Sturm auf das Fußballfeld. Man sehe sich das nur an! Wie wollen die Machthaber da an ihr Überleben glauben können? Wer soll bei diesen Bildern glauben können, das sei eine Fußballausschreitung? Noch nicht mal unbedarfte Menschen glauben es. Sie sind geradezu sauer, dass man sie für so dumm hält. Absurd! Es ist alles eine katastrophale Schädigung des Images dieses Landes, aber es zeigt auch, wo wir noch nicht sind. Das ist Revolution. 18 Tage - das war vor einem Jahr - bis zum Anfang des Weges auf dem wir jetzt sind. Auf dem Wege wird es noch etliche Tiefschläge geben. Aber ich bin auch durch die Solidarität, die ich heute wieder spüren konnte und das gemeinsame Entsetzen, die Verachtung für die Täter, hoffnungsvoll, dass die Chancen auf Erreichen einer zivilen Ordnung weiter bestehen und sich immer wieder auf dem Tahrir und im Alltag beweisen wird. Und traurig bin ich mit meinen Freunden und den Menschen hier. So viele Opfer! So viel Leid! Und wofür? Traurig. Nachrichtenquelle für alle: AlMasri AlYoum - www.egyptindependent.com/node/634781 16. April 2012 - Ostern im Sinai 2012 - nur keine Panik! - Teil 1 Jetzt, da ich diesen Bericht einfüge, sitze ich bereits wieder in Kairo an meinem Schreibtisch. Gut erholt, erfreut und bereichert um vielerlei Eindrücke und Erkenntnisse. Ich habe auch Bilder gemacht, die unseren Aufenthalt illustrieren und möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass ich unsere und meine persönliche Einschätzung wiedergebe. Welche politischen, medialen, sicherheitstechnischen Gegebenheiten anderweitig eine Rolle spielen, mag der geneigte Leser den Medien entnehmen. Hier beschreibe ich meine Erfahrungen mit einer Reise in ein Gebiet, das medial im Schnittpunkt der Berichterstattung stand und immer wieder steht. Ich möchte mit diesem Bericht aber ausdrücklich auch dazu beitragen, Panikmache zu relativieren. Vor allem: die Beduinen sind nicht "Feinde". Der Sinai ist auch jetzt kein Gebiet von Anarchie und Kriminalität. Beduinen gehen nicht per se auf Ausländer und Tourismus los. Streitigkeiten sind hauptsächlich persönlicher Natur und haben lange wirkende Ursachen, die sich im politisch-wirtschaftlichen Bereich Ägyptens verorten lassen. Die Menschen des Sinai sind stolze, eigene und aufrecht freundliche Menschen, die man mit Respekt behandeln muss. Sie lieben ihr Land, den Sinai, und sie arbeiten hart wie wir. Sie verdienen mit dem Tourismus ihr Geld, wie auch die Ägypter, die dort Hotels gebaut haben und diese unterhalten. Nach der Rückgabe des Sinai an Ägypten durch Israel 1982 wurden die Beduinen formal zu "Ägyptern". Das ist und war ihr Ding nicht - es ist wie bei vielen Minderheiten in Staaten. Sie fühlen sich "anders", sie sind anders. Streitigkeiten um Land und Ausbeutung von Ressourcen sind in den Jahrzehnten nie wirklich beigelegt worden. Wer der Mächtigere in diesen Auseinandersetzungen war und ist, liegt auf der Hand. Trotzdem sind weithin Arrangements getroffen, gut miteinander zu arbeiten und friedlich - jeder in seinem Bereich - zu leben. Der Sinai in seiner rauen Schönheit passt zu den Menschen, die dort ansässig sind. Nicht immer zu den Ausländern und Stadtägyptern. Wir können wohl auch nur schwer verstehen, was sie bewegt, wie sie denken, weil wir kaum erahnen können, welch anderes Leben sie leben. Seit vielen Jahren fahren wir jedes Jahr zu Ostern nach Basata - an die Küste zwischen Taba und Nuweiba. Und kurz nach der Rückgabe des Sinai an Ägypten sind mein Mann Thomas und ich bereits 1983 - mit unserem Toyota LandCruiser - in die Berge der Mitte des Sinai gefahren. Scheich Selim Barakat und seine Familie in Serabît el-Chadim haben uns damals Einblicke nehmen lassen in ihr Leben. Bis heute sind wir telephonisch in Kontakt und einander verbunden. Mein Respekt gehört diesen tapferen Menschen, die ich immer als echte Freunde im Sinne von "sich kümmernd und beschützend" empfunden habe. Bis jetzt. Für die Zeit nach der Geburt unserer Kinder möchte ich diese Bewunderung auf die andere Seite ausweiten, zu den Partnern von Beduinen, die auch unsere Gastgeber in Basata sind. Das sind Sherif und Maria Ghamrawy, die Basata 1986 gebaut haben. Heute ist es ein Paradies für uns, eine Oase in diesem Leben und Land, und ein wunderbares Stückchen Erde, das wir jährlich zu besuchen uns dankbar schätzen. Basata ist die erste Eco-Lodge im Sinai. Weitere arbeiten unter Sherifs Aufsicht, und die Beduinen pflegen regen Kontakt zu Basata. Hier wird vorgelebt, wie man miteinander umgeht, lebt, arbeitet und sich entwickelt. Tägliche Kontakte und Gespräche mit den Beduinen, eine Schule, in der die eigenen Kinder mit den Beduinenkindern unterrichtet werden, sind feste Einrichtungen des Camps. Es ist ein Ort, wo die Beduinenfrauen ihre Handarbeiten verkaufen und eine gewisse Eigenständigkeit, ja auch Kontakt mit den Menschen, die aus der anderen Welt Kairos oder des Erdballes kommen, pflegen können. Und die Stadtmenschen ihrerseits geben sich Mühe, die Beduininnen sprachlich zu verstehen, wirtschaftlich durch Einkäufe zu unterstützen und im Basata-Leben an ihrem angestammten Sitzplatz im großen Hüttenhaus jeden Tag freundlich zu begrüßen. Die Revolution hat ihre Spuren hinterlassen. Die Medien haben gut gearbeitet! Weniger, viel weniger Touristen sind gekommen, besonders in diesem Frühjahr. Trotzdem, niemand musste bislang entlassen werden. Alle haben weitergearbeitet, die Zeit genutzt, Geld und Beharrlichkeit zusammengelegt und zusammen durchgehalten. Auch hier die Devise: da müssen wir jetzt durch. Wir sind auf dem Weg, und an der Krise führt nichts vorbei. Es wird und muss sich vieles ändern. Dieser Tage feierten wir Ostern - Reisezeit für gewöhnlich -, und ein Wochenende später feierten die koptischen Christen Ostern. Alle Ägypter und Hier-Lebende gemeinsam feiern heute Sham en-Nassim, den Frühlingsbeginn. Diese Wochen sind eine wichtige Zeit für den Wirtschaftsbetrieb Basata. Die Aussichten waren ungewiss. Es gab viele Absagen von Gästen. Schließlich war nun doch ausgebucht. Die Hütten und Chalets waren belegt, einige Zelter hatten festgemacht, Besucher kehrten ein, alles lief gut und mit etwas größerer Ruhe ab, als zuvor. Angenehm, beschaulich und in ruhiger Vertrautheit konnten alle ihren Alltag hinter sich lassen. Unser Osterfest fand im warmen Sonnensand statt. Die Osterhasen waren wieder schnell weich und schmeckten doch herrlich cremig, während wir am Strand Osterkaffee tranken. Der rote Vollmond beleuchtete unsere ersten Abende und gab dem saudischen Festland am Ufer gegenüber seine leuchtend schwarzen Bergeskonturen. Abends lag das Meer unter der großen Mondlaterne im Glanz, der direkt zu unseren Hütten zu führen schien. Der unendliche Sternenhimmel des Sinai überspannte uns, die Nase erhaschte mit Genuss - nach der schlechten Stadtluft - die laue, warme, sanfte, leicht salzige Meeresbrise. Erst später an den Abenden, wenn die Flut kam, drang auch das Plätschern der Wellen an den Strand und an unser geschundenes Ohr durch, im Gleichklang mit der Stille der Natur und den Stimmen der Kinder am Lagerfeuer von Basata. Wir waren angekommen - doch wieder - auch in diesem Jahr, und ich möchte im Folgenden ein wenig berichten von den Überlegungen, die ich bis zur Abfahrt angestellt habe. Welche Gedanken beschäftigten uns im Ägypten der Nachrevolution, kurz vor den Präsidentschaftswahlen im Mai, mehr noch: kurz vor unseren Osterferien, auf die wir überhaupt nicht verzichten wollten. Und wie und warum sind wir dann doch und erst recht gefahren? 16. April 2012 - Ostern im Sinai 2012 - nur keine Panik! - Teil 2 Seit Monaten beschäftigte mich - nicht vordringlich -, aber doch intensiv eine Frage: Würde es möglich sein, in diesem Frühjahr zu Ostern wieder nach Basata in den Sinai zu fahren? Hintergrund war und ist, dass die Medien in Nachrichten und Artikeln seit Monaten über Entführungen auf dem Sinai, über kriminelle Beduinen, über terroristische Tätigkeiten in den Bergen, über die Machenschaften von Beduinen berichten. Die Deutsche Botschaft - wie sollte sie dann auch anders? - hat ihre Reisewarnung so formuliert, dass sie von abgelegenen Überlandfahrten abrät. Und jetzt? Was machen wir? Die Kinder "sind dort groß geworden" - jedes Jahr haben wir dort in der Hütte Ostereier gesucht und hernach im großen Kühlschrank vor dem Schmelzen bewahrt. Wir treffen dort Freunde und bringen neue Freunde mit. Wir "lüften dort aus" - vom Kairo-Luft-Desaster und tanken frische Seeluft. Man liest, man geht spazieren, schnorchelt oder schwimmt. Man sieht die Beduinenfrauen und hilft, indem man ihre Perlentücher und –ketten kauft. Man kennt die Fahrer, die Angestellten, die Hütten- und Hausregeln, das immer frisch gebackene Brot aus der eigenen Bäckerei, mittags die Pizza, abends die Volleyballer am Strand und die große Düne, wo die Kinder sich im Sand niederlassen wie auf eigenem Land. Ein Refugium - für jeden auf seine Weise. Vertraut und geliebt sind die Fisch- und vegetarischen Abendessen gemeinsam in der großen Hütte an niedrigen Tischen, der Blick über die Strandlinie zu den Bergen, der leuchtende rotgelbe Mond, der über die Saudischen Berge das Wasser bis zur Hütte beglänzt, die Lichtstreifen, die durch die Bambus- und Strohstäbe der Hütte dringen, Reflexe von Wasser und Licht, das Schlagen der Wellen und die Gemächlichkeit der Hüttengemeinschaft - das ist Ostern für uns. Nun also Reisewarnung allenthalben. Was tun? Die Revolution fordere Opfer: die Sicherheit sei miserabel, Freunde sagten Besuche ab. Ein Organist will nicht zur Einweihung der Orgel in Kairo kommen, weil ihm das zu "gefährlich" scheine, und andere Geschichten waren dauernd zu hören. Ich kann im täglichen Leben davon nichts für uns als Familie bemerken. Nur, dass es politisch und wirtschaftlich drunter und drüber geht. Es gab eine Kinderentführung an der Deutschen Schule. Die Kinder sind wieder frei. Aber es ging um viel Geld, das der Vater bezahlt hat. Geld und großes Auto, Villa und Fahrer, ein dickes Statusplus zu Mubaraks Zeiten - jetzt ein Makel, eine Gefahr. Absurd, aber real in Zeiten der wirtschaftlichen Not. Man sehe sich in anderen Ländern ähnlichen Hintergrunds um! Im ägyptischen Wirtschafts- und Politik-Hintergrund können weiter die Kräfte vermutet werden, die kein Interesse daran haben, ihre Macht aufzugeben. Unmut, Armut und ungelöste Konflikte werden hochgetrieben und hochgespielt, um Macht zu erhalten, wenigstens nicht zu verlieren. Lieber noch: wieder zurück zur liberalen Staatsdiktatur mit mächtigen Familienfürsten und Clans, mit Militär Hand in Hand und einem Apparat, der die Gelder des Staates zwar erwirtschaftet, aber auch massiv in die eigene Taschen steckt. Ob die Ägypter da nicht doch wieder hinkommen, ist bis jetzt ungewiss. Aber darüber muss weiter das Volk debattieren und dann entscheiden. Und die Polizei ist "nicht da". Sie wurde weder bislang neu rekrutiert, noch trainiert, noch ist in irgendeiner Form Ordnungsautorität in Sicherheit vermittelnder Form in das gesellschaftliche, alltägliche Leben der Ägypter zurückgekehrt. Und das ist subjektiv und objektiv mit einem allgemeinen Gefühl der Unsicherheit verbunden. Ganz klar! Auf alle Fälle kalkulierte mein Sohn Leo, seine Freunde mitnehmen zu können, und ich musste mich entscheiden: absagen oder fahren? Ich telephonierte mit den Fahrern, die uns im Basata-Taxi alljährlich holten und brachten. Alles ruhig. Scheich Selim Barakat aus Serabît el-Chadim - tief in den Bergen des Sinai - rief an. Keine weiteren Vorkommnisse. Eine Kollegin fuhr nach Basata, kam auch wieder zurück. Kein Kidnapping! Aber irgendwelche Amerikanerinnen. Nach einem Tee und zwei Stunden mit den Beduinen - ihren "Kidnappern", waren die Mädels wieder frei - aber die Meldung ging raus und durch die Weltpresse, so wie noch weitere "Übergriffe" auch gemeldet wurden, die wir nicht wirklich als wahr oder "gemacht" identifizieren konnten. Was also tun? Die Kinder gefährden? Sicherheit in der Stadt gegen Sicherheit auf dem Sinai? Irgendwie kam es mir immer nicht richtig vor. Die Bekannten und Freunde sagen, es sei ok, und aus Presse und Quellen von Dritten liest und hört man anderes. Wem sollten wir glauben? Ich glaube, es war schließlich das Telephonieren mit den Basata-Freunden selber und das Gefühl, der Gedanke, sich nicht irre machen lassen zu wollen, wenn es nicht authentisch real wäre. Anfang März legte ich daher schließlich beherzt, und meiner und unserer Sicherheit so gewiss, wie eine lange Autofahrt mit abgelegenem Ziel nun einmal sicher sein kann, fest: wir fahren! Und jetzt passierte auf einmal in der Wahrnehmung Seltsames: von vielen Seiten hörte ich, dass auch andere zu Ostern in die Wüsten fahren wollten. War das anders, als der Sinai? Weniger sicher oder unsicher? Na, dann! Einige Väter und Mütter wollten ihre Söhne dann doch lieber nicht mit uns schicken, andere hatten überhaupt keine Bedenken, ja hielten die Panikmache für übertrieben. In Facebook planten junge Leute eine Woche nach uns ihre Treffen an der Küste zum Fest Sham en-Nassim, dem ägyptischen Frühlingsanfang. Aus Basata wurde gemeldet, dass alle Hütten ausgebucht seien. Und der Tourismus überhaupt sei zu Ostern im Aufwind. Das hörte sich doch gut an. Dann waren wir sicher nicht die Einzigen und schon gar nicht "verantwortungslos und leichtsinnig". Ein erleichterndes Gefühl wenigstens. Ich arrangierte meine Vertretung für eine Woche in meinen Kursen im Goethe-Institut - sie arbeiteten in der Sprachabteilung übrigens am Ostersonntag! - ich nicht. Zu Hause wurde die Kühlbox gepackt, wurden die Lampen und das Nötige zusammengestellt, Katzen versorgt, Ostereier besorgt. Sonnencreme musste noch gekauft werden, Schlafsäcke wurden aufgerollt, Badetücher und Strandkleidung aus den Winterschränken geholt und eingepackt. Die Basata-Fahrer wurden angerufen, sie möchten uns am Karfreitag Morgen um 6.00 Uhr zu Hause abholen. Wir freuten uns auf Basata! Na also! Endlich! Zu Hause waren nun drei Jungs, deren Gepäck, eine Kollegin aus der Deutschen Schule und ich abfahrbereit. Pünktlich um 6.00 Uhr am Karfreitagmorgen luden wir das Basata-Taxi voll und starteten, nicht ohne Spannung, was jetzt wohl anders sein würde als zuvor. Wir waren versehen mit der Bitte aus der Heimat, sofort Bescheid zu geben, wenn wir gut angekommen seien. Kairo verließen wir in der Ruhe des frühen Freitags, unseres Karfreitags. Ganz bewusst wollte ich diese Stunde des Wegfahrens genießen und erleben. Ich hatte mir die Lieder aus Taizé mitgenommen - besonders liebe ich "Bless the Lord my Soul." Noch zwei Bücher hatte ich mir auf das iPad geladen - Christa Wolf, Stadt der Engel und Joachim Gauck, Winter im Sommer, Frühling im Herbst, und ich freute mich - wie gesagt mit etwas Spannung -, auf das, was jetzt kommen würde. Mit Schwierigkeiten rechnete ich nicht. Nur mit Pannen, wie Auto kaputt, Reifen platt oder Geld vergessen, Handy-Kabel nicht dabei. Was anderes schien mir eigentlich nicht in Reichweite. Die Fahrt verlief wie immer. Suez war nach etwas mehr als einer Stunde erreicht. Am Kanal war es unwegsam - der Asphalt war aufgebrochen, und die Piste war schlecht. Die Autos wurden sorgsam kontrolliert von Militärs. Früher war es die Polizei. Unsere Pässe wurden immer wieder verlangt. In Ordnung - Weiterfahren! Die Fahrer sprachen immer auch ihrerseits mit den Posten. Man kannte sich. Zigaretten wurden ausgetauscht oder einfach nur Bemerkungen über das Wohlergehen und gute Wünsche. Unser Fahrer suchte verschiedentlich zu erfragen, ob es irgendwo billiges 80er-Benzin gebe. Gab es nicht. Statt dessen musste er 92er-Benzin kaufen. Das erste kostet 1 LE - umgerechnet 15 Cent -, das letztere 2,75 LE pro Liter. Beides ist horrend subventioniert und jetzt heiß umkämpft. Warum? Weil irgendwie die Zulieferung des für den Transportverkehr wichtigen billigen Sprits verhindert oder umgelenkt wird. Niemand weiß wirklich, was los ist, wer was veranlasst hat, wo das Billigbenzin abgeblieben ist. Die Spannung liegt in der Jagd nach der Trophäe! Jeder ist auf der Suche. Aber wir fanden auch nichts. In der Mitte des Sinai liegt die Stadt Nahl. Dort ist und war auch dieses Mal Kaffeepause. Ein Ort völlig aus der Welt herausgenommen. Kreuzungspunkt aller Beduinen und Motorradjugendlichen zwischen Suez, Nuweiba und El-Arish. Eine Moschee, eine Tankstelle, Kaffeehäuser und ein Wirt, der mich mit Handschlag begrüßte. Wir sehen ihn zweimal im Jahr. Bei Hin- und bei Rückreise. Der Ort "Out of the World" und doch eine markante Station! Am Nebentisch sitzen Beduinen, die sich angeregt unterhalten und uns überhaupt nicht beachten. An der Ecke gegenüber parken junge Beduinen ihre Motorräder und bisweilen startet einer durch, macht eine Vollbremsung auf der Straße und fängt das sich drehende Motorrad am Seitensandstreifen ab. Würden die uns verfolgen wollen? Sind das Typen, die Touristen kidnappen? Die Straßen durch den Sinai sind schlecht, dann wieder gut. Wenig Kamele oder Beduinen sehe ich in der Wüste. Die Jungs schlafen, wir schauen, der Fahrer isst Kürbiskerne. Ali, der Chef der Fahrer aus Basata, ruft mich an, ob alles "ok" sei. Wir sind zufrieden. Man kümmert sich. Wir fahren weiter. Kontrolle am Flughafen von Nahl. Nähe zu Israel. Fahrt die Berge hinunter nach Taba. Keine besonderen Fahrzeuge, keine Vorkommnisse. Ich mag diese Fahrt durch die Berge sehr. Die Farben der Felsen, die Straße, die wie eine Bahn das Auto in die Berge hineingleiten lässt und schließlich unten die Öffnung, der erste Blick aufs Meer, auf die Saudischen Berge. Wir sind fast da. Kontrolle in Taba. Gespräch zwischen Fahrer und Soldaten. Alles ruhig, alles ok. Basata ist bekannt. Alles klar, weiterfahren. Die Camps am Wegrand - ziemlich verlassen und verfallen. Die großen Hotels - Taba Hights, Radisson - ich sehe keine Leute. Aber es kann sein, dass sie alle dort im inneren Bereich sind. Das Schild Basata am Eingang, Ankommen. Die Fahrer kommen und begrüßen uns. Man kommt an und ist gleich da. Maria hat Hütte 1 und 2 am Strand für uns. Wir warten aber noch und trinken erst mal einen Tee im Haupthaus. Alle Fünf melden wir uns fürs Abendessen an und begrüßen die Angestellten. Alles wie immer. Schön, hier zu sein. Ich bin hier "Umm Viktoria" - die "Mutter von Viktoria". Mit diesem Namen werde ich hier von Samir, Megahed, Ahmed angesprochen. Meine Vicky ist leider dieses Jahr nicht dabei, sondern bereitet sich aufs Abitur vor. Man schließt sie trotzdem ein. Auch das ist Sinai-Leben. Eine gute orientalische Tradition. Es ist der Respekt vor der Mutter, dem Vater auch - der ist "Abu Viktoria". Und immer ist der Namen des Kindes präsent. Das Kind lebt fort. Die Eltern haben sich in ihm einen Namen gemacht. Ist das so? Niemand geht verloren, auch die Jungs sind sofort "da". Die Gemeinschaft ist sofort wieder, wie sie vormals war und das "Anpacken" auch. Ausräumen, einrichten, zur Ruhe kommen, durchatmen. Als ich am Nachmittag feststelle, dass genau zwischen Hütte 1 und Hütte 2, wo die Jungs wohnen, ein schweres Holzboot liegt, das mir die Sicht auf den Rest der Bucht versperrt, sage ich Sherif Bescheid. Keine halbe Stunde später ist er mit etwa zehn Männern da. Sie ziehen das Boot weiter hoch auf den Strand zwischen die Hütten. Nicht lange gewartet. Gleich angepackt und Problem gelöst, und das mit einem großen Spaß allenthalben. So ist es perfekt und der Urlaub kann beginnen. Vielsten Dank - auch für diese Aktion! 24. April 2012 - Ostern im Sinai 2012 - nur keine Panik! - Teil 3 Die Tage in Basata brachten auf jeden Fall wieder jede Menge netter Kontakte, manche alten lebten wieder auf. Die drei mitgereisten Jungs verbündeten sich mit noch zwei weiteren. Sie bewohnten zu dritt eine Hütte, besorgten sich abends Bambus als Brennmaterial, legten ihre Matten und Schlafsäcke an den Strand und machten allabendlich Lagerfeuer mit anschließendem Schlafen am Strand. Dabei organisierten sie sich vorzüglich, waren körperlich und seelisch in Bewegung und Ruhe gleichermaßen und unter sich. Sie waren frei zu planen, zu agieren und zu leben. Und vor allem waren sie eine Woche lang in guter Luft, Sonne und Seeklima, was sie hoffentlich stärkt für die kommende Zeit. Als meine Begleiter waren sie präsent, wenn gefragt, kooperativ, höflich zu anderen, sozial in der Gemeinschaft, verantwortlich für ihren Ess- und Trinkkonsum, man notiert selber, was man isst und aus dem Lebensmittelangebot nimmt, schreibt es auf eine Liste auf, die später abgerechnet wird. Ich hatte für das KairoFamilienNetz immer einiges auch am PC zu erledigen, wobei sich eine nette Episode ergab: Neben meiner Hütte fing eines Nachmittags ein junger Mensch lauthals an zu telephonieren. Ich verstand, dass es um ein Gespräch mit der Firma Vodafone ging. Ein großes Geschrei entwickelte sich da unter freiem Himmel am Strand des Inhalts, dass es keine Verbindung gäbe, weder Internet noch Telephon liefen gut. Der arme Mitarbeiter von Vodafone wurde ordentlich niedergemacht. Ein Telephon wäre eigentlich nicht vonnöten gewesen, so laut ging es zu. Nun, einiges später wurde ich aufgeklärt: Die rote Firma betreibt ihre Sendemasten in der Wüste mit Dieselgeneratoren. Die orange Firma hat von Anfang an Solarzellen zur Energielieferung an die Sendemasten angebaut. Im Moment herrscht Spritknappheit, und wer hat da die Nase vorn? Die Orangen! Das freute mich doch irgendwie. Wenn auch dem armen Menschen damit natürlich nicht geholfen war. Einige müssen sein Los geteilt haben. Eine andere Erkenntnis für alle Basata-Reisenden wurde mir zufällig zuteil. Ich hatte aus praktischen Gründen mein iPad mit einigen Büchern beladen mitgenommen. Dies stellte sich als eine ganz geniale Einrichtung für die Hütte heraus. Abends am Strand oder gar noch im Bett in der Hütte konnte man ohne irgendeine andere Lampe einschalten zu müssen, immer bequem auf dem iPad lesen. Ein wahres Vergnügen, angenehm für die Augen und Nachtlektüre - auch vor der Hütte auf dem Teppich im Sand saß bei einem ruhigen Glas Tee oder Wein. Die Rückfahrt stand an, und auch sie lief im Grunde reibungslos. Einzig an der Sperre nach Taba wurde uns vom Militär die Durchfahrt verweigert mit dem Hinweis, es habe einen schweren Unfall gegeben. Ein vollbesetzter Bus war wohl auf der abschüssigen Strecke durch die Berge ungebremst gegen einen Felsen gerast. Wir wurden angehalten, über Sharm esh-Sheikh zu fahren. Das hätte uns mindestens zwei Fahrtstunden mehr gekostet. Unserem Fahrer aber gelang es mit freundlichen Gesprächen und ein oder zwei Telephonaten, die Durchfahrt von Nuweiba aus durch die Berge nach Nahl zu arrangieren. Eine schöne Fahrt. Ich hatte den Eindruck, das Militär war nervös und wollte auf keinen Fall geradestehen für Bilder oder Berichte von Unfällen in einer Gegend, wo es im Grunde keinerlei Infrastruktur oder Hilfe in medizinisch ernster Lage gibt. Schlimm genug! (Das wäre schon alleine einen Artikel wert!) Aber wir kamen an in Kairo und waren gut erholt und konnten allen erzählen, dass wir einen wunderbaren, entspannten Urlaub hatten. Allen Unkenrufen zum Trotz. In Kairo wurde am darauffolgenden Wochenende die aufwendig restaurierte Orgel in der Evangelischen Kirche in Boulaq zum hundertsten Kirchengeburtstag wieder eingeweiht. Ich erwähne dieses Ereignis, auch um die Vielseitigkeit unseres Lebens zu beschreiben. Ein bewegendes und außergewöhnliches Kirchen-, Gemeinde-, Gesellschaftsereignis mit viel Freude und Musik, sonnendurchfluteter Kirche, festlich gestimmten Menschen aus der ganzen Welt, ernsthaft und fröhlich zugleich. Keine 500 Meter Luftlinie liegt der Tahrir, an dem auch dann wieder demonstriert wurde. Während des ganzen letzten Jahres hat der Enkel des Orgelbauers, Herr Walcker-Mayer, dort in der Kirche an der Orgel gearbeitet, im Keller, wo die neuen Orgelpfeifen lagerten, stand das Wasser, und vor der Türe liefen die mehr oder weniger aufgebrachten Demonstranten, Verfolgten, Verfolger vorbei. Auch hier begegnete uns im Angesichte unserer Kultur und Gemeinschaft die Realität der ägyptischen Geschichte, wie sie sich derzeit präsentiert. Und es ist uns nichts passiert. Wir sind noch da, und wir bleiben auch, soweit sich das absehen lässt. Wenn wir die Türen des Kirchenportals öffnen könnten und die schöne und große Orgelmusik in gute Wünsche für die Menschen und das Land hinaustragen könnten, dann würde ich sehr stark glauben können, dass alles ein gutes Ende nimmt. Aber wie das mit der Musik ist, so ist es auch mit der Politik: das Gute bleibt oft lange in dem Raum seines Entstehens festgehalten. Es dringt nicht so leicht nach außen. Und die, die draußen sind, hören nicht, was drinnen Schönes klingt. Nur das behutsame Öffnen der Türen lockt die Menge, den Klang zu erkennen und schließlich die Schönheit, die im Falle dieses Landes Demokratie und Aufschwung heißen könnte. Aber noch ist gerade erst der Schlüssel ins Schloss der Türe gesteckt und die erste Drehung vollzogen. Das Aufstoßen der Türe steht noch aus. Erwarten wir, was passiert, mit Aufmerksamkeit. 19. Juni 2012 - "Pest oder Cholera?" Was soll man wählen, die Pest oder die Cholera? - An einem stirbt man, gegen das andere gibt es eine Medizin. Die Ägypter sind geduldige Menschen. Sie fühlen sich mittlerweile aber total verschaukelt, anders gesagt, sie haben gemerkt, sie haben erkannt, wie sehr das Militär in alles verstrickt ist, und dass sie immer nur vom Militär regiert worden sind. Mubarak wurde geopfert, um Macht zu erhalten. Das Parlament wurde gewählt, um vorzuführen, wie unsinnig nutzlos die Muslimbrüder politisch sind. Notzeiten werden und wurden kreiert (Gas, Benzin), um zu zeigen, wie nutzlos "Revolution" ist und jetzt wird offen das gegenseitige Zerfleischen der Kandidaten zelebriert. Ich möchte hier aber nicht über Politik schreiben, sondern über das Leben der Menschen und auch über unseres. Wir haben trotz aller Widrigkeiten in der Deutschen Kirche in Boulak die Walcker-Orgel zum hundertsten Geburtstag der Kirche eingeweiht. Wir haben hernach Konzerte gehört, besucht, sind ins Kino gegangen, haben Schule gehalten und Kurse im Goethe-Institut. Wir sind ganz normal unseren Alltagen nachgegangen, haben uns geärgert über die subversive Einrichtung eines schreienden Moscheelautsprechers im Haus gegenüber. Keiner beschwert sich, keiner geht hin und sagt, sie sollen es leiser stellen. Die Vermieter stehen auf dem Standpunkt, da könne man nichts machen. Wir haben die Konfirmation unseres Sohnes gefeiert. Gäste aus Deutschland kamen, und wir haben in lauem Sommerlüftchen auf der Terrasse des Hotels Longchamps in Zamalek mit Freunden gefeiert. Wir erleben Flohmarkt in der Schule zum Schuljahresende, ein Sicherheitsseminar, wo man sich Gedanken machte, wie man sich gegen Straßen-, Auto-, Handtaschen-, Hausraub schützen kann. Ich habe Schulen besucht, die sich mit neuen Büchern ausstatten wollen und ihre Lehrer fortbilde, ich habe Fahrten über Land gemacht, an Kanälen entlang, unter neu gebauten Hochstraßen-Brücken durch, in Gebiete, die vor zwei Jahren noch völlig unbebaut waren: Überall Hausaufbauten. Skelette, Beton und Ziegel, unbeschreiblich hässlich, unbeschreiblich wahllos in die Landschaft hineingesetzt. Für unbeschreiblich viele Menschen, die da noch nicht wohnen. Ich bin aber sicher, sie werden da wohnen in 2,3,4,5 Jahren. Grauenhafte städtische Ausdehnungen. Ansammlungen von Massen einfacher und willenlos verfügbar in der Masse zusammengeballter Menschen, die wie auch immer und wovon auch immer leben. Arbeit ist knapp. Die wirtschaftliche Lage ist schlecht. Auch die Besucherzahlen des KairoFamilienNetzes sind nicht wie in den Vorjahren. Trotzdem - wir sind noch immer die Plattform, auf der man sich informiert und trifft, wenn Informationen gebraucht, gekauft und verkauft werden soll oder Events angekündigt werden. Die Freunde in Simonds sind weiter da. Nicht glücklich, nicht unglücklich. Wir debattieren. Die Lösung hat keiner. Viele wollten ungültig wählen gehen, weil sie den Affront dokumentieren wollten. Ich habe allerdings noch keine Zahlen für die "ungültigen" Stimmen gehört. Derzeit wartet man auf das offizielle Endergebnis der Wahlen, indem man den Ausgang kennt und dennoch nichts damit anfangen kann. Alle Marionetten bekriegen sich verbal, und man wartet, wann der siegreiche Kandidat mit weiteren Kraftsprüchen loslegt, die gleich darauf belächelt werden, weil der Militärrat ihn hindert, überhaupt irgendetwas zu tun. Auf die kürzliche Frage, ob uns das beunruhigt, kann ich mit "Nein" - im Moment - antworten. Auch das ist ein Teil des Weges. Es läuft auf die Frage hinaus: welchen Staat wollen die Ägypter für sich? Und das geht in alle Richtungen. Die Erfahrung, einen eigenen Staat zu haben und in eigener Verantwortung ordnen zu müssen, ist neu. Die Lösung, die man im Moment gewählt zu haben scheint, ist meiner Meinung nach die, die den einfachen Leuten mit einfachen, um nicht zu sagen primitiv vereinfachenden und unwahren Versprechungen die Welt erklärt und vermittelt, es wäre alles kein Problem, sondern nur eine Frage der Person oder Partei, und vielmehr ginge es um den richtigen Glauben. Umkehrschluss: wer den nicht habe, der sei ein Gegner der Religion und des Landes. Und da beginnt es, gefährlich zu werden. Aber wie gesagt, da sind wir nicht. Aber die Sprüche gibt es. Wir beobachten alle, wie wer redet und wie es sich weiterentwickelt. Aber man muss sie auch lassen. Man darf nicht zu viel auf die Propaganda der Medien geben. Journalismus steht dieser Tage hoch im Kurs und jede Meldung ist eine Sensation wert - und umgekehrt. Man macht zu viel aus wenig, und man kann den Mund nicht halten, wenn es besser wäre, mal nichts zu sagen. Mein langjähriger Freund, Ayman Badr, Begleiter und Partner von Volkhard Windfuhr (Der Spiegel), war letzten Monat zur ersten Wahlrunde im Fayyûm, einer ehemaligen Oase, südwestlich von Kairo. Mittlerweile ist das Fayyûm eine "Großstadt" (35 Millionen Einwohner geschätzt), ausgebaut, besiedelt und bewässert durch und durch, aber sozial und kulturell wegen schlechter Lebensbedingungen genauso abbauend wie viele ländliche Gebiete Ägyptens. Ayman hat mir Bilder überlassen, von denen ich einige hier zeigen möchte. Es sind Bilder von denjenigen Menschen, die zu 70 Prozent die Wähler sind, über deren Stimmen u.a. die Welt jetzt den Kopf schüttelt. Möge jeder von Ihnen sich seinen Teil denken und daran denken, dass hier Politik und Aufschwung, Bildung und einfache Entwicklungs- und Sozialmaßnahmen anfangen müssten. Das ist Ägypten mindestens, wenn nicht noch mehr als Kairo und Alexandria. Die stehen auf einem ganz anderen Teil der Land- und Sozialkarte. Und wo ist da das neue Ägypten? Sie wissen, dass sie wählen müssen und tun es. Sie können aber nicht schreiben. Sie wählen die Symbole, die man ihnen aufschreibt. Sie nehmen Geld, weil sie welches brauchen. Sie wählen, was der Ehemann oder Scheich sagt, und sie gehen hernach heim zu Esel, Ziege und ihrem Gaskocher. Tag um Tag vergeht, Hitze, Fliegen, Dreck und Essensbeschaffung. Wer von uns kann sich das wirklich vorstellen? Und wer macht Politik für diese Menschen? Ich kenne keinen. Zu hoffen ist, dass wenigstens durch Bildung - junge Menschen gehen zum Studium in die Städte - peu à peu Denken und Veränderung in diese Häuser und Straßen hineinkommt. Aber wie langsam das gehen wird, wird glaube ich jedem klar, der hier hineinsieht. Danke, Ayman!
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