Die Revolution in Ägypten
Die ersten schlimmen Tage der Ägyptischen Revolution waren gerade vorbei, wir waren mitten drin, da fragte neben allen anderen Radio- und TV-Stationen die Redaktion der Zeitschrift Brigitte bei mir an, ob ich einen Blog schreiben könnte zu den aktuellen Ereignissen in Kairo. Da meine Arbeitsstelle, das Goethe-Institut, seine Pforten geschlossen hatte, wir als Familie auch nicht unmittelbar die Absicht hatten auszureisen, hatte ich Zeit und sagte zu. Im Laufe der Ereignisse, im Fortgang der Jahre 2011 und 2012 sind durch den Blog alte Kontakte neu belebt worden, Menschen haben sich bei uns gemeldet, haben mitgeschrieben, haben die Informationen kommentiert und geschätzt. Um nicht den Reportagen der Zeitungen und Medien gleichzukommen und besonders das Leben in Ägypten während, bei und nach der Revolution weiter aus der privaten Perspektive zu beleuchten, habe ich - wenn es mir interessant schien, wenn wieder etwas "am Kochen" war - weitergeschrieben, später dann mehr auf Einzeltage und -ereignisse bezogen. Im Februar 2012 hat die Zeitschrift Brigitte den Blog von ihren Seiten genommen. Manche haben das bedauert, und ich möchte, damit die Dokumentation nicht umsonst war und in den Tiefen des Internetzes verschwindet, die Dokumentation, soweit fertig nun überarbeitet - meinem Mann Thomas sei Dank!!! - in das KairoFamilienNetz-Archiv stellen. Allen Begleitern, Lesern und Interessenten danken wir für ihre Unterstützung, die Ermutigungen, Kommentare und wünschen viel Spaß beim Lesen und Interesse an diesem Rückblick. Kontakt auch weiterhin:
1. Der Inhalt - chronologisch gegliedert: Sonntag, 23. Januar 2011
2. Der Inhalt - wie er fortlaufend für den Blog geschrieben wurde:
Es geht uns gut, und es ist ruhig um uns herum. Trotzdem ist die Stimmung bedrückend, und ich würde die ganzen Berichte in den Medien am liebsten gar nicht hören. Aber es kommen gleichlautende Anrufe und Fragen auch über unsere Webseite, das KairoFamilienNetz, und ich beantworte alles persönlich, auch weil ich mich über jeden freue. Ich finde derzeit besonders beängstigend, dass Journalisten nicht mehr sicher sind, dass Ausländer verfolgt werden, dass mein Arbeitgeber, das Goethe-Institut, sich überhaupt nicht meldet, dass hingegen andere Institutionen ganz klar morgen ihre Leute ausfliegen. Ich solidarisiere mich auf der anderen Seite mit allen, die hier sind, weil sie – wie wir – hier leben, verheiratet sind, eine Aufgabe und Arbeit haben. Ihr könnt auch nicht einfach ausreisen! Ihr tut es nicht. Eine Evakuierung durch die Botschaft ist nicht angesagt worden. Mir jedenfalls nicht. Ich bin sonst, wie alle anderen geneigt, hier zu Hause abzuwarten, was morgen passiert, und dann gegebenenfalls alle Pläne zu ändern. Ein Arztfreund ist recht optimistisch, eine andere Deutsche pessimistisch. Und wie macht man alles richtig? Unsere Bindung ist groß, und ich bin traurig über die Wendung gegen Ausländer, die diejenigen trifft, die hier leben, so wie in allen Gesellschaften Fremde als Teil der Gesellschaften leben. Es war so toll, was hier an Stimmung und Enthusiasmus bis Dienstag war! Ich denke, dass das trotzdem den Ägyptern niemand mehr nehmen kann. Ein großer Schritt! Wir hören, morgen ist ab 10:00 Uhr früh bereits Ausgangssperre. Morgen früh ist WDR2 am Telephon, und ich muss früh raus. Dann geh' ich jetzt ein paar Stunden schlafen und hoffe, dass es gut geht, und wir vielleicht morgen Abend oder übermorgen sagen können, die Lage beruhigt sich, und wir können uns hier im normalen Rahmen bewegen. Ich kann mir etwas anderes gar nicht vorstellen! Gute Nacht an alle und einen guten Freitag aus Kairo! Freitag der Entscheidung? – 4. Februar 2011 Es ist trübe draußen. Sehr, sehr ruhig. Innerlich sind wir unruhig. Man achtet auf jeden Mucks auf der Straße, aber da ist nichts. Jörg Armbruster hat vorhin im Morgenmagazin im Fernsehen sehr richtig gesagt, es gebe keinen Bürgerkrieg. Eine Schlacht um den Tahrir ist es.
Dort finden sich jetzt schon wieder ruhig Menschen ein. Panzer scheinen den Platz abzuschirmen. Es gab gestern Schriftstellerinnen auf dem Platz. So auch Nawal es-Saardawy, die große Frauenrechtlerin. Sie ist weit über 80 Jahre alt und war mit ihren Söhnen dort. Dieses Foto rührt mich sehr. Es gibt sie weiter, diese vielen positiven Menschen. Und dagegen gibt es die Schläger, die schwarzen Gestalten, die Menschen jagen. Wir werden zu Hause bleiben und warten weitere Informationen ab. Ob sich heute etwas entscheidet? Ich muss mit Margot Kässmann feststellen, der Druck der Medien ist enorm. Auch ihre Macht und daher die Angst vor ihnen. 4. Februar 2011 – friedliche Demonstration der Hoffnung Die Menschen sind schon vor dem Gebet auf den Tahrir-Platz gekommen. Militärische und zivile Kontrollen durchsuchen jeden. So wie am Dienstag, und das funktioniert. Ein gutes Zeichen zum jetzigen Zeitpunkt. Unheimlich und unbekannt bleibt, wo die Schläger sich möglicherweise versammelt haben. Ob und wann sie eventuell noch zuschlagen. Viele Prominente, Schauspieler, Sportler und Intellektuelle sollen auch auf dem Platz sein. Ich könnte schon wieder selber losziehen. Aber das lasse ich heute dann doch lieber mal sein. Ich habe noch eine Stunde Schlaf nachgeholt. Die Nacht war sehr kurz. Am Sonntag soll um 9:30 Uhr ein Gottesdienst in der Deutschen Evangelischen Schule (DEO) sein. Ich höre von anderen Freunden, die auch hier auf Zamalek sind. Die Botschaft meldete sich bei mir. Ich hatte mich nicht richtig registriert. Es gibt da für alle Auslandsdeutschen einen Link mit Namen Elefand, der uns auf eine Krisen- und Anrufsliste der Deutschen Botschaft katapultiert. Für Kairo gibt es auch eine Telephonnummer der Deutschen Botschaft, die 24 Stunden besetzt ist: 02-2728200. Die Sonne kommt raus, und es ist frühlingshaft warm in Kairo. Es kommen so viele Mails über das KairoFamilienNetz und jetzt auch schon Kommentare hier im Blog! Die Welt schaut auf uns, und das Volk hätte es verdient, heute endlich den Diktator loszuwerden. Versucht man hinter den Kulissen, ihm einen Abgang zu ermöglichen? Es ist absurd, dass die Regierung hier ihr Volk vorführt als den Missetäter seines jetzt schon enormen wirtschaftlichen Schadens! "Mob" nennt die Diktatur diese Menschen, die nichts anderes sehnsüchtig suchen, als endlich ein Leben mit einer selbstgewählten Perspektive durch die Politik. Ob uns das dann alles so gut gefällt, steht auf einem anderen Blatt. Aber das ist eben jetzt ihr Weg, und da gehen sie sicher nicht mehr zurück. Wir warten ab mit der ganzen Welt. Ach ja, ein ungemein beeindruckendes Musikstück möchte ich hier noch allen empfehlen. Es lohnt sich auch als Dokument der so besonderen Demonstrationen hier: The most Amazing video on the internet. Glückwunsch und Danke an Tamer Shaaban! 5. Februar 2011 – es ist noch lange nicht geschafft! Dieser Abend, diese Nacht gehört dem Volk! Sie sind froh auf dem Platz, in der Stadt, im Land. Die meisten jedenfalls. Sie haben den Frieden auf dem Tahrir erzwungen und gelebt. Es war ausnehmend eindrucksvoll, noch besser als am Dienstag, wie heute noch mehr Menschen auf dem Platz zusammengerufen, -gestanden, -gelaufen, -geholfen haben. Bravo! Ich werde morgen erst ins Café gehen, dann auf den Tahrir. Es ist uns für den Moment ein tonnenschwerer Stein von der Seele gefallen. Die Umstände habt Ihr alle im TV gesehen. Das muss ich nicht wiederholen. Die Journalisten waren auch wieder da, und ich werde sehen, wen ich morgen treffe. Ich freu' mich schon! Man kann also hier jeweils nur 20 Liter Benzin tanken. Die Tankstellen waren gestern immer noch befüllt und man wartete geduldig. Morgen kann man auch wieder einkaufen, und ich sehe mal, was es so gibt. Wir machen was aus dem, was da ist: Gemüse, Obst und Brot gab es noch gestern gut. Aber teuer! Noch werden wir eine Weile alles teilen müssen und ein bisschen verzichten und ein bisschen suchen und ein bisschen teilen. Wir, die wir mehr haben, müssen auch an die denken, die jetzt noch weniger haben. Mein Motto: Im Frieden einer Revolution kann auch das gelingen. Aber Frieden muss es sein. Und Vorsicht: wir sind immer noch im Umbruch. Es ist noch nicht geschafft! Ich fühle mich sehr motiviert, mit den jungen Leuten, die ich in meinen Deutsch-Kursen unterrichte, das Alte im neuen Gewande zu üben: Argumentieren, formulieren, diskutieren und Sprache auf ein Ziel ausrichten, dabei Provozieren und Deeskalieren. – Hört sich theoretisch an, ist aber ganz praktisch. Das haben sie hier mit ihrem Verhalten und mit ihren Texten und Reden gemacht. Jetzt machen wir das mal im Hinblick auf das, was noch alles kommen wird. Ich möchte noch etwas sagen zu den Menschen, die hier gestorben sind: Ihr Tod ist ein komplettes Drama. Das jedes einzelnen! Ohne die Schläger und die Gewalt könnten viele dieser Toten noch leben. Sehen wir das mal ganz klar. Ich habe heute den weinenden Scheich gehört, der das Freitagsgebet gehalten hat – so wie meine Kollegin Elham einen weinenden Vater geschildert hat. Trauer, das ist, was ich dabei empfinde. Diese jungen Leute, sie gehören zu Euch, und sie haben mit ihrem Leben bezahlt für die Teilnahme an dieser Revolution. Der Preis könnte nicht höher sein! Ehrt sie und ehrt die Väter und Mütter und Familien, indem Ihr Ägypter etwas Gutes macht aus Euren – wie ich finde – ungeheuren, mir oft verborgen gebliebenen Fähigkeiten zur Gemeinsamkeit und sogar zur Ordnung! Wer hätte das vor zwei Wochen gedacht? Schafft etwas Gutes, etwas Neues für Euch! Und zwar nicht jeder für sich alleine (altes System), sondern gemeinsam (neues System)! Dann lohnt ihr es ihnen und ehrt sie für ihren Einsatz! Das gefällt mir besser, als sie zu "Märtyrern" zu erheben. Sie geben Euch eine Verpflichtung auf, eine Aufgabe! Geht es an! Morgen ist der Tag, an dem der Diktator nicht mehr Gesprächspartner ist, wie es aussieht. Das System verändert sich ganz langsam, aber deutlich von innen und von außen. Ich werde erleben, wie es im Alltag in Kairo jetzt aussieht. Und ich danke allen für die Teilnahme an unseren Geschehnissen hier und die vielen Signale der Solidarität und Zuneigung. Danke!! 5. Februar 2011 – kein Abgang aber ein Abgesang Es ist Samstag, der 5. Februar. Heute Abend hätte ich eigentlich vier Stunden Oberstufenunterricht. Was die Mädels und Jungs wohl alle machen? Ich war morgens in Zamalek. Es ist geschäftig und ruhig. Die Hälfte der Läden ist auf, die andere Hälfte noch zu. Eine Bank hat offen. Maison Thomas, ein Café und Lebensmittelladen, bekommt angeblich morgen seine Waren zurück. Das Personal ist jedenfalls wieder da. Es gibt auch Waren, die ausgeliefert werden, ich sehe frisch gebackenes Brot, Obst und Gemüse ist reichlich vorhanden. In unserem Café Simonds ist viel los. Ich lese erst mal in Ruhe Zeitung. Die Egyptian Gazette, eine gemäßigte Zeitung auf Englisch, druckt Leserbriefe mit dem Tenor: "Zurück zur Arbeit, zurück zu Stabilität", Mubarak solle erst mal bleiben, weil er für Stabilität steht. Ich weiß nicht so recht.
Nach und nach kommen die Bekannten. Allen geht es gut. Alle sind erleichtert. Gestern haben einige deutsche Beamte in Kairo wohl noch Ausreiseanweisung bekommen. Das ist jetzt nun wirklich nicht mehr nötig! Da hätte man besonnen mal bis Sonntag warten können, und dann wäre immer noch Zeit gewesen. Denn das Schlimmste war der Donnerstag. Aber so läuft die Bürokratie und nicht der praktische Verstand. Wir sind uns einig, es sieht gut aus und ungefährlich. Auf jeden Fall sehen wir nirgends seltsam herumstreichende dunkle Männer mehr auf den Straßen. Erfreulich! Aber viele Diskussionen wenden sich jetzt der Zukunft zu. Politisch und praktisch. Wann wird die Schule wieder beginnen? Was könnten wir tun in der Zwischenzeit? Kann die Schule nicht in virtuellen Klassen arbeiten und den Kindern in ihren Fächern Aufgaben zusenden? Fände ich gut. Die viel thematisierten "Muslimbrüder" möchte ich aus dem Alltag des Kairolebens noch mal ansprechen: Das sind hier in Ägypten – soweit ich das beurteilen kann – Leute, die sich im konservativen politischen Bereich bewegen. Ein Kommentator gestern meinte, in Deutschland würde man sie politisch in eine Ecke der CSU einordnen. Sie sind gut organisiert, sagt man, und sie nehmen sich mancher sozialer Fragen an, mit denen die hiesige Bevölkerung ja tatsächlich ganz anders allein gelassen ist, als wir in Deutschland. Sie sind Muslims und keine Islamisten. Sie reihen sich bei uns in das Spektrum ganz verschiedener Gruppen ein. Die wichtigste Gruppe ist derzeit die der jungen, gut ausgebildeten, aber arbeitslosen Akademiker, die eindeutig zur "Generation Facebook" gehören. Es gibt daneben noch ältere Konservative, es gibt ein paar Öko-Bewegte, es gibt eine riesige Masse unpolitischer Mittelschichtler und ganz armer Leute, und dann gibt es auch die Reichen, die vielleicht der NDP (der staatstragenden Mubarak-Partei) angehören oder anders organisiert sind. Kurz: es gibt viele Gruppen momentan. Jedenfalls schließen sich diese Muslimbrüder sehr brav der Bewegung Facebook an, und alle wollen dasselbe: den Wechsel. Wenn es normal weitergeht, werden die Muslimbrüder mit eigenen Vertretern in einer neuen Regierung im Übergang sitzen und sich dann zur Wahl stellen, wie alle anderen auch. Man denkt, sie könnten bei einer Wahl so zwischen 15 und 20 Prozent der Stimmen bekommen. In dem Moment aber, wo sie politisch vertreten sind, müssen sie auch politisch agieren, und dann wählt der Wähler, ob und wie ihm das gefällt. Das passiert dann bei den nächsten, und übernächsten Wahlen. Wie sich das dann entwickelt, ist eine andere Frage. Ob uns das dann alles gefällt, ist auch eine andere Frage. Aber geht es jetzt darum? Das Regime Mubarak hat sie kriminalisiert, was falsch war, denn dadurch radikalisiert man sie auch. Es ist gut, dass sie jetzt da sind, dass sie sich wie andere auch beteiligen. Sie sind Teil der Gesellschaft und daher nicht ausschließbar. Und sie werden beweisen müssen, was sie hier Gutes und Nützliches tun können. Genau wie alle anderen auch. Wenn ich interpretiere, was gerade gestern Karl-Theodor zu Guttenberg auf der Münchner Sicherheitskonferenz gesagt hat, dann können wir nicht gegen Muslimbrüder (oder andere) agieren, weil wir vermeintlicherweise denken, dass sie in unsere politische Kultur nicht passen, sondern entgegen dem, was Diktatur macht, müssen wir darüber dem wählenden Volk die Entscheidung überlassen und danach uns entscheiden, wie wir weiter kommunizieren. Also bitte erst mal auch weg von dieser Panik vor den "Muslimbrüdern"! Eigentlich wollte ich ja nicht politisch kommentieren, aber es ist auch Inside Egypt aus der Distanz der Ausländerin in der Mitte der Gesellschaft. Sorry an alle, denen das jetzt zu viel war! Viele Fragen bewegen die Menschen auf der Straße, an den Bildschirmen und in den Familien, aber man ist geneigt, gar nicht so viel auf einmal anzugehen. Alles Schritt für Schritt. Zurück in den Alltag, arbeiten, Geld verdienen. Nach der Arbeit kann man ja noch demonstrieren gehen. Vor allem möchte man wachsam bleiben und das Ziel nicht aus den Augen lassen. Der Wechsel ist in Sicht, aber noch nicht erreicht.
Sonntag, 6. Februar 2011 – der 13. Tag der Proteste – es ist wieder Stau... Ich stehe früh auf und höre gleich gemäßigtes Hupen und Geschrei von der Straße. Die Autowäscher debattieren mit den Müllleuten. Gegenüber stehen Angestellte vor dem Friseur. Mein Fahrer kommt und bringt mich in die DEO (die Deutsche Evangelische Oberschule). Wir feiern in der Kapelle Gottesdienst. Viele sind wir nicht, vielleicht 25, aber fröhlich. Das Singen, Zuhören, Einkehren tut gut. Ebenso die Gemeinschaft und die Gespräche, die beim anschließenden Frühstück im Garten noch bewegter werden. Irgendwie sind wir alle auch zufrieden mit uns, dass wir (es) "ausgehalten" haben und jetzt in unseren Häusern hier sind. Hier können wir ab morgen unsere Arbeiten wieder aufnehmen. Aber heute ist noch Sonntag! Auf dem Tahrir sammeln sich derweil weiter Menschen. Vereinzelt sieht man Grüppchen auf die Nilbrücken zulaufen. Viele lachen und haben Fahnen dabei. Die Fahnen werden an den Straßen in den laufenden Verkehr hinein verkauft – sie gehören eigentlich zu den nationalen Fußballspielen. Aber man ist flexibel. Das Nationalgefühl ist jetzt größer denn je.
Auch die Autofahrer scheinen einander freundlicher gesonnen. Man lässt anderen die Vorfahrt, man grüßt sich, man lässt andere in Ruhe einparken, ohne zu hupen. Nur die Polizei steht etwas abseits, scheint ihre alten Freunde neu suchen zu müssen in der Masse. Und es ist wieder Stau! "Malesch"! ruft einer. "Fattal, fattal"! – meint: Entschuldigung, dass ich mich hier so reinquetsche (mit dem Auto). Dann fahr' du zuerst! Man ist entspannt und großzügig. Die Straßen sind relativ sauber, die Müllabfuhr mit Eselskarren und Müllautos arbeitet. Ich sage meinem Fahrer, dass ich dächte, die Ägypter könnten jetzt das Land, für das sie so kämpfen auch besser sauber halten. Er stimmt zu und meint, die Müllabfuhr würde mit einer neuen Regierung auch besser funktionieren. Ich sage ihm, dass ich nicht so sehr an die Müllabfuhr dächte, sondern an die Leute selber. Er schluckt, nickt und steckt sein olles Taschentuch zurück in die Tasche. An den Tankstellen stehen noch Schlangen. Sameh, mein Fahrer, kann aber voll tanken. Er erklärt mir, dass man auf keinen Fall wolle, dass die Leute Benzin in Kanistern kauften und irgendwohin trügen und irgendeinen Schwarzverkauf anzettelten oder gar Feuerchen legten. Das wolle man mit der Vollversorgung mit Benzin gewährleisten. Hört sich gut an. Vor den Banken stehen lange Schlangen, viele Leute. Die Türen sind zu, und sie lassen immer nur eine begrenzte Anzahl Menschen eintreten. Die anderen müssen warten. Tun sie. Vor einigen Banken stehen Geldtransporter, die vom Militär bewacht werden. Das Geld kommt also. Waren werden allenthalben an Läden ausgeliefert und abgeladen, die Brotleute backen, Costa Coffee an der Ecke hat wieder auf. Auf dem Tahrir haben morgens zuerst die Christen einen Gottesdienst gefeiert, später die Muslims gebetet. So was habe ich überhaupt noch nie erlebt hier! Bei den jeweiligen Gebeten schützten neben den Militärs auch die jeweils anderen die gerade Betenden. Toll! Nach dem Attentat auf die Kirche in Alexandria sei das schon so gut geworden, sagt mir eine Freundin. Sie erzählt auch, wie ihre Tochter, eine Ärztin, in den gewalttätigen Zeiten durch die "schwarzen Männer" aller Medikamente, die sie zu der Krankenversorgung am Tahrir bringen wollte und ihres privaten Geldes beraubt worden ist. Immerhin ist sie selber aus der Aktion unverletzt rausgekommen. Jeder hat was zu erzählen, und auch am Straßenrand stehen überall Leute, die erzählen. Die Demonstranten am Tahrir sind unbeirrt, unbewegbar und absolut sicher, dass sie bleiben, bis sie sicher sein können, dass sie nicht wieder betrogen werden können. Zuviel Misstrauen gegen das Regime ist aufgestaut. Das kann man nicht vergessen, und man muss ihnen Recht geben. Einer der Demonstranten sagt: "Ich bin hungrig und arbeitslos. Jetzt kann ich wenigstens etwas tun, und Zeit habe ich ja." Sie stehen hier für alle anderen, die jetzt wieder mit der Arbeit beginnen, und sie bekommen von größeren und kleinsten Gönnern, die in den Küchen der Fastfood-Restaurants rund um den Tahrir kochen lassen, durch deren Hinterausgänge Essen, Tee und Wasser gebracht. Ihre Zelte stehen als blaue leuchtende Landmarken auf dem völlig zertrampelten Platz. Das wird immer der Ort ihrer großen Taten dieser Tage bleiben. Sie warten. Der ungewollte Präsident muss ihr Land verlassen, damit sie ruhig nach Hause gehen können. Dann werden sie für ihr Essen wieder selber sorgen müssen. Für sich selber, für ihre Landsleute und die in der Welt, die sich hier mit Herz und Verstand eingeklinkt haben, für die, die hier waren, werden sie die Helden dieser Tage sein. Zu Hause ruft WDR 2 an. Ich gebe ein positives Interview in das Sonntagsprogramm. Und noch einmal geht es in den leichten Regen raus zu einem netten Besuch. Mein Fahrer erzählt auf dem Weg wie ein Wasserfall. So habe ich ihn noch nie erlebt. Ein sonst eher ruhiger Mensch. Viele Dinge haben mit "Arm und Reich" in dieser Gesellschaft zu tun. Ich frage ihn, ob es ihn stört, "nur" Fahrer bei uns zu sein, die wir doch für seine Verhältnisse viel haben. Er verneint. Es komme auf die Menschen an. Er sei froh, Arbeit zu haben. Er würde aber auch immer selber entscheiden, ob er mit Leuten arbeiten wolle oder nicht. Sie Ägypter seien sehr emotional und freundlich, aber nicht dumm! Weil sie so freundlich gewesen wären und weil sie der Repression nichts Gemeinsames entgegensetzten, seien sie unterdrückt worden. Aber sie hätten schon lange gewusst, dass es falsch war. Nur seien sie zuvor nie "gemeinsam" gewesen. Er verzieht das Gesicht und haut mit der Hand aufs Lenkrad. "Haram"! – Schande, dass es so lange gedauert hat! Der Abend bricht schon herein, und ich sehe auf dem Liveticker, dass auf und um den Tahrir viele Dinge geschehen. Offenbar ist wieder ein Journalist festgenommen worden. Ayman Noor, der beliebte und bekannte Oppositionelle, der vier Jahre vom Regime ins Gefängnis gesteckt worden war, um ihn zum Schweigen zu bringen – vergeblich –, war auf dem Platz. Ein junges Paar hat sich da Ja-Wort gegeben, der Rat der Weisen tagt wieder – tolle Leute allesamt! –, und jede Menge Gespräche laufen zwischen der Opposition und den verschiedenen Gruppen der Opposition. Die formiert sich jetzt auch im Iran. Der Abend verdichtet die Bilder von den Menschen und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Lichter des Platzes und auf die Worte der Nachrichtenanstalten und der Computer. In ganz Ägypten wie vielerorts auf der Welt reißen dabei die Gespräche nicht ab. Schon das ist ein großer Fortschritt. Vieles ist politisch, und das ist im Moment ja auch das Private, Alltägliche. Gut finde ich das und ungewohnt. Es ist sicher die beste Voraussetzung, um dann bald wählen zu gehen! Aber bis dahin ist noch viel zu tun. 7. Februar 2011 – zwischen den Zeiten Es ist Montag, der 7. Februar. Ich bin spät dran, aber ich habe morgens getrödelt und das Diskutieren über Zeitungen und Leute mit den Freunden im Café ausgedehnt, und dann war alles etwas gedrängt. Wir verlieren den Alltag, wenn wir nicht arbeiten. Der Blick auf die Uhr, das Essen-Kochen-Sollen für die Kinder, die hungrig aus der Schule kommen, die Vorbereitung des Unterrichts, der Unterricht selber. Es fehlt mir, und es tut auch mal gut, es gleiten zu lassen. Was anders ist: ich bin während einer freien Zeit IN Ägypten! Normalerweise nehmen wir in Urlauben ja immer das nächste Flugzeug in die Heimat. Jetzt sind wir hier. Es ist auch kein Urlaub. Es ist Revolution. Was mich im Moment an der Situation so beschäftigt und mich psychisch stört ist, dass die Normalität das Bild ist, das hervortritt. Vor dem ganzen Umbruch. Es ist alles nicht normal, und ich möchte auch nicht, dass jemand glaubt, es sei wieder normal. Die Normalität besteht im alltäglichen Geschäft und im Leben als Zivilbürger. Der Umbruch hat dabei begonnen, ist in Gang gekommen, wird verhandelt und gebremst, wird publiziert und diskutiert und ist greifbar und nicht greifbar. Sehr widersprüchlich sind die Aktionen und Bilder. Und was ist wahr? Was wird erreicht? Was ist der Status quo? Wo wird wieder zurückgenommen, was bereits verhandelt war? Was nicht passieren darf ist, dass es so aussieht, als sei es das gewesen. Man lese Spiegel online, bitte und sehe sich das heute journal über Ägypten von heute Abend noch mal an! Es geht ums Ganze und mit der ganzen Härte der sich klammernden Riege. Ich gehe morgen wieder mal auf den Tahrir. Es ist wunderbar, wenn die Menschen sich freuen, dass man mit ihnen hier ist. Aber alle freut es nicht. Das muss die Welt auch ganz klar sehen. Ich hoffe, durch die Demonstranten und die Menschen, die dorthin gehen, sieht man das auch. Am meisten treibt mich um, die Zeitung zu ergattern, die die Leute am Tahrir jetzt selber herstellen, drucken und herausgeben. Ja, es gibt viele Zeitungen und Berichte. Aber gerade sie sind auch der größte Feind der ungenierten Autoritäten. Manche Bilder aus dem Fernsehen sind einfach ungeheuerlich. Viele Gespräche mit Kollegen gab es heute. Ich bin betroffen und gerührt von ihren Geschichten und Gefühlen. Wir freuen uns alle auf die kommende Zeit und sind doch auch unsicher, was werden wird. Aber das entscheiden wir dann. Welche Bilder waren wichtig heute? Ein kleiner Junge verkauft frische Pfefferminze und fragt mich, ob ich auch eine Pistole möchte. Er lacht. War das jetzt ein Scherz?? Nein, möchte ich nicht.
Im Brillenladen, wo ich reklamiere, dass ich durch meine Sonnenbrille besser sehe als durch meine helle Brille, finden sie heraus, dass das rechte Glas der Sonnenbrille eine ganz andere Stärke hat als das rechte Glas der hellen Brille. Wie das denn? Hat jemand einfach falsch abgeschrieben, oder was? Ich soll sagen, welches rechte Glas denn jetzt richtig ist. Ich entscheide mich für die Sonnenbrille und bekomme den Kommentar: die Sonnenbrille sei hier in Ägypten eh wichtiger. Ich solle mich nicht aufregen, sie machten das alles hier schon so lange und hätten immer für alles eine gute Lösung gefunden. Auch für meine Brille. Na, das sehen wir dann! Ich habe keine Lust, jetzt noch zum Arzt zu gehen und frage auch nicht, warum das jetzt wieder so chaotisch ist, und so entscheiden wir das über den Tisch. Ich bin bedient, eigentlich, aber gleichmütig. Wird schon! Auch das ist ägyptische Problemlösung. Zu Hause versuchen wir, für Leo Pommes Frites bei McDonald's zu bestellen. Die sind noch zu. Hardy's ist offen. Das will er aber nicht. Also Artischocken und Quark. Nein, lieber Muffins vom Marriott. Das Hotel ist leer, aber einige Leute sitzen im Garten in der Sonne. Die Ruhe selbst ist das, und doch birgt auch diese Oase inzwischen Revolutionsgeschichten. Wir sind froh, dass wir hier sind und doch bekriecht einen momentan noch ein seltsames Warn-Gefühl, das sagt: Wachsam sein und sich nicht hängen lassen! Morgen keine Radio-Interviews. Heute war Eins Live dran. Dafür lese ich morgen vielleicht mal eine schmalzige Zeitschrift. Wenn ich das fertig bringe mit dem Abschalten. Ach, ja, die Preise: Sie sind gewaltig in den Zeiten der Krise. Für eine Flasche Butagas habe ich heute 30,- LE bezahlt, statt vorher 20,-. Morgen muss ich noch mal Obst und Gemüse für meine Bassima einkaufen. Sonst essen die Kinder und sie gar nichts Frisches mehr. Dann schmeckt’s mir auch nicht. Und Obst gibt es toll und viel. Aber auch teurer als vor zwei Wochen. Wie fast alles, sagt man. Ich brauche noch nicht viel. Hatte einiges und brauche jetzt erst mal auf. Ich will noch ein Wort an die Kollegen schreiben: ich freue mich sehr darauf, Euch alle wieder zu sehen! Ich hoffe, nächste Woche, und ich freue mich sehr, wenn Ihr hier mitschreibt. Wir können ein Bild von unserer vielseitigen Gemeinsamkeit an viele draußen und hier geben. Wir Deutschen haben viel über Euch gelernt in den letzen Wochen, und ich bin sehr froh, dass ich hier bin in dieser Zeit und das miterlebe. Ich muss immer an die Wende 1989 denken und sehe so viele Parallelen! Damals am 9.11.1989 gab es noch kein Internet. Gerade konnte mit viel Mühe und Geduld die Deutsche Welle in Kairo empfangen werden. Wir hörten vom Fall der Mauer hier und konnten es nicht fassen. Wir werden uns alle immer daran erinnern, wo und wie wir waren, als 2011 hier alles zusammenbrach. Ich sehe viele schwierige Tage, Wochen, Jahre. So wie in Deutschland und doch: es hat sich unendlich gelohnt und gelohnt und gelohnt. Yes, you can!! Und ich wünsche Euch, dass Ihr Euch einmal über alles freuen werdet! Das wäre doch ein schöner Lohn für alle Mühen und Stress und die vielen Opfer. Gute Nacht für heute! 9. Februar 2011 – Midan et-Tahrir – Freiheit findet ihren Platz Es ist unglaublich! Hunderttausende, wenn nicht mehr, sind seit dem Nachmittag wieder auf dem Platz! Die Herrschenden machen nur ganz winzige Zugeständnisse, sie verfolgen die Journalisten, sie tun so, als ob sie noch etwas zu sagen hätten. Sie sind noch da, aber man "umgeht" sie. Man straft sie mit Nichtbeachtung, abfälligen Kommentaren, journalistischer Häme und einem "Count Down", der in Nachrichtenstunden zu messen ist. Die Menschen hier arbeiten morgens und auch nachmittags, aber ein beachtlicher Teil geht wieder auf den Tahrir und ist friedlich zusammen und praktiziert Freiheit. Demokratie ist noch nicht, aber Friedfertigkeit. Ich sehe viel Friedfähigkeit und den Willen, das alles ruhig und gewaltlos zu halten. Ich finde es ganz toll!
Heute hab' ich es dann doch nicht geschafft, auf den Platz zu gehen. Es war unheimlich viel Andrang. Die Brücken waren nachmittags voll von Menschen. Ich denke als Ausländerin auch oft, ich will sie nicht stören. Ich will nicht so tun, als sei das jetzt so ein Showcase, wo man sich zeigt. Es ist ihr Platz und es wird für die Zukunft eine große Touristenattraktion werden, da bin ich sicher. Erster Besichtigungsort in Ägypten – der Tahrir-Platz! Die Touris werden in Zukunft Karten von der Revolution nach Hause schicken! Die Kamele müssen warten. Das ist dann die moderne Form der Ansichtskarte aus Ägypten! Klasse und mal echt was Neues! Die Revolutionen der Neuzeit sind in Deutschland gelaufen und in Ägypten jetzt. Und hier macht sie ein ganzes Volk mit völlig chaotischer Struktur, aber mit großem Herzen und unheimlicher Ausdauer. Morgen ist "der Tag in Rot". Alle, egal wo sie sind, möchten bitte rote Kleider tragen aus Solidarität mit der Protestbewegung! Die Morgendiskussion war wie immer abwechslungsreich und personell bewegt. Wir haben uns etwas im Kreise gedreht, aber die Zeitungen, die ich alle aufhebe, sind voll auch mit bunten Bildern und schon ganz vielen informativen Artikeln auch gegen die Machenschaften der Regierung. Interessant. Die Angst, es könnte alles zu lange dauern, die Ungeduld, wann endlich, kehrt sich ins Positive, als ich die vielen Fahnenverkäufer auf den Straßen sehe und den großen Andrang vor den Tahrir. Im Goethe-Institut, wo ich mich mittags für zwei Stunden aufhalte, werden neue Tele-Leitungen gelegt und der Hausmeister nutzt mit den Arbeitern die Ruhe und den Freiraum. Mir fehlen die Leute. Es ist leer und einsam. Where is the spirit? On the streets of Cairo! Dann vermisse ich sie gerne. Ich werde jeden fragen, wo er war und werde wieder wundersame neue Geschichten hören, die ich ihnen allen nie zugetraut hätte, wie die halbe Welt. Meine Orangen, die Bananen, die Tomaten, die Paprika, alles ist wunderbar frisch und groß. Sogar die Früchte scheinen dieser Tage zu feiern. Das Brot soll angeblich wieder größer sein. Fürs gleiche Geld versteht sich. Die Milch und der Käse aber ist erst kürzlich wieder teurer geworden, Öl und Linsen, Zucker und Reis liegen weiter auf hohem Niveau und man beschränkt sich. Man teilt auch mit anderen. Die Familien wirtschaften zusammen und Bassima oder Mohammed kochen dann mehr Tomatensauce zum Reis oder noch ein Fladenbrot extra. Dann wird man auch satt. Die Kinder bekommen Obst, Milch und Chips und Schokolade. Satt sind sie dann, aber gut ernährt? Das halbe Volk lebt hier so ungesund. Und die Umwelt ist ungesund, der Verkehr auch, die Verkehrsmittel gehen so. Metro ist ok., die Sammeltaxis und Busse gehen manchmal, manchmal überhaupt nicht. Taxis fährt man nicht regelmäßig, sie sind ja auch teurer als die öffentlichen Verkehrsmittel. Die Taxis aber sind besser geworden. Es gibt mehr weiße, neue Taxis, die auch sauber sind und akkurat abrechnen. Die Schulen und Universitäten sind auch ungesund. Sie bewältigen kaum die Massen von Schülern und Studenten. Die Lehrer sind schlecht bezahlt und geben daher mehr Nachhilfestunden als rechten Schulunterricht. Jeder, der weiterkommen will, muss bei seinem Lehrer auch Extra-Stunden buchen. In den Universitäten gibt es kaum ordentliche Lehrbücher, oder gar eine Bibliothek! Dafür gibt es viel zu viele Studenten und Professoren, die nach uralt Methoden Uralt-Stoff lehren und in ausufernden Prüfungen abfragen. Was man da schreibt, lernt man vorher auswendig. Wer gut auswendig lernt, der schafft's. Mit der eigenen intellektuellen Produktion ist es bislang immer schwierig gewesen. Das fand ich auch immer ungesund. Jetzt aber habe ich große Hoffnung: Mehr politische Aktivität wird zu mehr Diskussion führen, wird zu mehr Reflexion führen, zu mehr Bildung. Aus mehr Bildung kommt auch mehr Anspruch. Daraus resultiert Erneuerung. Also erneuert sich das System von selbst und von innen, wenn alles gut geht. Hört sich jedenfalls gut an. Schau'n mer mal! Dann erneuert sich auch die ganze kommende Generation und die nächste wird post-facebook etwas ganz anderes erfinden und Eigenes hervorbringen, das sich ihren Bedürfnissen anpasst. Das aber ist die wirklich große Chance! Und die ist zum Greifen nahe und doch so schwer fassbar. Ich danke den Kommentatoren dieses Blogs, die sich neu eingeschaltet haben! Mit Giny hatte ich vielleicht mehr als 30 Jahre keinen Kontakt mehr. Ich freu' mich sehr, dass Du Dich gemeldet hast! Und von anderen hab' ich Mails und Beiträge erhalten, die mich sehr gefreut haben. Danke! Menschen finden sich wieder in den Zeiten der Revolution. Eine besondere Verbindung von Menschlichem, Politischem und Kreativen. Das finde ich sehr schön und eine gute Basis für die Zukunft. Bleiben wir entwicklungsfähig! Und bitte überrascht uns mit weiteren guten Aktionen und Ideen, Ihr Ägypter! Wir sind dabei. 9. Februar 2011 – der "rote Tag" Heute war der "rote Tag". Am Vorabend hatte mich die Nachricht erreicht, dass morgen, also heute, alle aus Solidarität mit den Demonstranten etwas Rotes tragen sollten. Also unsere roten Pullover, Blusen, Schals raus aus dem Schrank und über damit! Tom verließ früh das Haus mit rotem Pulli unter dem Jackett, ich: rote Bluse und Schal, rote Ohrringe. Leo ging in die Schule und traf dort erstmals wieder einige Kumpels. Das Arabische Programm lief, und einige ägyptische Prüfungen (Adadeya) wurden zum Ende geführt. Es war etwas ungeordnet, aber immerhin im Rahmen der Schule und damit nach deutschen Maßstäben "geordnet". Einstweilen war auf den Straßen allerdings nichts geordnet! Sondern kleine Wunder bahnten sich an. Am früheren Morgen traf ich einige rote Kollegen in der Sprachabteilung. Großes Wiedersehen! Auf der Straße war nicht so viel Rot, aber als ich auf der Zamalek-Brücke ausstieg, um den Rest des Weges bis zum Café zu Fuß zu gehen, zog eine Kolonne roter Pkws hupend und grüßend vorbei. Etwas weiter, auf der Straße des 26. Juli in Zamalek, stand eine junge Frau, die ägyptische Fahne eingerollt unter dem Arm mit rotem Kopftuch, rotem Pullover, roter Tasche und lief einem Taxi zum Tahrir hinterher. Klasse! Nach einer roten Diskussion kaufte ich bei Drinkies, dem inzwischen schicken Spirituosenladen, roten Wein. Im Nachbarladen, dem Noubi, einem alteingesessenen Antiquitätenhändler, kaufte ich die gestern entdeckten Rotweingläser passend zu unserer Familien-Glassammlung, zurückgehend auf die Gläser-Sammelleidenschaft meiner Mama. Der Rückweg ließ mich allerdings das Rot vergessen und gleich in die nächste ungläubige Staun-Aktion abgleiten: auf unserer langen, hässlichen, vielbefahrenen Musadak-Straße, mit Top Toys – Tabasco - Toy and Joy – Mobinil – Costa Coffee – Apotheken – Hardy's – Pizza Hut – el-Abd – Fotoladen – Radio Shak – Nike – Fastfood – Vodafone – Foul und Ta'amia, staute sich der Verkehr! Warum das? Ihr werdet nicht darauf kommen! Na, ja, das Übliche, denkt man und hupt und schneidet und quetscht. Jedoch weit gefehlt! Menschen mit Fotoapparaten am Straßenrand. Menschen mit ungläubigen Gesichtern an der Ecke gegenüber und dabei, Menschen zwischen Autos, sich zum Schauen drängelnd. Und was ist:
Gruppen von jungen Leute, zwischen 16 und 22 Jahren mit Handschuhen, Atemmasken und vor allem mit Besen, Schaufeln und Müllsäcken behangen, kehren in Ecken und Winkeln, an Straßenrändern, in der Mitte und zwischen den Autos den Müll weg. Der wird in den Beuteln gesammelt und auf den Mittelstreifen abgestellt. Das Müllauto ist 200 Meter dahinter und lädt die Sachen ein. Die ganze lange Straße ist voller junger Leute. Unglaublich! Ich hole zu Hause Fotoapparat und Familie, und wir sehen uns das an. Einer koordiniert, dann ziehen sie los. Ich frage sie, ob sie von einer Schule kämen, ein Projekt machten. Nein, sie hätten sich erst ganz kurzfristig über Facebook verabredet. Heute Morgen haben sie, oder andere den Tahrir sauber gemacht, und später seien in vielen Stadtteilen Trupps unterwegs. Die Leute am Rand helfen. Manche kommen aus den Häusern runter auf die Straße, haben selber Besen und Schaufeln in der Hand und putzen mit. Manche bringen Säcke. Manche bringen Wasserflaschen für die Kids.
10. Februar 2011 – ein Präsident packt? Eine Nation wartet auf das Ende.
Um 16 Uhr packe ich mein Täschchen mit Pass und Phone und Kleingeld und mache mich zu Fuß auf die zwei Kilometer zum Tahrir. Die Brücken gut gefüllt, ruhig, überall werden Fahnen, Popcorn, Nüsse, Brot und Tee verkauft. Auf der Nilbrücke parken noch Autos. Man läuft auf den Eingang zum Tahrir zu, und die Schlange teilt sich in Männlein und Weiblein. Pass-, Taschen-, Körperkontrollen, dann ein Durchgang durch noch einmal zehn durchleuchtend schauende Frauen. Panzer rechts und links. Bäume, Stacheldraht, Menschen. Alle Schichten, alle Größen, alle Alter, alles. Der Platz ist voll. Links die Baustelle und das Gebäude der Arabischen Liga. Rechts die mit Plastik – wegen des heutigen Regens – abgedeckten Zelte. Rechts und links "Bühnen", vor oder auf denen junge Leute singen, reden, stehen und rufen, singen oder Fahnen schwenken. Um 17:30 bricht ein großer Jubel aus. "Was ist?" – "Mubarak ist weg," sagen sie. Es gebe eine Rede bald. Die Leute lachen, und ich treffe auf fünf arbeitslose TUI-Reiseführer. Alle sprechen Deutsch und freuen sich. Ein Sprechchor skandiert: "Erhebt die Stimme, dann sterbt Ihr nicht"! Wir machen Fotos.
Hinter uns vor der Arabischen Liga findet das Abendgebet statt. Seitlich kommen mehr und mehr Leute auf den Platz. Wann ist die Rede? Niemand weiß was. Aber ein General hat ihnen einen guten Ausgang versprochen.
Es wird voller und voller. Ich verabschiede mich und gehe durch die Menschenschleusen im Dunkel zurück. Die Brücke glüht. Vor Menschen und hupenden Autos. Ich laufe auf der rechten Brückenseite zurück. Links strömen die Massen mit Fahnen auf den Platz. Die Luft ist frisch und kalt. Der Mond erhellt die Wolken. Weißes Licht fällt auf den Nil. Autos und Beleuchtung der Brücke blitzen orange. Es ist eine schöne Nacht. Und zwischen Nil und Himmel liegt eine große Erwartung. Allen ist klar, dass das nur der Anfang sein kann. Aber den brauchen sie jetzt. 11. Februar 2011 – sie haben es geschafft! Sie haben es geschafft! Es ist unglaublich. Das Land jubelt und alle feiern, und der Tahrir tobt. Und auch heute sind sie friedlich geblieben! DAS IST GANZ GROSSARTIG! Das Ende nach 30 Jahren. Das Volk hat seine Stimme erhoben und durchgesetzt, damit sie den langen Weg in ihre Zukunft endlich gehen können. Wie immer der werden wird, alle sind befreit und mehr als froh und erleichtert. Das ist jetzt kein "ENDE", sondern ein Anfang. Wir wünschen ihnen Glück, unseren tapferen Ägyptern! 12. Februar 2011 – das ägyptische Volk feiert seine längsten 18 Tage Gestern Nacht war die Erwartung so groß und greifbar. Wir waren alle mehr als enttäuscht von der Rede des Präsidenten. Ich bin danach, ohne meine Telephone noch lange zu berücksichtigen, ins Bett gegangen. Frust auf der ganzen Linie. Was soll man da noch sagen? Was hat dieser Mann gehört und verstanden? Nichts. Und was wird werden? Werden sie jetzt so zornig und frustriert sein, dass sie heute früh zum Angriff übergehen? Das Militär provozieren? – Ich konnte es mir nach den Bildern gestern nicht vorstellen, was passieren würde. Ich war mir nicht sicher, ob sie friedlich bleiben könnten. Die Radiosender, die heute angerufen haben, in denen ich Interviews gab, wollten wissen, was jetzt wird. Oh, der Morgen war schwierig. Ich fand, dass das Unkalkulierbarste die Masse der Menschen sein würde. Diese Mengen in Ruhe zu halten – und doch: die Ägypter mit ihrer Freundlichkeit, mit ihrem fröhlichen Temperament – der eine würde den anderen abhalten von Gewalttätigkeiten, wie so oft im Alltag. So wie auf der Straße beispielsweise, wenn es diese kleinen liebsamen, unliebsamen Blechkräche gibt: sie streiten sich lautstark, sie greifen sich auch an. Andere kommen dazu, trennen die Streithähne, klopfen ihnen auf die Schultern, nehmen sie in den Arm, bringen sie in ihre Autos zurück. Die Streithähne steigen noch mal aus und brummeln sich an, alle anderen stehen dabei, bereit zum Eingreifen. Jeder hat ein Schlusswort, ein verächtliches und ein ernstes. Dann kommt einer und drängt die beiden, sich zu versöhnen. Mit gesenkten Köpfen geben sie sich die Hand, wünschen sich Gottes Segen, klopfen sich auf die Arme, steigen ein, danken den Umstehenden und fahren von dannen. Keiner hat das Gesicht verloren, keiner hat gewonnen. Die Sache ist erledigt, und zu Hause wird dann der andere ordentlich niedergemacht. Gewiss findet sich in der Familie einer, der sich als "Mechaniki" um die Schäden kümmert. Man muss ja helfen. Und so kommt alles mit Hilfe aller wieder in Ordnung. Etwas weit hergeholt vielleicht, aber aus dem Leben. So haben sie sich heute geholfen. Sie sind heute früh wieder los zum Tahrir, zum Televisionsgebäude, vor den Präsidentenpalast. Fahnen, Plakate, Essen dabei. Schals um den Kopf und dicke Jacken an. Es war nicht so warm heute. Und es wurden mehr und mehr. In Zamalek zogen zur Gebetszeit alle ab – erst in die Moscheen, dann zum Tahrir. Es war leer, leer, leer auf den Straßen, als ich wieder nach Hause fuhr. Man erwartete allseits die Entscheidung des Militärs. Das war klar. Es gab keine andere Möglichkeit für die Menschen auf den Straßen. Unmöglich auch, dass sich das Militär gegen die Menschen stellen würde! Undenkbar. Der Platz war derweil schon gut gefüllt, ich war zu Hause, der Fernseher lief, die Sonne schien, die Hubschrauber kreisten wieder, und ich zog mich zurück zum Lesen. Abschalten und entspannen. Im Halbmittagsschlaf höre ich hupende Autos, und zwar viele und laut die große Straße entlang fahren. So schnell war ich schon lange nicht mehr auf. Der Fernseher meldete es: Mubarak has stepped down. – Sie hatten es geschafft! Gott sei Dank! Es war ein wunderbares großes erleichtertes Gefühl, und ich war den Tränen nah. So schön kann es sein, wenn es laut auf den Straßen wird! Auf den Balkonen riefen sich die Menschen zu: "Es ist vorbei – er ist weg"! Leute rannten überall rum und riefen sich zu, verkündeten die Botschaft in die Häuser hinein. Darauf haben wir 18 Tage gewartet. Jetzt feierten sie auf dem Platz – ein unbeschreiblicher Jubel durchzog die ganze Stadt. Sonst trägt die Luft zu den Gebetszeiten den Ruf der Muezzine über die Stadt. Jetzt riefen sich die Menschen zu: "Ägypten ist frei – wir haben es geschafft"! Es ist ihr Sieg.
Die Fernsehnachrichten der ganzen Welt schalteten Sondersendungen. Ihr alle habt es bald erfahren. Bei uns glühten wieder die Telephone und Radiosender und Freude wollten teilhaben und gratulieren. Die Erleichterung gab allem Raum. Die Feier in unserem Wohnzimmer war auch eine eigene, in der wir unserem guten Gefühl und der starken Hoffnung dankbar waren. Alle Anwesenden stießen auf die neuen Fähigkeiten und das neue Gesicht des jungen Ägypten an. Ein Gang in die Umgebung zeigte unendliche Freude, Stolz, Glück an sich und ihren gerade Nächsten. Über alle Schranken hin war spürbar: Solidarität und Erleichterung. Vor allem aber Stolz und Freude. Alle umarmten sich, beglückwünschten sich, erzählten sich Geschichten, kürzere oder längere. Kinder, alte und junge Leute – ihr habt die Bilder gesehen. Diese Nacht ist zum Feiern da. Morgen und danach wird der Tahrir aufgeräumt, und man wird mit der Arbeit beginnen in den Gremien der Verfassungsbildung, der Gesellschaftsgestaltung, der Anlage politischer Parteien, Institutionen und eines Wahlsystems. Wir sind sicher, es werden gute Leute zusammenkommen, die das Beste für Ägypten suchen. Vielleicht finden sie es nicht sofort, aber nach diesen großen Anstrengungen und Opfern wird die Revolution allen Verpflichtung sein, das Volk und das Land zufrieden zu stellen mit der Arbeit, die sie einbringen in IHRE neue Gesellschaft. Begleiten wir sie dabei mit Vertrauen, mit Rat, Wissen, und Taten und wenn nötig mit konstruktiver Kritik! Sie haben es sehr, sehr verdient! Morgen geht es zur morgendlichen "Siegesfeier" ins Café Simonds, und ich bin sehr gespannt auf die frohen Gesichter und die Geschichten vom 11. Februar 2011. 12. Februar 2011 – feiern, fegen, saubermachen Die Fotostrecke des Spiegel ist für den heutigen Tag sehr sehenswert. Schon gestern kam die Nachricht per SMS und Facebook, dass heute großes Aufräumen angesagt ist: mit Besen und Schaufel durch die Stadt und auf den Tahrir und Umgebung. Und das haben sie gemacht. Auf der Nilbrücke waren nachmittags wieder tausende Menschen zu Fuß unterwegs, sowie Autos und Pferdekutschen. Es war Leben und Bazar und siegreiche Revolution. Auch ich habe noch mal Bilder gemacht und mir überlegt, wo sieht man, dass es sich hier um Revolution und nicht um ein gewonnenes Fußballspiel handelt? Gar nicht so einfach aber da ist z.B. ein Panzerbild: Eltern fotografieren ihre Kinder auf den Panzern mit den Soldaten. Ja, sie trauen ihnen. Sie sind die eigenen Leute, und sie werden sie weiter schützen. Die Absicht der Militärs, auf die Dauer zivile Politik zu machen, halte ich für nicht existent. Dafür sprechen auch die jungen Leute eine zu deutliche Sprache, die sich Berechtigung erkämpft hat, Politik zu machen. Sie haben nämlich heute die Putztrupps in Bewegung gesetzt und es waren viele!
Diese jungen Leute im Vordergrund kommen vom Putzen und sind mitten im sonst heftigsten Verkehrsnadelöhr der Stadt unter der Ramsesbrücke mit Schaufeln, Besen und Mülltüten unterwegs. Autos und Kutschen können nur die Corniche entlang fahren, da der Tahrir noch gesperrt ist. Heute ist er noch Pilger – und Feierzentrum dieser Stadt. Morgen und in den nächsten Tagen sollen auch die Dauercamper freundlich überredet werden, das Feld zu räumen. Gar nicht so einfach, wenn man vielleicht sonst kein Zuhause hat und der Platz einem zur lieben Bleibe in Gemeinschaft von Gleichgesinnten – nicht Gleich-Armen geworden – ist. Ich denke, man wird hier sensibel aber bestimmt vorgehen. Aber morgen beginnt der Alltag, den ich auch heute schon in Zamalek erlebt habe. Überall mit glücklichen Menschen. Bei Simonds war eine bewegte Runde zusammen. Zwei Künstler, der eine, ein Musiker, griff sich immer wieder an den Kopf: "Ich hoffe, ich wache nicht auf, und es ist ein Traum", sagte er immer wieder. Der andere, ein Maler, fühlte sich ganz leer. Wusste noch gar nicht, was er anfangen würde. "Es ist so viel Freiheit auf einmal", meinte er, und erwähnte seine 30 verlorenen Jahre. Wahid, der mit einer amerikanischen Firma gearbeitet hatte, hat bis Juli keine Arbeit mehr, da die Amerikaner alles abgesagt haben. Was nun? Wir haben ihn nicht konkret gefragt, aber er war nicht verzweifelt. Das jetzt war wichtiger als Kopfzerbrechen. Es findet sich schon was, und wir, Lisa und ich, laden ihn auch zum Kaffee ein. Natürlich machen Witze die Runde – z.B. dass Ben Ali, der vertriebene Tunesier, an einem Freitag gestürzt worden ist und Mubarak ist auch an einem Freitag abgesetzt worden. Jetzt schafft Ghaddafi den Freitag ab.
Und es werden bissige Karikaturen in den Gazetten gedruckt, ebenso wird moderne Kunst in Hochglanzzeitschriften herumgezeigt. Man diskutiert öffentlich über Minister, deren Unfähigkeit, über Korruption, über die gefundenen Anweisungen des geflohenen und inzwischen festgesetzten, ehemaligen Innenministers zur Terrorisierung der Bevölkerung, über verbotene Bücher und Filme, über die Freiheit der Andersdenkenden, über die Berlinale und über Berlusconi – dabei gibt es allseits großes Gelächter –, über den Nutzen und Schaden des Tourismus, und man überlegt, was man in Zukunft an Projekten planen könnte – gerade im Bereich der Kunst. Lisa ist dafür zuständig.
Der Tag geht friedlich zu Ende. Es ist ein großes Ausatmen und Luft holen für den freien Alltag. Beide Taxifahrer, mit denen ich spreche, sind optimistisch, obwohl sie noch nie debattiert haben oder gewählt. "Aber wir lernen so schnell und so viel", meinen sie. "Das Wählen und Ordnung halten, lernen wir auch noch. Es nützt jetzt ja uns selber und unseren Kindern", schließen sie. Sie wissen noch nicht, wie schwierig das sein kann! Ich werde bald wieder auf den Bazar gehen, denn da kenne ich jetzt einen netten Verkäufer von Tüchern. Dieser wird morgen seinen Platz auf der nun tipp-topp sauberen Nilbrücke räumen müssen, ebenso wie den selbstgebauten Teestand. Für Papa Hans aus Herford habe ich bei ihm aus der Mitte der Siegesfeier der ägyptischen Revolution ein extra revolutionäres, braunes Palästinensertuch gekauft. Vom Tag Eins des neuen Ägypten, lieber Hans! 14. Februar 2011 – der sonntägliche Alltag nach der Revolution Wie sieht ein Sonntag für viele Deutsche aus? Ausschlafen, gemeinsames Frühstück, Spazierengehen, Hausarbeiten, Kaffeetrinken, gepflegt essen, Woche vorbereiten, Fernsehen (Tatort?), schlafen gehen. Etwas anders bei uns in Kairo. Da ist es so: um 6:00 Uhr aufstehen, Frühstück machen, Kind einpacken, Kind zur Schule fahren, Teetrinken und Zeitungslesen, aufstehen, Hausarbeit und Einkaufen, Unterrichtsvorbereitung, Mittagessen, kurze Pause, Hausaufgaben abchecken, ab zum Goethe-Institut, 6 Stunden Unterricht, 22:00 Uhr zu Hause, Abendessen, TV und telephonieren, an den Mails und am KairoFamilienNetz arbeiten, schlafen gehen, Wecker stellen, lesen, schlafen. Mir fehlt in Ägypten besonders das Glockenläuten des sonntags und das Spazierengehen durch wohlriechendes, unbebautes Grün. Ich versuche den Sonntag von Unterrichtsarbeit frei zu halten und nachmittags mit meiner Familie einen Sonntagskaffee zu machen, bei dem wir zur Ruhe kommen und es Sonntag sein lassen. Manchmal gehe ich in Evangelische Kirche in Boulak und singe und höre zu, lasse die Gedanken ruhen und treffe Leute aus der Gemeinde. Dann läuten die Glocken unserer fast hundert Jahre alten Kirche, die Kaiser Wilhelm in das Kairo des Jahres 1912 hat bauen lassen. Ein wenig Heimat ist sie immer optisch, akustisch, kulturell, persönlich, "unsere" Kirche. Heute hatte ich allerdings keinen Unterricht, und Leo hatte keine Schule. Es ist ja noch Ausnahmezustand. Die Ausgangssperre ist jetzt zwischen 22:00 Uhr und 9:00 Uhr. So bin ich heute um 9:30 Uhr zum Gottesdienst im kleinen Kreis in die Deutsche Evangelische Oberschule gefahren. Dort haben wir die Woche passieren lassen, und anschließend haben wir zusammen gefrühstückt und mit weiter hinzukommenden Lehrern diskutiert, erzählt und einen Tahrir-Film gesehen. Anschließend sah ich einige Kollegen im Goethe-Institut wieder. Heute beginnen die Kurse wieder. Wir haben uns alle gefreut, uns zu sehen. Nicht nur die eigenen Erfahrungen, sondern auch Probleme mit der Krisenorganisation müssen im Nachklang bearbeitet werden. Da ist noch einiges zu tun. Den Kaffee gab’s dann später zu Hause in der Sonne auf dem Balkon. Und doch war alles anders als an Sonntagen zuvor. Wieder waren die Straßen gut mit Putzkolonnen gefüllt, und neue Demos kündigten sich an. Angstvolle Skepsis bei vielen, besonders bei denen, die jetzt aus Europa zurückkommen. Ich bin mir aber ganz sicher, dass diese Menschen sich hier das Heft nicht mehr aus der Hand nehmen lassen. Sie werden an ihrem Land und sich arbeiten, und alles ist besser als das, was war! Man darf nie vergessen, dass jetzt viel neu gelernt und erprobt werden muss, dass aber die Kraft des Volkes gereicht hat, um in drei Wochen Terror und Militarismus der Diktatur in beispielloser Weise vom Tisch zu fegen. Vertrauen wir doch einfach! Und machen wir nicht alles durch Skepsis kleiner und problematischer als es vielleicht ist. Sehen wir welche Stimmen, und wie viele sprechen werden und die neue Verfassung konstituieren. Seien wir bereit und offen für die uns unbekannte Veränderung! Vielleicht werden wir auf's Neue überrascht werden. Eine Geschichte muss ich noch erzählen: es hat heute ein Teil der Polizei in einem Marsch bis vors Innenministerium demonstriert. Sie haben sich lautstark beschwert, dass sie, die Polizisten, zu den Sündenböcken der Plünderungen und nationalen Unordnung gemacht wurden und werden. Einige waren tatsächlich schnell weg, aber viele haben selber geholfen, Plünderer und Kriminelle zu stellen in diesen kritischen Nächten und Tagen. Sie demonstrierten heute für die Wahrnehmung der Wahrheit wie sie sie verstehen. Die heißt: wenig Geld, Arbeit auf der Straße in dem mörderischen Verkehr, kaum Rechte verglichen mit den Offizieren, die sie befehlen. Das bedeutete und tut es jetzt: Not, weil es finanziell hinten und vorne nicht reicht, und ihr Ansehen jetzt auch noch im Keller ist. Ihr Zorn und ihr Frust war nicht zu übersehen oder zu überhören. Da stellt sich einer von ihnen aber vor sie, redegewandt, vielleicht ein Polizeioffizier, und er erklärt ihnen, dass ihr Protest und ihre Stimme rechtens seien. Dass sie sich aber "zivilisiert" aufzuführen hätten. Und sie tun es. Dann demonstrieren sie weiter, wie sie es noch nie zuvor gedurft haben. Die Menschen sind im "Jetzt" angekommen und was jetzt passiert, ist Stück für Stück der Gang in eine zivile, sich ganz langsam demokratisierende Gesellschaft. In diesem Falle war noch nicht einmal Facebook im Spiel! Aber Angst zu sprechen hatten sie auch nicht mehr. Das gefällt mir sehr. Und wie sagte einer, den ich nicht kenne: "Wenn mit dem Umsturz in Tunesien ein Stein ins Rollen gekommen ist, dann ist mit dem Umsturz in Ägypten ein ganzer Berg in den Ozean gefallen". Damit schloss auch Claus Kleber seine ausgezeichneten Moderationen zu Ägypten im heute journal in dieser Woche. Vielen Dank gerade diesem Team und den Journalisten für seine gute Berichterstattung! 15. Februar 2011 – Tunis, Kairo, Teheran, Algier... Sprüht der revolutionäre Funke weiter durch die arabische Welt? Ein faszinierender und ein gefährlicher Gedanke. Aber heute Abend sieht es so aus, als ob es weitergeht. Wir haben Angst um die Menschen in Teheran und bewundern ihren Mut, denn das Regime ist ganz anders aufgestellt als es hier der Fall war. Vor Brutalität von Schlägertrupps, wie sie hier einen Tag lang unterwegs waren, in Teheran aber institutionalisiert sind, wäre sogar ich mit meiner Familie in den Bus zum Flughafen gestiegen. Aber das ist uns gottlob erspart geblieben. Der Alltag im Institut brachte heute etwa die Hälfte der Kursteilnehmer in die Kurse und allenthalben viel Erzählen mit sich. Manch einer sah den unehrenhaften Abgang des Präsidenten auch mit einem weinenden Auge. Das andere freute sich über "Freiheit" und neue Perspektiven. "Warum hat er sich nicht um uns gekümmert? Was ist in ihm vorgegangen, dass ihm so egal ist, was aus uns wird? Warum hat er nicht gesehen, wie arm Leute hier sind und was will er mit Milliarden?" Die Leute verstehen auch nicht, wie ein Ägypter, einer, der angeblich dieses Land so liebt, dass er in ihm sterben möchte, ihnen das antun konnte. Manche sind wohl aus diesem Grund – Enttäuschung und Scham über den Landsmann – nicht auf die Straße gegangen. Diese können sich nur schwer freuen und Freiheit ist für sie "Chaos". "Chaos ist, wenn keiner dir sagt, was du tun sollst und denken darfst, und wenn keine Polizei deine Sicherheit gewährleistet." Das habe ich heute auch gehört. Es ist gut, zuzuhören. Wie allen, allen mir immer auch Parallelen zur deutschen Wende 1989/90 ein. Die Kursteilnehmer entdecken sie selber mit geeigneten kleinen Texten und sind weit mehr als ich erstaunt. "Aber Ägypten ist doch nicht wie Deutschland!", sagte heute einer. Nein. Soll es auch nicht sein. Aber wir können ja mal sehen, was wir auch zusammen lösen können im Kleinen und im Großen. Wir Deutschen können von den Ägyptern vielleicht ja auch was lernen? Da lachen sie alle und denken an den Demo-Spruch auf dem Tahrir (auf einem Transparent in Deutsch): "Kopf hoch, du bist Ägypter"! Morgen ist der "Geburtstag des Propheten". In langen Schlangen stehen die Menschen vor den Süßigkeitengeschäften und kaufen unendliche Mengen von Zuckergebäck. Von welchem Geld, frage ich mich. Keine Ahnung. Teilen sie, wie sie jetzt geteilt haben? Ich werde übermorgen im Sprachdiplomkurs fragen, wie sie gefeiert haben. Vielleicht kommt jetzt nach dem Fest auf dem Tahrir Platz das Fest in der Familie. Dieser "Mulid en-Nabi" ist jedenfalls in vieler – aber nicht aller – Meinung zucker-süß! Und ich hoffe, dass der Zucker ein wenig die Nerven derer beruhigt, die sich jetzt so Führer- und führungslos vorkommen. 17. Februar 2011 – "Mama, was ist eine Revolution?" Das Zuckerfest ist vorbei, "Mulid en-Nabi", und sie haben alle ordentlich gefeiert. Beschwingt von der nationalen Feierstimmung und Einheit, von größerer Reinlichkeit allenthalben, von Stolz auf das "Ägypter-Sein" und auch von Sonne, die den Sandsturm gestern früh aufriss, um uns in den warmen milden Frühling hineinzugeleiten. Obst und Gemüse sind reichlich auf dem Markt, und jeder macht sich Gedanken um sich selber und um das Land. Die meisten gehen aber einfach wieder an ihre Arbeit und warten auf Kunden.
Vor mir liegen die Zeitungen der Egyptian Mail ab dem 1. Februar. Ein Dienstag war das: Ägypter stehen Schlange nach Lebensmitteln, Wut auf die Unruhestifter der Vortage, Chinesen, die ihren Landsleuten untersagen, Ägypten zu verlassen, während andere sie ausfliegen. Europa ist ratlos. Es gibt Unruhe an den Börsen, aber die Armee hilft den Bürgern, ohne sich jedoch gegen den Präsidenten zu stellen. Journalisten werden gejagt, und Menschen weinen um ihre Toten, aber alte Minister behalten ihre Posten im kurz umgebauten Kabinett. Internet und Mobiltelephone werden abgeschaltet, das passiert am 3. Februar, aber Mubarak will hier bleiben und sterben. Die Demonstranten wollen nicht sterben, aber sie nehmen ihr hohes Risiko in Kauf. Ein Demonstrant steht auf dem Tahrir mit einem Schild: "Liebe Touristen, wir beschützen Euch!" Es wird auf dem Platz christlich und muslimisch gebetet, dabei schützen die einen die anderen. Geld wird knapp, da die Automaten leer sind. Man hilft sich aus. Eine "Flaggen-Manie" setzt ein. Antiken und das Ägyptische Museum werden geplündert – warum nicht vorher ordentlich gesichert? Die Community des Tahrir gibt am 6. Februar eine eigene Zeitung der Demonstranten heraus. "Die NDP ist klinisch tot" – sagen Analysten. Die Muslimbruderschaft spricht erstmals mit der Regierung, und viele Frauen sind auf bei den Demonstrationen. Die ersten Gefangenen der Demonstrationen werden wieder auf freien Fuß gesetzt. Paare heiraten auf dem Platz. "Egypt offline" funktioniert trotzdem, aber anders. Aljazeera Cairo ist geschlossen worden, Wael Goneim (Google-Aktivist) wird freigelassen und zur Ikone des jungen Kampfes. Das Internet ist zurück "Cyber Revolution", und man richtet sich ein im Camp auf dem Tahrir. Aber man macht auch schon sauber und weiß, die Sache ist noch nicht zu Ende. Führer haben keine Untertanen mehr, und Ägypter ahnen das Gefühl der Freiheit. Kinder fragen: "Mama, was ist eine Revolution?", und Ägypten verwehrt sich dagegen, mit dem Iran in einen Topf geworfen zu werden. Reformen täuschen das Volk auch nicht mehr, denn Ägypten hat sich schon so verändert: "Ägypten wird nie mehr sein, wie es war". Die Wahl des Volkes fällt auf die Generäle, und auch die Armee wählt das Volk! Aber die internationale Politik scheint außen vor zu bleiben. Mubaraks Rücktritt wird erwartet "wie es das Volk verlangt" (10. Februar), das Ägyptische Pfund fällt, die Inflation liegt bei 10,8 Prozent, und doch sind sie auf dem Weg zur Demokratie. "Wenn nur bald gestern wäre", wünschen sich die, die sicher sind, dass Mubarak zurücktritt und dann ist gestern bitter. Der Diktator beugt sich nicht fremdem Diktat! Während noch auf dem Tahrir gezeltet und protestiert wird, übernimmt die Armee. Die USA werden sauer. Aber die Zeitungsverkäufe sind drastisch gestiegen und die Fahnenverkäufe natürlich. Endlich: Er geht. Streiks, Parlamentsauflösung, ein Land ohne Touristen wendet sich selber zu und räumt im Freudentaumel auf. Die Luft ist klar und sauber, die Welt wundert sich und bewundert die Ägypter. Es ist "Ägyptens schönste Stunde". Medien verändern sich über Nacht, Valentinstag und Zuckerfest, das Land ist "neu geboren". Die Touristen werden zurückerwartet, und der Rat feilscht um die neue Verfassung. Gleichzeitig freuen sich alle auf die Wahlen und waren doch meist noch nie selber wählen. Auch Geld gibt es wieder von den Banken, aber die Schulen bleiben noch geschlossen.
In der Deutschen Schule und den Institutionen beginnt die gemeinsame Arbeit am kommenden Sonntag, und manche meinen bis jetzt: die Realität sei fremder als die Fiktion, die man von ihr hatte. Sie machen sich jetzt das Geschenk der Entdeckung ihrer Realität und kaufen sich mit ihren Zuckerkuchen auch ihr eigenes Versprechen an die Zukunft: dies ist unser Land, jetzt kümmern wir uns drum. Ich hoffe, dass sie geduldig und fröhlich bleiben und noch besser werden, als wir es je von ihnen erwartet haben. 21. Februar 2011 – "Das Lied vom Nil" Sonntagabend in Kairo. Jeder Sonntag, jeder Montag, usw. wird im Moment nach den Tagen der Revolution gedacht und zurück-erlebt: was war vor vier, vor drei, vor zwei Wochen - oder auch erst vor einer Woche? Letzten Sonntag war schon der erste Arbeitstag nach dem Triumph. Da wurde geputzt. Heute sah ich immer noch Putztrupps. Die Stadt ist wirklich ziemlich sauber geputzt und alle bemühen sich um Erhalt. Auf dem Tahrir war am Freitag ein großes friedliches Fest. Feiern als neue Erfahrung und als Ausdruck eigenen Selbstbewussteins und der ganz persönlichen Freude. Eine Gruppe junger Leute zog am Freitagmittag, die ägyptische Fahne aus Luftballons zusammengefügt, über die Oktoberbrücke zum Platz der Befreiung. Die Fahne schwebte, die jungen Leute schwebten, alles war und ist luftig und frei. Es ist eine ganz besondere Atmosphäre: etwas nie Gekanntes ist neu, selbst errungen und muss erfahren werden.
In meinen Kursen herrschte Hallo-Stimmung, großes Erzählen. Die jungen Leute sprühen vor Eloquenz. Jeder versucht auszudrücken, was er gemacht hat (auf Deutsch!), jeder hat eine eigene Geschichte, und sie haben alle zusammen nun ihre ägyptische Geschichte. Aus meinen gesammelten Zeitungen haben sie zwei Plakate über ihre Revolution gemacht.
Da liest man von diesen vergangen Tagen und von den Wünschen an die Zukunft. Sie sehen die Härte der Zeit, sie lassen sich gleichzeitig jedoch von ihrem guten Gemeinschafts- und Friedlichkeitsgefühl leiten. Das haben sie wirklich. Wir haben es gesehen. Sie passen aufeinander auf und denken übereinander nach. Wer von uns kannte das zuvor? Wir Goethe-Mitarbeiter hatten heute eine ausnehmend erfreuliche Versammlung im Institut. Die Ereignisse wurden besprochen und in alle Richtungen hin diskutiert. Auch da war eine große Offenheit, Ehrlichkeit, Einsatz und Realismus gleichzeitig. In genau dieser Atmosphäre werden neue Zusammenarbeiten angelegt, die auf Ehrlichkeit, Zuhören und Lernen von einander beruhen. Das war ganz deutlich spürbar und deutlich neu als Stimmung bei unserer Arbeit. Ich bin berührt von der Haltung meiner Kollegen, die sich in all dem Trubel der Revolution um sich, um ihre Familien, um die Arbeit und sogar noch um uns Deutsche, die wir hier geblieben sind, gesorgt haben. Ich habe mich auch um sie gesorgt. Wir hatten teilweise guten Kontakt, der uns auch stärkte, als viele hier abzogen. Das gilt auch für die beiden deutschen Kolleginnen, die hier die Stellung gehalten haben. Sie haben das toll gemacht. Es scheint, als sähe man sie alle mit anderen Augen, und ich werde diese Sorge nie vergessen. Sie verbindet mich neu mit ihnen. Es kommt hinzu die allenthalben ausgelassene Freude – es war teilweise ziemlich laut während unserer heutigen Versammlung – dass sie uns nun mitnehmen möchten auf ihre Reise in die Zukunft. Wir hatten verabredet, uns heute in den Nationalfarben zu kleiden, und so ist dieses Bild vor der Sprachabteilung in Dokki entstanden:
Morgen ist Montag – Montag vor vier, vor drei, vor zwei Wochen, letzten Montag... und eine neue Woche beginnt. Was wird Neues passieren? Ich bin von Mittwoch bis Sonntag auf Reisen und sehe alles von etwas weiter weg – Abu Dhabi und Dubai. Eine neue Perspektive und der Blick von außen. Mit einem Text von Bert Brecht möchte ich die Leser auf eine kleine Schreibpause für eine hoffentlich gute Woche einstimmen. Einer Oberstufenklasse hat er gefallen: Das Lied von der Moldau, von Bertold Brecht 3. März 2011 – wie schwierig! Wie unmöglich? Wie wertvoll! Ich bin zurück aus der Zukunft. Abu Dhabi und Dubai. Was für ein Kontrast! Eine Welt aus Geld, Glas, Luxus. Eine Welt aus der Wüste erstanden, ins Leben gerufen und durch Business und Services belebt! Beeindruckend ist der Wille, sind die Visionen, die Mittel und die Umsetzungen. Real oder irreal? Manchmal wusste ich es nicht so genau in diesen wenigen Tagen, weg aus Ägypten. "Wie geht es Euch? Wie ist es jetzt in Ägypten?", wurde ich immer wieder gefragt. Es war schön, dass auch in den Vereinigten Arabischen Emiraten angekommen war, dass da unsere vielen wuseligen Ägypter etwas Unglaubliches erreicht hatten. Und man bewundert sie, man glaubt es kaum, man findet, dass es eine "Arabische Revolution" war und ist. Würdig und ehrenvoll und verdient und glücklich. "Warst du da, oder bist du ausgereist?" "Nein, ich war da!" Diese Frage richten sie dort wie hier an mich. Als ich dann am Montag früh in Kairo landete, war mir bewusst, dass ich zum ersten Mal in dem "freien Ägypten" meiner Generationen ankomme. Sehr anders sah es auf dem Flughafen nicht aus. Und über den Taxifahrer musste ich mich auch gleich – eigentlich – ärgern. Aber ich hab' es dann gut sein lassen. Alle leiden ihre eigene Not. Sie kämpfen um die Pfunde, die ägyptische Lira. Was soll ich mich mit ihnen streiten, ob es für uns umgerechnet 5 Euro zu viel oder nicht sind? Ankommen hieß am Montag früh: gespannt und gerne ankommen, wo unser Lebensmittelpunkt seit mehr als 20 Jahren ist. Vielleicht bin ich noch nie so neugierig in Ägypten angekommen wie jetzt. Jetzt sind sie endlich wer! Und jetzt haben sie endlich was! Ihr eigenes Land für sich. Und was werden sie daraus machen? Welche Zukunft eröffnet sich jetzt? Es war auch alles weiterhin recht aufgeräumt. Ich finde immer Ecken, die mir nicht gefallen, wo Müll und Kram rumliegt und nichts organisiert ist. Aber es waren gleich morgens auch wieder Putztrupps unterwegs. Bassima, unsere "arabische Mama", kam mit frischem Gemüse und guter Laune zu uns, weil sie ihren Enkelsohn (4 Jahre alt) endlich zu einem Zahnarzt gebracht hatte, der ihm die vom Zucker zerfressenen Backenzähne gezogen hat. Eine Instruktion, wie das Kind in Zukunft zu ernähren sei, hätten die Eltern auch erhalten. Das sei jetzt in Ordnung, meinte sie. Bassima hielt sich die Aktion besonders im Hinblick auf die neue Zeit zugute und im Hinblick auf die vielversprechende Zukunft für die Kinder. In den Zeitungen und in Gesprächen hingegen kommt jetzt Unruhe auf. Was passiert eigentlich? Was machen sie in diesem "Rat der Weisen"? Niemand weiß es so genau. Es gibt Statements, aber das Militär ist wohl weder geübt, noch gut beraten, sich selbst auch offensiv und seine Entscheidungsschritte transparent und nachvollziehbar darzustellen. So bleiben viele kleine Schritte der Annäherung an eine neue Verfassung, an Parteiengründungen, an politische und soziale Erweiterungen, so bleibt das Ringen um das Neue für viele im Unklaren. In der europäischen, medial organisierten, expressiven und aggressiv extrovertierten Gesellschaft könnte das eine riesige Kampagne zur Selbstdarstellung sein. Hier holpern sie so vor sich hin. Darüber ist man ungeduldig und unzufrieden. Zu Recht. Ungeübt. Unprofessionell! Was machen eigentlich die Frauen? Im Rat der Weisen sind wohl keine. Nawal es-Saadawj, die große alte Dame der ägyptischen Literatur, Frauenrechte und Befreiung, ist ganz radikal: alle alten Mubarak-Leute müssen sofort radikal weg! Nur noch junge, aktive, die Veränderung erzwungen habende und politisch engagierte, der Bewegung des neuen Ägypten angehörende Leute müssen in die Verhandlungen und dann an die Macht! Radikal. Es wird etwas dazwischen geben, bis zu den Wahlen. Bei den nächsten und übernächsten Wahlen werden die Jungen mehr und mehr zum Zuge kommen. Da bin ich sicher. Die Zeit jetzt ist einfach zu kurz. Dass aber die Frauen eine wichtige und aktive Rolle in dieser Gesellschaft spielen, sieht man überall: auf dem Tahrir, in den öffentlichen und privaten Berufen, in Familien sowieso, in den Medien. Und in der Politik? – Ja, das ist gerade jetzt eine komische Sache. Ich weiß auch nicht, wo sie jetzt sind, da über die Zukunft verhandelt wird. Ich fand bislang die Frauen immer gut und nach der Vorgabe ihrer Möglichkeiten in einer islamischen Gesellschaft vertreten. Die Frauenrechtlerinnen mögen da noch viele Defizite sehen, aber ich habe immer mit Frauen in entscheidenden Positionen und an Schaltstellen zu tun gehabt. Sie waren da, sie haben agiert, sie haben ihre Jobs wunderbar erledigt, und ich habe sie wenig über ihr Los als Frauen jammern hören. Uns mag das nicht in unsere Vorstellungen passen, aber Frauen in Ägypten haben eine eigene Stimme und auf dem Tahrir hatten sie sie auch – allen Defiziten, die ich selber sehr deutlich sehe, zum Trotz. Ich denke, die Frauen-Persönlichkeiten werden sich einschalten, wenn es um die Arbeit in neuen Parteien geht, wenn es um die Neugestaltung der Gesellschaft im Detail der neuen Verfassung gehen wird. In allen Gremien und überall. Man denke an die Masse der jungen Facebook-Frauen, die jetzt noch an den Universitäten sind. Oder an die, die schon in Jobs oder aber auch noch arbeitslos sind. Man denke an die, die als junge Frauen und Mütter in den Familien gerade auch diese Revolution mit vorangetrieben haben. Schweigen werden sie sicher nicht. Quotenfrauen sind diese Frauen nicht und wollen es auch nicht sein. Sie halten sich im Hintergrund, um zur rechten Zeit in den Vordergrund zu treten. Und soweit ich sie im Unterricht erlebe und auf der Straße, sind sie unglaublich selbstbewusst, freuen sich auf ihre Aufgaben und denken an ihre Zukunft und an die ihrer Kinder und Familien.
Die Schule war heute geschlossen, wie auch das Goethe-Institut. Demonstrationen vor den ehemaligen Folterkammern der Geheimpolizei in Dokki verliefen aber friedlich, haben hoffentlich auch Ventile geöffnet und Erleichterung verschafft. Das muss alles jetzt sein. Meine Beduinen-Freunde im Sinai, Scheich Selim in Serabît el-Chadim, habe ich angerufen. Es geht ihnen gut. Sie grüßen uns, und wir können jederzeit zu ihnen kommen. Das habe ich mir früher einmal immer ausgemalt: hier in Kairo ist Aufstand, und wir ziehen uns in die Wüste, in die Berge des Sinai zurück, gehen zu Selim und Aida. Dort gibt es durchsichtiges, dünnes Riesen-Fladenbrot und einfachstes Essen, Natur, Beduinen, Wasser und Datteln und die ganze große Herzlichkeit dieser so ganz anderen Menschen des Sinai. Was haben sie alles erlebt, welche Wandlungen ihrer Existenz mitmachen müssen nach den Kriegen! Und Selim und seine Familie, die Beduinen aus Serabît el-Chadim, waren immer mit uns verbunden, seit wir in den 80er Jahren zum ersten Mal dorthin fuhren. Und sie würden uns immer schützen und bei sich aufnehmen. Ohne Fragen, ohne Erklärungen, nur weil sie sich uns verbunden haben – einmal vor langer Zeit. Nicht wir lassen sie an uns heran, sondern sie schenken uns ihre Freundschaft, zeigen uns, was Gastfreundschaft ist und Respekt. Das ist ganz einfach und ganz ehrlich und ohne Worte und sehr eindringlich von Mensch zu Mensch. Blicke genügen, Worte vermitteln, aber Gemeinschaft entwickelt sich in der stillen Solidarität, aus dem Bauchgefühl heraus. Große Bewunderung habe ich dieser Tage auch für Leute, die im alten Mubarak-Regime Unterschriften verweigert haben, sich aus großen Gremien zurückgezogen haben, weil sie Unterschriften unter Verträge zugunsten der Machthaber nicht leisten wollten und leisten konnten. Solche Leute sind dann geächtet und verächtlich gemacht worden. Jetzt geht es darum, wer wann was unterschrieben hat, wer das allgemeine Abräumen von Geldern mitgemacht und ermöglicht hat. Jetzt stellt sich heraus, wer der Adler, und wer die Tauben waren. Und doch versuchen noch einige Tauben die Adler mit in den Abgrund zu ziehen. Viele Unschuldige müssen auch da Angst haben und hoffen, dass ihre Redlichkeit sich als wahrhaftig erweist im Sinne von: eindeutig gegen die Inanspruchnahme von persönlichen Vorteilen und Opportunismus. Und wie viele "Wendehälse" gibt es jetzt! Unerträgliche Falschheit! Meine Realität ist: Schule ist bis auf weiteres Tag für Tag zu planen. Ausgangssperre ist bis auf weiteres von 12:00 Uhr bis 6:00 Uhr früh. Daher beginnt die Schule auch erst um 8:15 Uhr. Sehr angenehm. Die Kurse im Goethe-Institut sind bewegt und belebt. Immer gibt es etwas zu diskutieren, neue Motivation beim Lernen und beim Besprechen von Problemen. Themen werden gewählt, und die Betonung liegt in ihrer Auswertung und der Diskussion ihrer möglichen Relevanzen für die aktuelle und zukünftige Realität der Ägypter. Einkaufen geht normal und gut, die Straßen sind wieder voll, und es gibt die üblichen Staus, aber mit größerer Geduld. Leute unterhalten sich politisch. Nachrichten sind wichtiger als TV-Unterhaltung. Wir Ausländer werden "angezapft", weil und wenn wir bereit sind, Denkanstöße zu geben und nicht zu belehren. Die Verbindung zwischen unabänderlicher Geschichte und sich ständig ändernden Realitäten als Thema in Diskussionen und der Anschauung lebendig zu halten, das ist mein größtes Vergnügen meinen jungen Leuten gegenüber. Es ist ein Geben und Nehmen in vollen Zügen. Es macht großen Spaß und hilft über manche Ungeduldigkeiten vielleicht hinweg. Contenance bewahren und sich zwischenzeitlich weiterbilden, um bereit und bedacht zu sein, wenn die Wahl, wenn die Entscheidung für oder gegen die Pluralität des freien Ägypten kommt. Wie schwierig! Wie unmöglich? Wie wertvoll zu erringen! 6. März 2011 – Mohsen, der Zeitungshändler Freitag und Samstag. Tage, an denen wir frei haben, wo wir uns in unserem Café treffen können. In Zamalek bei Simonds. Inzwischen ist es eine feste Runde von Leuten, die während der Revolution da waren, die sich auch jetzt – z.T. noch täglich – dort sehen. Um 11:00 Uhr ist Termin. Lisa kommt, Wahid kommt, auch andere, die dazugehören. Bei Mohsen auf dem Bürgersteig holen wir vorher die Zeitungen.
Ein "Willkommen", ein Gespräch. Meine Gazette drückt er mir inzwischen ohne Geld in die Hand. Dafür kaufe ich manchmal auch teurere Illustrierte oder bringe Lagen von Plätzchen oder Bonbons für seine Kinder. Mohsen kenne ich nun auch schon über 20 Jahre. Noch bevor ich meine Kinder bekam, ging ich zu Simonds. Mohsen war schon da. Ein ganz junger Mann damals. Wenn ich mein Geld zu Hause vergessen habe, gehe ich zu ihm auf die Straße, und er gibt mir, was ich brauche. Er beschafft meinem Mann den Spiegel, mir die Brigitte oder Leo Kicker oder ähnliches. Wann immer Al-Ahram oder ein Fluggast Zeitungen rausgibt, hebt er mir auf, was ich gerne lese. Mit dem Mann im Musikladen an der Ecke ist er gut bekannt, und kürzlich saß er bei der Auswahl der neuen Gitarre für Leo mit uns im Laden. Für Mohsen würde ich jederzeit viel tun, wenn er mich bäte. Heute war er irgendwie sauer. Ich weiß aber nicht warum. Ich habe ihn auch nicht gefragt. Gestern dagegen habe ich mit Lisa Fotos gemacht, und er war prima drauf. Freitag und viele Zeitungen!
Ganz bizarr jeden Freitag ist, dass immer um 12:30 Uhr erst ein Licht ausgeht, dann gehen die Rollladen runter. Dann hört man die Gebete durch die 26.-Juli-Straße hallen, dann geht der zweite Rollladen runter und alles Licht aus. Wir bezahlen und gehen. Die Türe schließt sich für eine halbe Stunde ganz. Während der Revolution war das jeweils der Anfang der freitäglichen Großdemonstrationen, und wir haben alle geschaut, dass wir schnell nach Hause kamen. Diese Erfahrungen werden uns wohl immer begleiten. Jetzt sind wir froh und doch... Die Kriminalität scheint zu steigen: Leute, die Waffen gestohlen haben, scheinen andere auszurauben. Autos werden auf der Ring Road überfallen, die Polizei ist nicht da, und wenn sie da ist, tut sie nichts. Da ist einfach noch nichts Neues aufgebaut. Immerhin hat sich der neue Premierminister, Essam Sharaf, sehr beliebt beim Volk, gestern auf dem Platz gezeigt und ganz offen mit und zu den Leuten gesprochen. In Alexandria und Kairo sind die Gebäude der Staatssicherheit gestürmt worden. Man wollte die Akten vor der Vernichtung retten. Keine Aussagen über die Verbrechen der Vergangenheit? Ich weiß nicht, ob es gelungen ist, aber auch das erinnert stark an den Sturm auf das Gebäude der Stasi in Ost-Berlin. Auf "ein weites Feld" hatte der Geheimdienst seine Aktivitäten angelegt, und ein solches bleibt es für die kommenden Jahre zur Aufarbeitung – frei nach Günter Grass. Mögen Leute wie Joachim Gauck oder Marianne Birthler in diesem Lande gefunden werden, die mir ihrer eigenen Geschichte für die Ehrlichkeit der Aufarbeitung der ägyptischen Vergangenheit bürgen. Und mögen die jungen Ägypter mit der Neugier und dem Interesse an der eigenen Geschichte bereit sein, die eigenen Wahrheiten mit allen Schmerzen und Lichtblicken sachlich und verbal deutlich vor ihrem Volk offenzulegen und auszusprechen, damit eine ordentliche, breite und offene Diskussion entsteht. Es lohnt sich sehr! Aber es ist auch ein weiter Weg, wie wir wissen. Gut so, dennoch! Vor unserem Simonds warten immer zwei Kinder auf Lisa und mich. Sie verkaufen frische Pfefferminze "Na'ana" und warten auf ein kleines Geld von uns. Lisa hat ihnen heute erst mal Croissants gekauft. Besser Naturalien als immer Geld. Das Geld geht an die Familie. Die Croissants gehen direkt in ihre Finger. Diese beiden – Bruder und Schwester – stehen vielleicht für die Kinder, die – der ärmsten Schicht angehörend, kaum beschult, auf der Straße lebend –, sowohl das gesamte negative Potential (Frust, Neid, Aggressivität) in sich tragen, als auch das gesamte positive Potential dieser Revolution: Chancen! Welche Zukunft eröffnet sich ihnen? Was liegt vor dieser Generation? Was können sie leisten? Was können sie erreichen, was über das Potential ihrer Eltern hinausgeht? Werden sie den Weg schaffen, weg von der Straße in einen Beruf, in Verhältnisse, die ihnen Konkurrenzfähigkeit durch Bildung und Ausbildung ermöglicht? Schwer vorstellbar im Moment. Sie sind so fröhlich noch und hüpfen mit ihren Leckereien auf den Bürgersteigen davon.
Vielleicht noch nicht ihnen, aber ihren Kindern wird es einmal gelingen, in ein Bildungs- und damit Überlebenssystem einzusteigen, das ihnen mehr Möglichkeiten als jetzt eröffnet. Man darf die Latte nicht zu hoch hängen. Aber mit guter Bildung für alle Kinder wäre doch schon sehr viel in Aussicht gestellt! Auf, Generation Facebook in Ägypten! Arbeitet an der Bildung Eures Volkes, und Ihr werdet ein ungeheures Potential offen legen und für den Aufbau mobilisieren können! Lisa und ich werden den beiden Kindern weiterhin Essen und kleine Gelder zustecken und sehen, dass sie fröhlich bleiben, wenn sie uns sehen. Ihre eigenen Realitäten kennen wir nicht. Nicht, was in ihren Familien vor sich geht. Wir wissen nicht, was ihnen auf der Straße noch alles passiert, wir wissen nicht, was sie in dem vermutlich einen Raum, wo sie vielleicht leben, erfahren. Wir wissen nicht, was sie denken, und worüber sie sprechen, wenn sie nicht auf der Straße sind. Wir wissen nicht, ob ihre Eltern sich um sie kümmern, oder ob die beiden sich um sich selber kümmern müssen. Sie schaffen vermutlich sogar das.
Und da bin ich wieder bei Mohsen: Auch er hatte einst wahrscheinlich nicht sehr viel andere Voraussetzungen. Sein Zeitungsladen ist heute unser Anker, und er selbst eine respektierte Person bei Ägyptern und Ausländern. Er ist ein sehr guter Mensch und hat einen klugen und gesunden Verstand. Solche Menschen sind Ägyptens Stärke. Er ist einmalig, aber wie ihn gibt es hier ganz viele. Gehen wir da hin! Dann sehen wir, wer dieses Ägypten ist. 11. März 2011 – Ägyptens Freiheit zeigt viele Gesichter Einen Monat ist es her, dass dieses Land frei wurde. Die Probleme des "auf-dem-Wege-Seins" sind genau so gravierend wie gedacht in allen möglichen Punkten: Geduld, Zeit, Konflikten von Interessen- und Menschengruppen, Organisation, Geld, Arbeit, etc. Aber wenn man sich spricht, wenn man auch zuhört, dann ist meist am Ende: "Wir sind sehr optimistisch, aber wir brauchen viel Zeit." Richtig, richtig. Es wird viel Zeit brauchen, und ganz langsam alles in seine Ordnung kommen, die dann für weitere Wahlperioden besteht oder für besseres Wissen noch einmal angepasst werden muss. Nach dem Willen des Volkes. In Zamalek hat uns Ibrahim Ghazala Künstler, Organisator und Mäzen, ein Plakat gegeben, das übermorgen in einer arabisch-englischsprachigen Magazin über Kunst und Kultur auf Arabisch mit Namen Elkhayl (heißt auf Deutsch/Englisch: "Imagination") erscheint. Der Künstler Salah Amani hat es gemacht. Es fasst die Revolution auf dem Tahrir zusammen.
Wenn ich bedenke, wie viele Expressionen – im besten expressionistischen Sinne – von dem, was seit dem 25. Januar hier passiert ist, ich inzwischen gesehen habe, dann ist das nur eine. Aber ich bin schon beeindruckt, und es ist fast eine Art "Suchbild". Andere Expressionen habe ich auf dem Verschlag eines Geschäftes in einer Seitenstraße des Tahrir gefunden. Ebenso eindrücklich auf ihre Art. Wie Menschen beflügelt sind, sich jetzt frei auszudrücken! Man muss sich auch ins Gedächtnis rufen, dass in Ägypten in staatlichen Schulen Kinder bislang kaum an Malen, Zeichnen, an Farben, an Musik herangeführt wurden. Sich-Ausdrücken in Bildern und Zeichnungen ist nicht, was Eltern, Lehrer und Gesellschaft bislang auf die pädagogisch-kulturelle Lern-Agenda gesetzt haben. Und doch – vielleicht gerade deshalb – gibt es hier unglaublich mutige, eigenständig arbeitende Künstler, die immer gegen den Strom ihre Bilder, Bücher, Filme, Musik produziert haben.
Jetzt kommen jedoch plötzlich noch ganz andere Menschen ans Malen, ans Zeichnen. Ihre Zeichnungen stellen mit Spaß, mit Ernsthaftigkeit und Intellekt dar, schreiben teilweise auch, was sie erleben und denken. Auch die Plakate während der Demonstrationen zeigten immer wieder diese Freude an der Darstellung im Bilde. Da scheint oft etwas auf, was an "Hieroglyphen" erinnert, oder? Aber auch anderer Kommerz, gepaart mit Nationalfreude und Sozialaktivität, hat sich rund um den Tahrir ausgebreitet. Wobei zu bemerken ist, dass manche Händler, die ihre Geschäfte eigentlich auf dem Bazar, dem "Han el-Halili", haben, inzwischen in Richtung Tahrir ausgezogen sind, um wenigstens dort das eine oder andere Geschäft zu machen. Nun nicht mit Touristen, sondern mit den eigenen Leuten und mit dem Rückhalt der ganzen Nation.
Menschen überall tragen diese Hüte, Stirnbänder, die Landesfarben auf der Haut oder in den Kleidern. Sie laufen nicht ohne die Fahnen in der Tasche auf und über den Tahrir.
Und man kommt miteinander ins Gespräch. Man mag sich und zeigt das auch. Und auf dem Tahrir haben heute wieder Menschen demonstriert für die Einheit von Christen und Muslims. Die Zelte in der runden Mitte des Tahrir sind fort. Aber man ist präsent. Der Verkehr wird derweil von zivilen Helfern umgeleitet und fließt langsam und zäh an den Aktivisten vorbei in die großen Seitenstraßen ab. Dort sind vermehrt Fußgänger mit Fahnen unterwegs und am Freitag Familien mit Kindern in Nationalfarben eingekleidet. Früher ging man "in den Club". Heute geht man erst mal zum Tahrir.
Früher ging man als Tourist erst einmal zu den Pyramiden, heute geht es auf den Platz des Volkes. Und das haben wir heute selber für's Familienfoto nachgestellt.
Wenn ich in den nächsten beiden Wochen in Leipzig die Buchmesse besuche, mich im Seminar des Goethe-Institutes fortbilde, werde ich gewiss von Kairo und der Revolution erzählen müssen. Und ganz sicher gehe ich Anfang April wieder mit Freuden auf den Platz, wenn ich zurück bin. Dann hat schon die erste Wahl zur ersten Änderung der Verfassung stattgefunden. Und sie wollen endlich alle auch hingehen! Sie freuen sich drauf! Ich mich auch. 20. März 2011 – Geduld Ich schreibe weiter aus Ägypten und über Ägypten, wenn ich wieder im Lande bin. Ich war jetzt eine Woche für das Goethe-Institut bei einem Seminar zur Leipziger Buchmesse in Leipzig. In mühevoller und sorgfältiger Kleinarbeit, in Referaten und mit Referenten wurden wir (20 Mitarbeiter aus 19 Ländern) informiert über den Büchermarkt, über Übersetzungsförderung, über Literaturvermittlung und Projekte und konnten erfahren, wie ungeheuer aktiv und lebendig Leipzig die gesamte Lese- und Buchkultur, Menschen aus aller Welt wie uns, aufnimmt und betreut. Was hat das mit Ägypten zu tun? Es hat mir ein weiteres Mal auch die Möglichkeit gegeben, über Ägypten zu berichten, und uns an den Anfang einer spannenden Entwicklung zu stellen, im Verlaufe derer sicher auch eine großartige Entwicklung im Bereich der Literatur und Entfaltung von Schriftstellerei und Übersetzung stehen wird. Die Kollegen aus aller Welt haben diese neue Entwicklung mit Neugier, Interesse und Respekt kommentiert und hinterfragt. Das hat mich gefreut. Ich habe gemerkt, wie sehr wir jetzt an der Schwelle stehen, und wie viel Geduld wir mit Antworten haben müssen. Japan und Libyen stehen jetzt erst einmal im Vordergrund des Interesses der Weltöffentlichkeit. In einer Woche kommentiere ich dann aus Kairo, was die Ägypter Neues bewegt. Bis dahin! 1. April 2011 – Demos und Bücher in Zeiten des Umbruchs Zurück in Ägypten nach einer Kultur- und einer Reisewoche zu Freunden und Familie, empfing mich der Frühling und blauer, strahlender Himmel. Ich bin gerne wieder hergekommen. Auf der Reise hatte ich das Interview im Spiegel, Nr. 11/11 mit Amr Moussa gelesen, der sich um die Präsidentschaft bewirbt und dem Land nun für eine Zeit zur Verfügung stehen möchte. Erfahrung und Ruhe legt er in die Waagschale. Aus der ZEIT Nr. 13 brachte ich die Stellungnahme des jungen Politikprofessors mit deutscher Lehrerfahrung, Amr Hamzawy mit, zum Thema Verfassungsänderung, Wahl, Abstimmungsverhalten und Bedenken gegen die Veränderung der Verfassung im Moment. Es wird politisch hier, dachte ich. Und so war es: Am ersten Tag zurück im Unterricht berichtete mir eine junge Frau, sie sei nie politisch gewesen und jetzt diskutierte ihre ganze Familie dauernd über aktuelle Politik, über die Wahlen, über den Alltag und alles sei politisch! Sie hätten in der Familie noch nie so viel geredet, und sie hätten alle unterschiedlich abgestimmt bei dieser ersten Wahl zum Verfassungsreferendum am 19. März. Und jetzt würden sie doch eigentlich auch gerne "Politikwissenschaft" studieren wollen. Sie hätten gar nicht gedacht, wie vielseitig das alles sei, meinten die Kursteilnehmer. Jetzt gäbe es an den Hochschulen ja auch endlich Leute, wie Amr Hamzawy, die Parteien gründeten und lehrten. Wie hoch interessant und motivierend! Weniger motivierend fand ich den enormen Verkehr. Da jetzt alle Schulen wieder arbeiten, sind morgens um kurz vor 8:00 Uhr enorme Menschenmassen unterwegs zur Arbeit und zur Schule. Es ist schon um diese Zeit Stau. Ab nächster Woche ist die Ausgangssperre nur noch von 2:00 Uhr früh bis 6:00 Uhr früh, und dann sind die Schüler wieder vor den Arbeitenden unterwegs. Besser! Die Börse arbeitet wieder. Die Presse blüht. Die Massen an Zeitungen, die ich jetzt in den Auslagen bei Mohsen und anderen Zeitungsverkäufern sehe ist enorm! Es ist bunt und lebt von wilden arabischen Schlagzeiten – die Mubaraks werden in alle Richtungen auseinandergenommen, wie Mohsen mir erklärte: kriminell, verächtlich, karikiert, bedauernd, lächerlich, auf jeden Fall aus einer guten Distanz, die auch alle Schattierungen von Kommentaren erträglich erscheinen lässt, ob man nun Anhänger oder Kritiker gewesen sein mag oder jetzt ist. Schon heute, aber auch morgen und übermorgen veranstalten Kulturinstitute und die Amerikanische Universität rund um den Tahrir-Platz Ausstellungen von Büchern und Buchverkaufsstände. Im Februar war ja die Buchmesse, die ein großes Forum für die Intellektuellen und jungen Leute in Ägypten ist, der Revolution geschuldet, ausgefallen. Morgen werden Demonstranten und Literaten Seite an Seite ihre Meinungen sagen und das geschriebene und gedruckte Wort abwägen. Das finde ich eine gute Nähe in der Nähe des Tahrir-Platzes. In Leipzig, wo ich zur Buchmesse und zu einem exzellenten und sehr inspirierenden Seminar des Goethe-Institutes sein durfte, haben wir auf der Stadtführung eine lokal wohl bekannte, bemalte Hausfassade entdeckt – ich kenne den Namen des Künstlers leider nicht –, die ganz ähnlich dem Plakat, welches ich im letzten Beitrag eingestellt habe, die Revolution der DDR-Bürger 1989 und den Rückblick auf die DDR reflektiert:
Auch hier findet Geschichte einen großflächigen, bildlichen Ausdruck, der doch in seiner Farbigkeit auch die Vielfältigkeit und die Freude abbildet. Freude am Erreichten und Freude an der Massenbewegung, die nicht bizarr oder beängstigend ist, sondern die solidarisiert. Ein besonderes "Demonstrationsgefühl", das offenbar in beiden Fällen ähnlich gesellschaftlich wirkt: es stiftet selbstbewusstes Nationalgefühl. Mein Ägyptengefühl wurde gleich nach der Ankunft allerdings auch auf die Probe gestellt. Unsere Vermieterin eröffnete uns, dass wir zugunsten familiärer Nutzung in absehbarer Zeit werden ausziehen müssen aus unserer Wohnung in Dokki. Wieder umziehen. Diese schöne helle Wohnung verlassen. Werden wir eine Wohnung finden, die wir für noch einmal zehn Jahre oder mehr schön finden? Sie muss uns auch schützen, so wie wir uns hier "sicher" gefühlt haben, als es draußen knallte. Der Laden um die Ecke, der uns zu jeder Tages- und Nachtzeit versorgt, der Bügler, der Gemüsemann, der Apotheker, alle weg, und wir werden neue dienstbare Helfer finden müssen. Wehmut, Sorge, Rückblick, auch Unmut und Zweifel, ob man das überhaupt noch machen soll, oder doch nun gehen? Aber wohin und wovon leben, wenn der Arbeitsmittelpunkt ja hier ist. Auch hier also noch einmal ein Umbruch und vielleicht ein Neu-Anfang. Wir haben Zeit, eine Wohnung zu finden und jetzt sehen wir uns erst einmal um. Wir wissen, wie eine gute Wohnung sein soll. Wir wissen, was nicht geht. Wir haben Erfahrung mit Umziehen und mit ägyptischen Umständen und dem Leben hier. Vor Missgriffen sind wir nicht gefeit, und ich habe keine Lust auf solche. Schon deshalb werde ich uns Zeit lassen. Ich habe mich auch wieder beruhigt und denke daran, dass jedes Ende auch ein Neuanfang ist. Passt eigentlich zur Zeit und zum Ort. Passen wir hier hin? Ich weiß es nicht immer. Ich bin doch auch sehr deutsch geblieben, sehr meiner Kultur verbunden und der deutschen Lebensweise. Vielleicht ist das aber gerade der Schutz, den man intellektuell und emotional braucht gegen die Alltäglichkeit einer Gesellschaft, deren Teil man nur am Rande ist. Insofern ist die Wohnung für mich wichtig. Die Wohnung ist mein Terrain und das meiner Familie und Freunde. Dort möchte ich geschützt sein und in meinem kulturellen Rahmen leben. So wie die Ägypter nun ihr Land nach der Revolution als ihre Wohnung, als ihr Land empfinden. Wir wollen uns alle wohlfühlen. Ich probier' es dann wohl auch! Ausgang ungewiss. 9. April 2011 – Weltweite und ägyptische Umbrüche Heute ist Freitag, der 8. April. Fast zwei Monate sind es her, dass wir mitten in der Revolution waren, und nur etwas mehr als zwei Monate zuvor begann das Jahr 2011. Was ist alles passiert, seit wir in ein Neues Jahr hineingefeiert und sinniert haben? Unglaublich! Manchen ist es zuviel. Ich frage mich, wohin wir in dieser Geschwindigkeit laufen. Nicht nur Tunesien und Ägypten, auch Libyen, der Jemen, Syrien und der Rest der Arabischen Welt ist in Umbruch. In Japan ist der Super-Gau in jeder Hinsicht für die Japaner und die Welt in Gang gesetzt. In China setzt die Diktatur Ai Weiwei fest. Zuvor eröffnet ein deutscher Außenminister eine Kulturausstellung, die der Diktatur dient? Sollten wir das mitmachen? Oder sollten wir dem Volk dienen? Was tut die Wirtschaft und die Politik? Sieht sie zu? Es sieht so aus. Das finde ich höchst beschämend – gerade als Deutsche. Hier in Ägypten formt sich neues Sozial- und Wirtschaftsleben. Neue Ängste, wie Sicherheitsangst, wie Angst um den Tourismus, aber auch ganz existentiell – um das tägliche Einkommen und Auskommen der Familien liegt offen und wird geäußert. Aber auch politische Angst, um die Rückkehr und die Konterkarierung der Revolution. Alte Mubarak-Leute, die immer noch gegenhalten, die immer noch irgendwo sind und Fäden ziehen, Unruhe stiften und stiften wollen, um weiter Macht zu behalten oder wieder zurückzugewinnen. Das Gute an diesen Ängsten ist, dass sie offen ausgesprochen werden, und freitäglich gehen die Menschen auf den Tahrir, um an diese Sorgen und ihre Ängste zu erinnern, sie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Das finde ich richtig. Sie sind organisiert, sie sind friedlich, und sie nehmen ihre Kinder mit. Für sie tun sie das auch. Wie gut, dass es hier so schnell und direkt auf die Mubarak-weg-Lösung, so relativ friedlich, gelaufen ist. Das sagen alle immer wieder. Dass sie noch lange hier bangen und werden kämpfen müssen, ist klarer denn je! Aber es ist es alles wert. Ich treffe mich weiter jeden Freitag und Samstag um 11:00 Uhr in Zamalek mit denen, die auch während der Revolution in Zamalek bei Simonds waren. Immer, wenn am Freitag gegen 13:00 Uhr vor dem Gebet die Rollläden des Cafés geschlossen werden, und wir unsere Zeitungen und Gespräche einpacken, wissen wir, dass wir jetzt – anders als vor zwei Monaten – in eine freie Freitagswelt hinausgehen. Und die Pferde und Kamele über uns auf der 26. Juli-Bücke werden wir nie vergessen. Und nicht die Bilder vom Tahrir am 25. Januar und die ernsten Bedenken, die wir uns damals beim Nach-Hause-Gehen in den Abschied legten. Meine private Wohnungssuche gestaltet sich mühsam, weil die Preise für bewohnbare Wohnungen absurd sind, und weil der Rest des Angebotes indiskutabel in der Substanz und im Wert ist. Aber ich habe Hoffnung, dass sich was findet. Was ist dieses Problem gegen andere Probleme von Freunden oder Menschen dieser Welt? Kriegen wir auch hin. Ich frage mich bei der Geschichte nur, ob bei all den Umbrüchen im Land und in der Welt ich jetzt aus diesem Umbruch – Umzug auch noch was extra lernen soll? Neue Zeit? Neuer Ort? Neues Lebensgefühl? Ist es Zeit? Es kostet alles auch Kraft, aber es geht uns gut. Morgen geht die Suche weiter. Außerdem habe ich tolle neue Bücher bestellt, die ich in die Osterferien nach Basata mitnehmen werde. Eine Woche lesen und Ruhe im Sinai. Meine Viktoria kommt und Leo ist auch mit seinen Kumpels dabei! Und dort ist Ostern und ist ein Ort, wo ich mich hundertprozentig richtig und hingehörend fühle. Im Glanz der Sonne und des Mondes am Strand, des Golfes von Aqaba. Dort bin ich nur zuhörend dem Plätschern oder Rauschen des Meeres, eintauchend in die Welt, die die Bücher mir öffnen. Welten jenseits meiner Lebenswelt und doch in den Lesemomenten unmittelbar erreicht: Max Frisch und sein Leben in diesem Jubiläumsjahr durch eine neue Biographie (Julian Schütt) und Bildbiographie (Volker Hage) beschrieben und geehrt. Herta Müllers Atemschaukel, und Michel Houellebecqs Die Möglichkeit einer Insel, Mohammed Hanifs A case of exploding mangoes, Roger Willemsens Die Enden der Welt – das ähnelt sich alles, oder? Ich bin sehr gespannt auf die Erkenntnisse und Leseerlebnisse. Welche Musik passt dazu? Welche Farben? Bilder? Menschen? Geschichten? Vielleicht male ich dann wieder oder habe einfach gute Gespräche mit Leuten, die auch dort sind, und die ich jetzt noch nicht kenne. Vor allem aber freue ich mich auf die Gespräche mit meinen Kindern und ihren Freunden. Auf Ostern mit schmelzenden Schokoeiern in der Hütte versteckt. Auf ein Leben in der Friedlichkeit der Hütte, durch deren Bambus tagsüber die Sonne durchblitzt und blinkt, und durch die ich nachts kühle, schwarze Mondluft atme. Über der ich Millionen Sterne der Milchstraße erahne oder auch mal nur eine einzige Sternschnuppe erhasche. Dann werde ich ganz hinausgehen in den kühlwarmen Sand und die Nacht so lange es geht. Ich werde mit offenen Augen, mit wachem Ohr und tiefem Atem das alles aufnehmen, um aufzutanken für Neues und Kommendes. Es war schon immer so und doch: wer hätte vor einem Jahr gedacht, dass die Welt schon wieder ganz anders ist – auch und besonders hier in Ägypten! 20. April 2011 – Frohe Ostern aus dem Sinai! April und Ostern. Mein Blog wird wohl immer noch gelesen, wenn ich auch nicht mehr so regelmäßig schreibe. Mir scheint es wichtig, substantiell zu bleiben und doch den Alltag im "Neuen Ägypten" beschreiben. Der vierte Monat des Jahres 2011 hat uns den Frühling gebracht. Kühle Nächte noch, aber auch schon heiße Tage, an denen wir unsere Klimaanlagen laufen ließen. Man kann sagen, dass die komplette alte Regierung in Tura (Südkairo) im Gefängnis sitzt, während Hosni Mubarak mit Herzproblemen im Krankenhaus in Sharm esh-Sheikh festgesetzt ist. Es geht um die Anordnung des Beschusses von Demonstranten, um die wissentliche und rücksichtslose Inkaufnahme und Erwartung des Todes von vielen jungen Leuten und Demonstranten, und es geht daneben auch um die Vermögen in Immobilien und Geschäften, die die Familie Mubarak und ihre Vertrauten für sich angehäuft haben, während auch sichtbar das Volk immer weiter ins finanzielle, bildungsmäßige, soziale, politische, etc. Abseits geriet, ja auch gerne dort gehalten wurde. Dank junger, gewitzter und entschlossener Menschen, dank Facebook und des großen Gemeinschaftssinnes und dank ungestillter Zukunftsträume und nie vergessener Hoffnungen ist diese Diktatur niedergezwungen worden. Jetzt freilich herrscht viel Unsicherheit allenthalben. Der Anfang vom Anfang ist im Gange. Die innere Sicherheit vor allem muss durch neu ausgebildete Polizisten und ein System der Autorität und Sozialität neu aufgebaut werden. Auch das ist eine langfristige Aufgabe. Die letzten Wochen waren sehr hektisch, und ich fand mich und uns oft ziemlich strapaziert. Eine neue Wohnung ist immerhin inzwischen gefunden. Sie ist hinter der Schule in Dokki in einer kleinen Straße in einem Familienhaus mit umwachsenden Bäumen und hohen Räumen. Sie ist schön geschnitten und relativ preisgünstig, hat jedoch weder eine fest eingebaute Küche noch irgendwelche Klimaanlagen oder Schränke. Wir hatten naiv gehofft, nicht mehr in Ägypten umziehen zu müssen. Jetzt ist es so etwas wie: Furchtbar, was da alles auf einen zukommt und: Wir sind gespannt, wie wir das hinkriegen und wie sich der Vorteil von Schulnähe und auch Fußnähe zu meiner Arbeit auswirken wird. Wir machen was draus und es kann auch schön werden. Leo war zuletzt etwa vierzig Minuten mit dem Fahrer von der Schule nach Hause unterwegs, wenn er um 14:45 Uhr die Schule verließ. Auf dem Fußweg könnte er den Weg in zehn Minuten machen, was wegen Verkehrs und steigender Temperaturen aber nicht empfehlenswert ist. Festzustellen war jedenfalls schon, dass die neue Vermieterin entsetzlich hinter dem Geld her ist, was – wie eine Freundin lakonisch meinte – jetzt besonders krass sei, da niemand Geld in der Hand habe. Auch der Makler konnte den Vertragsabschluss kaum erwarten und schien ehrlich glücklich. Wir sind vor allem froh, zu wissen, wohin es geht. Wir sind auch froh, dass wir unseren Allround-Mohamed haben. Er ist Techniker, kennt sich mit dem Kauf von Klimaanlagen aus, mit ihrer Installation, mit der Installation der Küchengeräte, von Ofen und Kühlschrank, mit Besorgung von Schreiner und Klempner. Er wird die Umzugskartons organisieren, packen tun wir selber. Er wird Leute und Autos für den eigentlichen Umzug beordern und beaufsichtigen, und er wird uns helfen, unsere Fernseher und Technika ans Laufen zu bringen. Eine echte Stütze der Familie! Eigentlich so ein typisch ägyptischer guter Geist, den viele hier haben und wirklich auch brauchen. Gestern bin ich mit fünf Kindern – zwei eigenen – und drei von Leos Freunden erst mal in unsere jährlichen Osterferien nach Basata quer über den Sinai gefahren. Basata ist seit 13 Jahren meine Zuflucht im Frühjahr. Hier sind die Kinder klein gewesen, größer geworden, hier waren Freunde mit uns, die Ägypten wieder verließen, hier waren meine Schwester und Familie, mein Vater mit Edith bereits mit uns, hierher kamen immer auch Freunde der Kinder mit. Basata, die Idylle zwischen Taba und Nuweiba am Golf von Aqaba: Hütten am Strand aus Bambus, solide und phantasievoll gebaut und ausgestattet mit Zimmern, Terrassen, Betten, ausgelegt mit bunten Teppichen und Beduinen-Wolltaschen für vielen kleinen kosmetischen und praktischen Utensilien. Das Meer direkt vor Augen, hört man den Wind durch die Hütte ziehen, sieht nachts die Milliarden Sterne über dem Meer, die Milchstraße und gegenüber die Berge Saudi Arabiens in je nach Wetter changierenden Farben. Fische springen aus den flachen Fluten, Schnorchler und Schwimmer durchziehen das leicht bewegte klare Wasser, das so gut nach Salz und Algen riecht. Weicher Sand wärmt tagsüber, nachts ist er kühl und feucht unter den Füßen. Tags gebaute Sandburgen werden dann umspült und langsam hinausgetragen zu den leider ihre Lebenskraft einbüßenden Korallenriffs, wo die Fische nie schlafen.
In Basata geht es weitgehend selbstverantwortlich und ökologisch zu. In der großen Haupthütte wird gekocht, gegessen, an niedrigen Tischen auf Kissen gesessen, hier wird sich getroffen, gespielt, gelesen, Politik und Leben besprochen, hier werden Kontakte geknüpft, Beduinenschmuck verkauft und in allen Sprachen der Welt unter fast freiem Himmel miteinander kommuniziert. Wer genug von der Gemeinschaft hat, geht in seine Hütte und liest, setzt sich in den Sand oder geht spazieren hinter die Felsen zur Düne oder am Strand entlang.
Adel, der Fahrer mit seinem Peugeot, hat uns gestern früh um 4:00 Uhr in Kairo abgeholt und hierher gefahren – etwas mehr als 500 Kilometer. Es war kein Problem aus der Stadt herauszukommen, trotz Ausgangssperre zwischen 2:00 und 5:00 Uhr. Die Durchfahrt durch den Suezkanal war allerdings erst gegen 5:30 Uhr geöffnet. Es sei nicht ratsam, nachts zu fahren, meinte Adel, da es nachts Übergriffe von Räubern, die mit Autos und Motorrädern aus El-Arish im Norden auf diese Sinai-Straße gegeben habe. Auch deshalb sei der Neuaufbau der Polizei sehr wichtig, um auch diese Kriminalität wieder in den Griff zu bekommen. Hier in Basata ist es jetzt voll, aber nicht so, wie in vorausgegangenen Jahren. Niemand hier scheint allerdings irgendwie beunruhigt zu sein oder sich unsicher zu fühlen. Wir auch nicht. Ich muss immer an die tolle Selbstverteidigung der Ägypter denken. Und ich sage mir, dass die Kriminalität in diesem Lande nie irgendwie erschreckend sichtbar geworden ist. Jetzt ist sie gestiegen auf der Basis einer außer Kraft gesetzten Rechtsverbindlichkeit und auch, weil so viele materiell so schlechtgestellt sind. Aber das waren sie auch vorher und wären es auch mit Mubarak. Allein jetzt sind die Strolche wirklich selber die Verantwortlichen für ihre Untaten und nicht das System. Die Mehrzahl der Ägypter verurteilen diese Überfälle als Angriffe auf die Ideale ihrer neuen Zivilordnung und gesellschaftliche Ächtung ist den Räubern sicher, was freilich den Überfallenen wenig nützt. Aber wie gesagt: nichts zu fürchten hier! Im Gegenteil, es gibt viel Anschluss und Teilnahme und ein weites sonniges Feld von Ruhe, Community und Umtriebigkeit in gemeinsamen Freizeitaktivitäten im Sande.
Ich lese gerade Arno Geiger, Der alte König in seinem Exil (Hanser Verlag, München 2011). Arno Geiger beschreibt darin seine Wahrnehmung seines an Alzheimer erkrankten Vaters und meint, diese Krankheit sei im Grunde ein Augenöffner: jeder Gesunde brauche heutzutage unglaubliche logistische und intellektuelle Fähigkeiten und Fertigkeiten, um den Alltag zu bewältigen. Menschen, die den Überblick verlieren, die Fähigkeit, sich Überblick zu verschaffen und Ordnung zu halten und herzustellen, verlieren all ihre Sicherheit und ihren Halt (aaO., S. 58). Dem Vater ist diese Fähigkeit abhanden gekommen. Mir gefällt der Gedanke, sich bewusst zu machen, gerade in diesen Tage, dass bereits die Neuerungen, die jeder täglich und stündlich erlebt in ihrer Einordnung und Bewältigung reichlich an Zahl und kompliziert an Inhalt sind. Sie verlangen uns einiges ab und unser Ausdruck dafür ist wohl: "Stress". Hinzu kommen die Neuerungen, die nicht aus unserem privaten Leben hervortreten, sondern die uns politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich, beruflich, schulisch treffen, von wo wir im Grunde traditionell Stütze, Dauer und Stärke erwarten. Familie, Religion, Tradition, Ideologien, Rollen und Vaterland (aaO.) gaben auch hier in Ägypten den Menschen ihre Stützen und in dem Moment, wo diese Stützen weggebrochen sind, fühlt man sich unorientiert, krank, hilflos. Glücklicherweise ist die Krankheit dieses Landes heilbar. Die Bewältigung des Alltags muss dennoch jeder einzeln und alle miteinander unter gewissen Schmerzen durchmachen. Dabei sind wir nun beim christlichen Osterfest, das wir morgen feiern. Am Montag ist für die Arabische Welt Sham en-Nassim, und für uns alle ist es das seit Urzeiten gefeierte Frühlingsfest. Erneuerung nach Härte und Winter und die Hoffnung auf eine lichtvolle und bunte Zeit im Frühling und Sommer. Erst mal in kleinen Schritten, damit die Einordnung gelingt!
In diesem Sinne wünsche ich allen Freunden und Lesern Frohe und schöne Ostern! 20. Mai 2011 – Ya Masr! Ja Ägypten! Oh Ägypten!? Wir sind doch erst am Anfang! Heiße Tage, langsam kommt sattes, frisches Grün in die Bäume. Rot-orange blühen Baumkronen und durchsichtig feine Blättchen brechen aus den trockengrauen Stämmen hervor. Ich liebe diesen Ausbruch des Sommers hier! Es gab kühlere Tage, insofern hatten wir auch einen Frühling in diesem Jahr. Normalerweise kommt der Sommer Knall auf Fall. Jetzt ist er da.
Mein Revolutionskunstfreund Ibrahim Ghazala hat Lisa und mir heute das dritte Heft seiner arabischen Kunstzeitschrift gebracht. Tolle Beiträge, Bilder, Aufmachung! Wie lebendig diese Szene hier ist! Phantastisch. Hier ist Kunst nicht in aller Munde, aber im öffentlichen Raum überall sichtbar. Davon zeugen auch die zahlreichen Graffiti, die man in der Stadt an Mauern und auf dem Pflaster findet. Überall gibt es Konzerte, und in der Oper tanzen und musizieren einheimische und internationale Ensembles. Zur besseren Erläuterung der anstehenden und ungelösten Probleme möchte ich vor allem auf die Beiträge des Bloggers "Sandmonkey" unter Rantings of a Sandmonkey verweisen: Extrem intelligent und durchdacht und in Folge seit Januar die Ereignisse und Probleme Ägyptens kommentierend. Markiert Euch die Seite und folgt ihr von Zeit zu Zeit! Das ist die ägyptische Innenansicht, der ich völlig zustimme und von der auch ich gerne einiges meinen eigenen Beobachtungen hinzufüge.
Jetzt gehe ich Felukkafahren und sehe mir Kairo vom Wasser aus an. Es wird das braun-graue Kairo sein. Wenige Häuser am Ufer sind beleuchtet, die Hotels wenig belegt. Der von Süden kommende Wind jagt drängend die Schiffe auf dem Nil dem Delta, seiner Mündung ins offene Meer entgegen. Der Weg flussabwärts ist mühsam und dauert länger, der Weg zum Hafen zurück nach Norden mit dem Wind geht schnell und glatt vonstatten. Die Lichter der Stadt gehen an, während man auf dem Fluss ist. Die Dämmerung und Nacht tauchen uns in die Hülle des Dunkels, das wir nicht beleuchten können mit hitzigen Diskussionen und Aktionen auf den Straßen. Nie ruht diese Stadt, aber die Nacht gibt ihr und seinen Menschen im Nacht- und Familienleben einen kleinen Frieden. Eine Ruhepause bis zum Morgen und dem neuen Tag, an dem alles von neuem los- und der Kampf des Alltags weitergeht. Dann brodelt es wieder auf den Straßen und man kann nicht glauben, dass hier irgendwo Regeln der Ordnung walten.
27. Mai 2011 – die "zweite Revolution" nach der Revolution Freitag, der 27. Mai ist hier in Kairo ein heißer und bedeckter Tag. Die Hitze – über 35°C – drückt die Geschwindigkeit, mit der wir uns bewegen. Das dumpfe Licht macht die Stirnen runzlig, die Augen zusammengekniffen und trübt den Blick in die Ferne. Also bleiben wir nah am Geschehen. Gestern erzählte mir ein Bekannter, der nach Ägypten importiert, dass Importe derzeit fast nicht zu machen sind, da im Ministerium alle Angst hätten, Papiere zu unterschreiben. "Wir warten!" Worauf, wissen sie auch nicht, denn niemand steht oben, der sagt: das ist das Gesetz und danach könnt ihr entscheiden. Weder gibt es ein komplettes, verbindliches Gesetz, noch einen, der oben steht. Verhängnisvoll. Auf der anderen Seite sind die Wirtschaftsbeziehungen, Exporte erfreulich, und vom derzeitigen G8-Gipfel kann man auch Positives erwarten. Heute aber ist – zur Stunde – aufgerufen, wieder auf den Tahrir zu gehen. Gruppen von zumeist jungen Leuten rufen seit Wochen zu einem Tag der "Zweiten Revolution" auf, um zu bekräftigen, dass die Reformen jetzt beschlossen werden müssen, nicht erst nach den Parlamentswahlen, und dass das Militär zu langsam reagiert. Es geht vielen nicht entschlossen genug, und damit haben sie Recht. Um 18:00 Uhr soll Schluss sein und das Militär hat seine passiv beobachtende Teilnahme garantiert, genauso wie auf der anderen Seite die Aktivisten die Friedlichkeit der Aktion garantiert haben. Soweit von Tweets und auf Aljazeera zu sehen, geschieht alles so, wie es soll. Man kann also zufrieden sein und hoffen, dass die Stimme des Volkes klarer wird und selbstsicherer, aber auch dezidierter in vielem. Vor allem haben sie der Mahnung der Muslimbrüder, nicht zu protestieren eine Absage erteilt und lassen sich nicht vorschreiben, wann sie sprechen. Das finde ich sehr gut. Von meinen Freunden der Freitagsrunde kamen einige mit festen Schuhen, Wasserflaschen und nur kleinsten Handtaschen ins Simonds zum Revolutionskaffee, um hernach weiterzuziehen zum Tahrir. "Wir wollen nicht zu Hause sitzen, während man seine Stimme wieder erhebt. Unterstützung kommt nicht von der Wohnzimmercouch aus, sondern von der Straße", sagte mir eine Dame. Unterstützung ist jetzt friedlich vor Ort! Es ist erfreulich, dass die Fähigkeit zur Solidarität und das Vertrauen in die eigenen Menschen auch seit der Revolution weiter gehalten hat und viele sagen, "die Ägypter sind ein friedliches und friedfertiges Volk, und sie werden diesen Frieden um jeden Preis halten, so wie sie es vom 25. Januar bis zum 11. Februar gezeigt haben." Sehen wir heute Abend, wie es geworden ist! 3. Juni 2011 – Wie alles anfing... Heute ist wieder ein Freitag. Es ist der erste Freitag im Juni, und der Sommer ist da mit gemäßigten Temperaturen und den wunderbaren Flamboyant-Bäumen in Blüte. Im Goethe-Institut habe ich mit Schülern einer B2-Klasse letzte Woche über "Graffiti" gesprochen und deren Blüte nach der Revolution. Anlass waren die Eröffnung mehrerer Ausstellungen im Raum Kairo, wo man Fotos von den während der Revolution gemachten Graffiti zeigte. Auch die letzte Ausgabe des Egypt Today ist dem Thema in Wort und Bild gewidmet. Anliegen in der Klasse war, eine Debatte zu führen über den Nutzen, bzw. Schaden von Graffiti. Es ging um sprachliche Argumentation, aber auch um Inhalt, und den hatten wir ja nun hautnah vor der eigenen Tür. Während ich noch meine Fotos vom Tahrir durchsah, schickte mir ein junger Mann, Ahmed Hossan ed-Den, bereits einige in der Stadt aufgenommene, an Mauern von Schulen und öffentlichen Gebäuden angebrachte Graffiti-Fotos, die ich z.T. einfach peppig gut fand, mindestens aber erfüllten sie einen Zweck: die olle Mauer wurde farbig verschönt. Und viele sind der Revolution gewidmet. Heute früh nun – gottlob ist es ja Freitag – sah ich noch mal meine alten Aufzeichnungen durch und auch die, die vor diesem Blog entstanden waren. Sie reichen vom 23. Januar bis zum 2. Februar und beschreiben den Anfang der Revolution. Im Abstand gelesen, fand ich das doch auch wieder ganz spannend und möchte den Lesern, die immer noch dabei sind, diesen Teil eigentlich auch nicht vorenthalten. Wenn schon – denn schon, dann auch die ganze Geschichte! Die Geschichte aus meiner Sicht. Wenn man auch inzwischen schon fast wieder zu viel liest, wie alles war. Dabei sind wir doch noch mitten drin und nichts ist richtig geklärt. Aber das gehört zum Prozess, den ich ja nun auch weiter kommentieren werde. Ich füge hier also im Rückblick den Anfang des Geschehens an, unter dem Titel: Tagebuch der Ägyptischen Revolution im Januar/ Februar 2011 –
Sonntag, 23. Januar 2011 Leo, unser 13-jähriger Sohn, sitzt abends noch am Computer und chattet. Ich komme von einem Besuch an der Universität Mansoura im Delta zurück. Es war menschlich wunderbar und äußerlich bin ich erschüttert: der Müll überall, die Schäbigkeit der Ausstattung von Räumen einer Universität! Horden von jungen, bekopftuchten Mädchen und ausdruckslosen Jungs hängen rum oder bewegen sich innerhalb und außerhalb des Universitätsgebäudes. Alles wirkt ziellos, gelangweilt. Sie kommen vom Nichts und gehen ins Nichts. Auf den kalten Fluren sitzen an schiefen Holztischchen Hunderte von Studenten und schreiben auswendig Gelerntes auf Formbögen: Ihre Halbjahresprüfungen. Die Straßen sind nur halb asphaltiert, es geht vom Asphalt auf den ungeteerten Lehmboden. Mitten in der Stadt. Tucktucks, Dreiradautos verschiedener Bauarten und Farben fahren eng an Autos und Menschen vorbei. Eselskarren dazwischen. Fußgänger suchen sich auch ihren Weg und im Modder sitzen Frauen und verkaufen aus Körben Zitronen und Kräuter. Wir essen mit Professoren in einem Lokal im ersten Stock ein opulentes Mittagessen. Die Jalousien sind geschlossen. Neonlicht und ein laut Koranverse jammernder Fernseher läuft. Das Essen ist gut und reichlich. An den Rändern der Deltaautobahn steht der Müll. Schutt von Asphalt, Landwirtschaft, abgerissenen Baracken oder Kiosken türmen sich neben der vierspurigen Straße. Menschen warten in Gruppen auf Sammeltaxis am Straßenrand. Gegen den Verkehr fahren Fahrradfahrer mit irgendwelchen Kopf- oder Gepäckträgerladungen, drängen die Wartenden zurück. LKWs ziehen mit hohen Geschwindigkeiten, im Pulk und mit waghalsigen Überholmanövern an uns vorbei. Ali, unser Fahrer, findet immer wieder die Lücken, in die unser Auto hineinpasst. Wir kommen voran. Ab und zu sieht das Auge kleegrüne Felder und Palmen. Kairo liegt in braunem Dunst und verschluckt die rasenden LKW-Giganten und die PKW-Liliputaner dieser Straße. Ich bin froh, als wir den Midan et-Tahrir, das Stadtzentrum heil erreichen. Irgendwann gegen Abend sagt Leo, dass über Facebook zu Demonstrationen aufgerufen werde. Demonstrationen gegen die Regierung Mubarak am Dienstag. Am Dienstag ist "Feiertag der Polizei". Im Goethe-Institut wird gearbeitet. Der Tag ist nicht als Ferientag im Feiertagskalender vermerkt. Also stelle ich mich auf Arbeit ein. Montag, 24. Januar 2011 Die Sekretärin des Institutes ruft an. Am Dienstag sei das Institut geschlossen. Ich beginne damit, meine Kursteilnehmer anzurufen. Die Telephonnummern stimmen fast alle. Alle freuen sich, mich am Telephon zu haben und bedanken sich für den Anruf. Die Schule ist um 13:15 Uhr aus. Alles ist ruhig. Am Dienstag ist schulfrei. Leo stellt sich auf einen langen Abend ein und bringt zwei Freunde mit nach Hause. Sie spielen am Internet und mit Playstations und chatten über die Netze mit den Freunden. Ich gehe um 16:00 Uhr zur Arbeit. Es wird diskutiert und gemutmaßt, wie die Demonstrationen sein könnten und wo. Der Unterricht verläuft nach Plan und in guter Atmosphäre. Um 22:00 Uhr bin ich wieder daheim. Ich telephoniere noch mit einem befreundeten Arzt. Er will morgen auch zur Demo gehen, wenn es sich ergibt. Er sagt, es müsse jetzt etwas geschehen. Es werde Opfer geben, aber ohne Opfer gehe es nie. Die Uneinigkeit der Opposition bedrückt ihn, aber nicht so, wie die Hoffnungslosigkeit, die momentan herrscht. Ich wünsche ihm Glück, und wir verabreden uns telephonisch für den nächsten Abend. Dienstag, 25. Januar 2011 – "Tag des Zorns" Ich bin um 12:30 Uhr bei einer Freundin in Zamalek zum Brunch eingeladen. Mein Fahrer bringt mich hin. Leo hat in der Nähe Französischunterricht. Der Verkehr ist mäßig. An den Brückenauffahrten steht Geheimpolizei – Männer meist in schwarzem Zivil. Sie beobachten den Verkehr. Vereinzelt sehe ich Kontrollen von Fahrzeugen und Haltern. Aber das ist nichts Besonderes. Es ist ruhig. Eine nette Runde von schicken, modernen Frauen aus der ganzen Welt ist zusammen. Die beiden Libanesinnen sind deprimiert über die Zustände im Libanon. Die Ägypterinnen solidarisieren sich, die Europäerinnen hören zu und fragen nach, die Amerikanerinnen erzählen von ihren Reiseerlebnissen. Es gibt italienische Salami, französischen Käse, deutsches Brot, Sushi und Tiramisu. Um 15:00 Uhr wird zum Aufbruch gedrängt. Man rechnet mit Unruhen in den Stadtteilen und es gäbe Aufläufe von Menschen am Tahrir und auf den Brücken. Die Fahrer kommen, und wir verabschieden uns. Alle kommen gut nach Hause. Über das Internet lesen wir, dass es Unruhen gibt. Draußen ist es ruhig. Unsere Bawabs, die Hüter unserer Autos und Hauseingänge, laufen wie immer zwischen den Autos herum. Einige Damen lassen sich im Friseursalon gegenüber die Haare ondulieren, und aus der Augenklinik kommen wie üblich die kaum gehfähigen Operierten im Schlepptau ihrer sie ziehenden und stützenden Angehörigen. Ob die all das hier politisch interessiert? Leo sagt, Facebook sei teilweise gesperrt. Google geht noch, und ich bekomme auch Emails. Auch Skype ist offen. Ich telephoniere mit unserer Tochter Viktoria in Deutschland. In den Abendnachrichten des ZDF sehen wir Bilder von Ausschreitungen und Tumulten am Tahrir. Abwarten. Mein Arzt-Freund war nicht auf der Demo, aber er rechnet mit weiteren Aktionen, und alle halten sich über die Netze informiert. Mittwoch, 26. Januar 2011 Nachdem ich Leo in die Schule gefahren habe, zehn Minuten von unserem Haus entfernt, schalte ich das Fernsehen ein. Ich lege eine DVD ein und nehme das Morgenmagazin auf. Es laufen die ersten Bilder von der Nacht über den Bildschirm. Heftige Zusammenstöße mit Schlägereien mit der Geheimpolizei. Sie greifen sich gezielt einzelne Personen heraus und schlagen zu. Dabei sind sie mehrere gegen einen. Aber es sind viele Demonstranten! Und sie sind entschlossen. Sie sprechen offen: Mubarak soll gehen, der Sohn Gamal Mubarak soll (auch) gehen. Wir wollen endlich ein Ende von 30 Jahren Unfreiheit! Das ist die Message und die ist glasklar. Und sie wollen weitermachen. Ich lege mich noch mal hin, denn mein Magen ist etwas durcheinander. Um kurz vor 10:00 Uhr ruft mein Mann Thomas aus der Schule an. Die Schüler würden um 10:45 Uhr nach Hause geschickt, weil man mit neuerlichen Demonstrationen vor der Kairo-Universität und in der Stadt rechne, damit die Busse noch gut durchkämen. Er will dann mit Leo zusammen heimkommen. Unser Fahrer ist noch nicht da. Ich bestelle ihn ganz ab, denn nachmittags ist nichts mehr zu fahren. Ich werde zu Fuß zum Goethe-Institut gehen. Ich rufe bei dem kleinen Laden um die Ecke an. Ich brauche noch Öl und Milch. Der Mann erzählt mir, dass vor seinem Laden viele Leute seien. Es gäbe eine Demonstration. Ob ich das wüsste. Nein, wusste ich nicht. Ich sagte ihm, dass ich hoffte, es würde alles besser für sie, und dass wir auf ihrer Seite seien, uns aber wünschten, dass sie alles friedlich durchsetzten. Das wollte er unbedingt auch und hat sich sehr gefreut und sich vielmals bedankt. Die Lebensmittel kamen sofort. Später hören wir, dass auf der Musadak-Straße in unserem Stadtviertel Dokki Leute zusammenlaufen und in Richtung Innenstadt ziehen. Um uns herum bleibt es ruhig. Ich gehe um 16:00 Uhr ins Institut. Es ist ruhig dort. Etwa zwei Drittel der Kursteilnehmer kommen. Ich zeige in der Sprachdiplomklasse die Aufzeichnungen aus dem Morgenmagazin, und die Teilnehmer sind erstaunt über die Bilder, die sie so nicht zu sehen bekamen. Dietmar Ossenberg sagt im Interview, er habe vor einigen Tagen noch nicht an einen Erfolg der Bewegung geglaubt. Jetzt sei er da nicht mehr so sicher. Das gibt zu denken. Bei der Diskussion merke ich, wie drängend die Veränderung in der Luft liegt, wie sie darauf warten, hoffen, aber sie sind ratlos, wie sie es anstellen und schaffen sollen. Eine Teilnehmerin erzählt mir, dass sie gerne auf die Straße ginge, aber ihre Mutter ließe sie nicht. Man sah viele junge Frauen in der Reportage. Sie fühlen sich verantwortlich. Sie sind es! Und sie wollen wissen, wie Demokratie ist. – Schwierig oft, aber schön, sage ich. Und man muss sich immer entscheiden. Das fällt ihnen schwer. Sie wollen lieber abwarten. Aber sie sind beeindruckt von ihren Genossen auf der Straße, und sie dachten nicht, dass es so viele sein könnten. Als ich den Taxifahrer, der mich nach Hause bringt, befrage, ist der sehr froh überrascht über meine Anteilnahme. Er sagt, er komme mit seinen beiden Jobs nicht - oder nur gerade so - über die Runden. Seine Kinder kosteten viel Geld, und das Leben sei teuer und karg. Er habe es satt, dass die Menschen viel arbeiteten, ihre Umgebung im Müll versinke, die Bildung schlecht sei, und sie selber als Fußabtreter für Regierung und Politiker behandelt würden. Geld für die Taxifahrt wollte er nicht haben. Ich gab ihm ein wenig mehr als auf dem Tacho angezeigt. Wir haben uns herzlich verabschiedet. Später am Abend höre ich, dass die Jungs aus Leos Klasse z.T. aus anderen Stadtteilen anfahrend, morgen nicht kommen werden. Leo will auch nicht in die Schule gehen, denn er meint, es gäbe eh keinen gescheiten Unterricht. Mir ist es nicht Recht, denn ich bin für Ordnung. Aber irgendwie sehe ich auch ein, dass die Sache nicht sehr effektiv sein wird. Also lassen wir den Abend lang sein. Im Auslandsjournal ist wieder von Ägypten die Rede. Es gibt Tote in Kairo und Suez. Ich zeichne auch das für meine Kursteilnehmer auf. Es geht um "das System Mubarak". Der Präsident ist derartig versteinert, dass alte Bilder alte Stärke dokumentieren müssen. Aus jüngster Zeit gibt es kaum Bewegendes. Und bis jetzt schweigt das Regime seine hungrigen Bürger an. Der Innenminister aber droht mit Härte. Als ob das Leben hier nicht schon selbst die Härte wäre! Härte kennen sie ja, das haben sie seit Jahren, und manche fürchten sich auch nicht vor neuerlicher Härte. Sie gehen wieder auf die Straßen. Und es werden mehr. Auch Gerüchte machen schon die Runde: Gamal Mubarak sei mit Familie und Koffern in einem Privatflugzeug nach England ausgeflogen. Das finden sie feige, aber sie beklatschen allein die Aussicht auf Entfernung der ungewollten Herrscherfigur. Aber wer anstelle der Mubaraks? Ich gehe spät und gespannt zu Bett. Donnerstag, 27. Januar 2011 Um 10:00 Uhr ist eine Besprechung im Goethe-Institut. Es ist ruhiger als sonst auf den Straßen, aber die Schulen haben ohnehin Halbjahresferien. Die Kollegen (Ägypter dabei, denn es sind ja nicht nur Deutsche da) sind vorsichtig optimistisch. Manche verziehen bei dem Wort "Demonstration" skeptisch das Gesicht. Ich merke an, dass das gemeinsame Formulieren eines Protestes, ein Spruchband, der gemeinsame Gang auf die Straße, das friedliche Zeigen seiner Meinung, eine außerordentlich lohnende und gute Sache sei. Steine werfen und Schlagen gehört nicht dazu. Leider verderben auch jetzt Hooligans und ganz Frustrierte oder Übermütige den friedfertigen Demonstranten die Show. Sie liefern dem Innenminister die Bilder von Gewalt und die Rechtfertigung, die Demos als verirrte Aktionen chaotischer Radikaler hinzustellen. Sie verunsichern die so lange schon verunsicherten Menschen weiter. Die Kollegen wissen auch nicht, was sie machen sollen und zucken mit den Schultern. Ich kann sie auch verstehen. Demokratie braucht Übung. Woher soll die kommen? Später zu Hause hat eine Dame vom RBB (Radio Berlin) angerufen. Sie befragen mich zur Lage im Land, in meinem Alltag. Ein Telephon-Interview für den Freitagabend. Meine Schwester ruft aus der Schweiz an, und eine Freundin aus München. Über das KairoFamilienNetz kommen Anfragen, ob man nach Ägypten reisen könne. Ich bejahe das und rate zu weiterer Aufmerksamkeit. Die Deutsche Botschaft hat bislang keine Reisewarnung herausgegeben. Am Roten Meer ist alles sonnig und ruhig. Morgen, am Freitag, ist zu großen Demonstrationen überall aufgerufen. Ab 14:00 Uhr soll's losgehen, nach dem Freitagsgebet. Das Internet und die Facebooks und Twitters glühen! Leo will zu seinem Freund nach Sheikh Zaid City, 30 Kilometer nordwestlich von Kairo zum Übernachten und Spielen. Eine Botschaftsfamilie in einem Compound. Ich habe keine Bedenken, und er zieht ins Wochenende. Ich bearbeite noch Anfragen und Anzeigen für das KairoFamilienNetz und fahre dann zur Arbeit. Es ist wieder ruhig, und fast alle Kursteilnehmer sind da. Der Unterricht findet wie gewohnt statt, und wir diskutieren über die Erwartungen an den Freitag und die Zukunft. Ein junger Mann meint zum Abschied, wenn er am Dienstag nicht käme, sei er wohl im Gefängnis. Ich verspreche, ihn dann da rauszuholen und wünsche ihm Glück. Später bin ich mit einer Freundin zum Essen verabredet. Auch da nichts Ungewöhnliches. Alles ruhig. Viel Polizei ist unterwegs und an den Straßenecken aufgestellt. Aber niemand scheint sich sehr um sie zu kümmern. Man geht einkaufen oder zum Abendessen. Immerhin beginnt am Donnerstag unser Wochenende! Um 23:00 Uhr hören wir, dass Mohamed el-Baradei zurückgekommen sei. Aber wollen die Menschen ihn als Führer? Man kennt ihn hier fast nicht, er ist kaum hier gewesen in den letzten Jahren. Und doch, vielleicht brauchen sie ihn für einen Anfang von neuer Führung? Zu Hause versuche ich, unsere Tochter in Deutschland über Skype zu erreichen. Aber sie hört mich nicht. Sie ruft mich an. Das geh |